40
V minus 12 Monate
»Wir sind gleich da, Sir«, meldete der Helikopterpilot. »Sie können die Arche jetzt sehen.«
Colin blickte von seinen Papieren auf und durch die großen Cockpitscheiben. Doch da war nichts. Er sah nur Berge und Felskuppen. Er wollte schon beim Piloten nachfragen, da fiel ihm ein seltsam geformter Berg auf. Dick, mit einem merkwürdig flachen Gipfelplateau. Dann erst begriff er, dass diese zylindrische Struktur vor ihm die Arche war.
»Mein Gott!«, entfuhr es ihm.
»Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte der Pilot.
Das kann man wohl sagen!
Der einen Kilometer hohe, aus dem Tal nach oben wachsende Stahlzylinder überragte die umliegenden Felsen und Hügel bei weitem. Die Kuppel, die das Cockpit und die Steuereinrichtungen des Raumschiffes enthalten sollte, fehlte noch. So sah das Ding wie eine dicke Rakete ohne Spitze aus, allerdings mit ins Riesenhafte vergrößerten Proportionen.
Langsam umrundete der Pilot das Gebirge aus Stahl und ging dabei sachte tiefer. Ein Heer von Arbeitern, das um das Gebilde strömte, war nur als Punkte erkennbar.
Unfassbar!
Der Helikopter landete auf der Anhöhe, von der sie schon vor einem Jahr das Gelände begutachtet hatten. Einige Bürocontainer standen dort, und aus einem davon traten gerade Susan und Brian ins Freie.
Colin wartete, bis die Rotoren des Hubschraubers zum Stillstand gekommen waren, und verließ dann das Transportmittel.
Susan trat eilig auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. Brian grinste.
»Langsam, meine Schulter.« Colin stöhnte und klopfte Susan sachte auf den Rücken. Sie musste sich Sorgen um ihn gemacht haben.
Zögerlich löste sich Susan von ihm. »Wir waren so froh, als wir erfahren haben, dass es dir gutgeht.«
Colin nickte. »Nur Kratzer«, sagte er und strich über die Narbe auf der Stirn. »Noch mal Glück gehabt.«
»Keine Strahlenvergiftung?«, fragte Brian.
Colin schüttelte den Kopf. »Da die Bombe über dem Wasser explodiert ist, hielt sich die radioaktive Verseuchung in Grenzen. Aber die Stadt ist natürlich trotzdem hin. Zusammen mit über fünfzigtausend Menschen.« Ein Knoten bildete sich in seiner Kehle. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er die Bilder der verbrannten Menschen vor sich, die es im Gegensatz zu ihm und Ann nicht geschafft hatten, dem Inferno zu entkommen.
»Die Schuldigen wurden dafür zur Verantwortung gezogen«, sagte Brian, und man hörte Genugtuung in seiner Stimme.
Susan lief rot an. »Ja, und neben dem Kim-Clan sind Millionen Menschen für diese billige Rache gestorben.«
»Der Präsident hatte keine andere Wahl«, erwiderte Brian.
Am Tonfall der beiden konnte Colin erkennen, dass dieses Thema zwischen ihnen heute nicht das erste Mal zur Sprache kam. Aber er war nicht hier, um dem ungleichen Paar beim Streiten zuzuhören. »Die Arche hat sich ganz schön gemacht, seit ich zum letzten Mal hier war.«
Sofort erhellte sich Brians Miene. »Ist schon beeindruckend, oder?«
»Sie sieht beinahe unwirklich aus«, entgegnete Colin und meinte es auch so. Von ihrer Position auf dem Hügel war das Schiff einige Kilometer entfernt. Und doch hob es sich weit über ihnen in den Himmel, als würden sie direkt davorstehen. Wie ein mythischer Obelisk, der für die Andächtigen ein Tor in eine neue Welt darstellte.
»Ich muss mir auch immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass wir Menschen das Schiff bauen«, sagte Susan. »Und dass es nicht von Außerirdischen hier in der Area 51 aufgestellt wurde.«
Colin nickte. Susan hatte völlig recht. Es ähnelte nichts, was Menschen jemals errichtet hatten. »Wann installiert ihr das Cockpit?«
»Du meinst sicher die Steuersektion«, sagte Brian. »Die Kuppel ist mit über hundert Metern Höhe größer als manches Schlachtschiff. Die Segmente werden am Hafen von Los Angeles vormontiert und dann zur endgültigen Montage hierhergebracht. Einige sind schon auf der Baustelle. Ich denke mal, in etwas mehr als einem Monat werden wir mit der Montage beginnen.«
»Was macht der Treibstoff?« Colin erinnerte sich an einige hitzige Diskussionen in Washington über das Thema.
»Du meinst die Atombomben?«, fragte Susan. »Dyson hat inzwischen eine Produktionskette aufgebaut. Die ersten paar hundert sind fertig, aber ein Wissenschaftler vom LLNL hat berechnet, dass die Sprengkraft zu gering ist. Dyson hat das von sich gewiesen.«
»Der war ziemlich sauer!«, ergänzte Brian.
»Kann ich mir vorstellen«, grinste Colin.
»Jedenfalls soll es morgen einen Test geben«, berichtete Susan. »Wir werden ihn uns auf jeden Fall anschauen.«
Colin verstand nicht. »Was für einen Test?«
»Na, einen Atomtest«, sagte Brian. »Das alte Atomtestgebiet ist nur einige Dutzend Kilometer von hier entfernt, also fliegen wir mit einem Hubschrauber rüber. Kommst du mit?«
Colin brauchte nicht lange zu überlegen. »Kein Bedarf. Ich hatte dieses Jahr schon eine Atombombenexplosion in direkter Nähe. Das brauch ich nicht noch mal. Ich bleibe hier auf der Baustelle. Morgen Abend muss ich sowieso wieder weiter.«
Susan nickte. »Wo geht es diesmal hin?«
»Nach Hause.« Colin lächelte. »Zum ersten Mal seit einem Monat. Ich habe Gespräche am JSC . Anschließend hat mir der Präsident genehmigt, das Wochenende daheim verbringen zu dürfen.«
»Wie geht es Allison?«, fragte Susan leise.
Colin hob die Schultern. »Ist kompliziert.«
Weiter wollte er ihr gegenüber nicht ins Detail gehen. Seit dem Atomangriff in San Francisco hatten er und Allison fast jeden Abend miteinander telefoniert. Und diese Telefonate wurden zunehmend tiefschürfender. Während er früher eher oberflächlich seinen Tagesablauf geschildert hatte, teilte er ihr inzwischen im Detail seine Sorgen, Ängste und Gedanken mit. Andersherum war es genauso. Es war fast wieder wie früher, vor der Hochzeit. Und doch fehlte die Wärme, die aus einer Freundschaft eine Liebesbeziehung machte. Das wäre nach Jahren der Entfremdung wahrscheinlich auch zu viel verlangt gewesen. Und doch musste Colin zugeben, dass ihm genau das fehlte. Aber davon musste er Susan nichts erzählen. »Und ihr hängt hier den ganzen Tag zusammen herum? Nervt ihr euch noch nicht gegenseitig?«
Brian schüttelte den Kopf. »Das täuscht«, sagte er. »Es ist eine große Baustelle. Manchmal sehen wir uns den ganzen Tag nicht. Außerdem ist Susan auch häufig auf Dienstreisen unterwegs.«
Susan winkte ab. »Wenn die Arche gestartet ist, werden wir noch lange genug auf engem Raum zusammenhocken.« Colin entging nicht die Bitterkeit in ihrer Stimme. »Nämlich für den Rest unseres Lebens.«
Colins Blick wanderte wieder zu der monströsen Struktur dort unten im Tal. Es war kaum vorstellbar, dass sich ein solches Gebilde aus Stahl jemals in den Himmel erheben könnte. Und es war noch weniger vorstellbar, dass diese Konstruktion ab dem nächsten Jahr die einzig verbleibende Heimat der Menschheit sein würde. Oder besser des kümmerlichen Rests, dem es gestattet war, vor dem Vakuumzerfall zu fliehen.