41
»Das
ist also eine Atombombe«, sagte Susan und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Es ist sogar eine Wasserstoffbombe.« Brian näherte sein Gesicht noch weiter dem silbernen Zylinder, der an einem Stahlseil über dem Bohrloch hing. Das ganze Ding hatte nur die Größe einer kleinen Gasflasche und hätte von einer Person mühelos getragen werden können.
Über dem Bohrloch befand sich, einem bizarren Dach vergleichbar, eine riesige Metallscheibe, die einen Durchmesser von zehn und eine Dicke von vier Metern hatte. Sie war aus demselben Material wie die Bodenplatte des Raumschiffes gefertigt und laut Dyson auf der Oberseite mit komplexer Sensorik bestückt. Die Explosion würde die Platte in die Luft schleudern, und aus der Verfolgung ihrer Telemetrie würde man die genaue Explosionsstärke ermitteln können. Außerdem hatte man noch weitere Experimentaleinrichtungen auf der Platte untergebracht, die wichtige Daten für die weitere Konstruktion des Raumschiffes liefern würden. So gab es Befürchtungen, dass der Durchmesser der Kühlschlaufen in der Bodenplatte nicht ausreichte, die Wärme abzuführen. Das Experiment sollte den Theoretikern nun ein für alle Mal zeigen, wer recht hatte und ob nachträgliche Verbesserungen durchgeführt werden mussten.
»Ich mag das Wort ›Wasserstoffbombe‹ nicht«, sagte Marc Dyson mit grimmiger Stimme. »Ich bevorzuge den Ausdruck ›Thermonuklearsprengsatz‹. Genauer gesagt handelt es sich um einen zweistufigen Detonator nach dem Teller-Ulam-Design. Da haben wir zuerst den Primary, eine reguläre Spaltbombe. Wenn diese gezündet wird, verwandelt sich Lithiumdeuterid durch die Neutronenstrahlung in Tritium und die Kompression durch die Explosion regt dieses dann zur Kernfusion an.«
»So genau wollte ich es gar nicht wissen«, murmelte Susan und sah zu, wie der Sprengsatz auf ein Zeichen Dysons hin langsam im Bohrloch verschwand.
»Wie hoch ist die Sprengkraft?«, fragte Brian.
»Ziemlich genau eine Megatonne«, antwortete Dyson. »Allerdings haben wir für den Test die Sprengkraft auf hundert Kilotonnen herabgeregelt.«
»Der Typ aus dem LLNL
behauptete, das Design würde nur etwa 800
Kilotonnen hergeben, also etwa 80
Kilotonnen bei dem Test«, wandte Dr. Bosworth ein, ein uniformierter Kernwaffenspezialist der Army, den das Pentagon als Sachverständigen hergeschickt hatte.
Dyson brummte verächtlich.
»50
Meter«, rief ein Arbeiter mit rotem Schutzhelm von der Steuerungskonsole des Krans. »Ist unten!«
»Gut!«, erwiderte Dyson. »Bohrloch verschließen!«
Zwei weitere Arbeiter eilten mit einer Bahre heran, auf der mehrere dicke Zylinder lagen. Sie ließen sie langsam in das Bohrloch hinab und verankerten sie mit Drähten.
»Fertig!«, rief einer der Techniker schließlich.
»Gut!« Dyson klang zufrieden. »Was macht der Zündkreis?«
»Habe ich gerade aktiviert«, antwortete der Techniker an der Konsole. »Die Wasserstoffbombe ist bereit zur Fernzündung.«
Dyson wandte sich an Dr. Bosworth. »Wir können uns zurückziehen.«
Susan ging mit Brian zum Jeep. Bevor sie einstieg, blickte sie sich nochmals um. Das obere Ende des Bohrlochs befand sich im nackten Wüstenboden. Man hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, es mit Beton auszukleiden und den Boden zu planieren. Die Metallplatte ruhte auf ihrem Gerüst etwa drei Meter über dem Loch, in dem jetzt eine scharfe Wasserstoffbombe steckte. Susan wollte so schnell wie möglich von hier weg. Wenn in diesem Moment eine technische Störung oder ein Idiot im Kontrollbunker die Zündung auslöste, würde von ihr nur eine sich schnell expandierende Atomwolke übrig bleiben.
Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, während Brian den Motor startete. Er wartete, bis die anderen losgefahren waren und folgte dem kleinen Konvoi, der nun dem fünfzehn Kilometer entfernten
Kontrollbunker entgegenfuhr.
Das alte Atomtestgelände befand sich gerade mal fünfzig Kilometer von der Area 51
entfernt, und man hatte warten müssen, bis die Winde in die richtige Richtung wehten, um keinen Fallout zu riskieren. Allerdings hatte Dyson versichert, dass sich die Produktion von Radionukliden bei seiner Atomwaffenkonstruktion in Grenzen hielt. Nach wie vor konnte Susan nicht verstehen, wie man damit klarkam, mit der Konstruktion von Atomwaffen seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Spätestens nach dem Atomkrieg mit Nordkorea hätte sich Dyson doch wie ein Händler des Todes vorkommen müssen. Aber manchen Menschen gelang es einfach zu gut, unliebsame Dinge aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Susan gelang das gar nicht. Wieder und wieder sah sie die schrecklichen Nachrichtenbilder, wenn sie die Augen schloss. Von brennenden Städten und eingeäscherten Menschen in Nordkorea. Susan hatte erwartet, dass die Weltöffentlichkeit Amerika nun verurteilte, doch das Gegenteil war der Fall. Alle anderen Länder außer China hatten sich auf die Seite der USA
geschlagen. Offiziell, weil die Aggression von Nordkorea ausgegangen war, aber Susan ahnte, dass einige Staatsoberhäupter anderer Länder immer noch auf Plätze für eigene Eliten in der amerikanischen Arche schielten.
Schweigend legten sie den Weg zurück. Es war zwar noch früher Vormittag, aber die Hitze und die Sonnenstrahlung waren schon mörderisch. Immer wieder wischte sich Susan mit der Hand den Schweiß von der Stirn.
Nach zwanzig Minuten hatten sie den Kontrollbunker erreicht, der auf einer Anhöhe stand und einen guten Blick auf die Explosionsstelle bot. Im Inneren saß bereits ein halbes Dutzend Physiker und Ingenieure vor Konsolen und Bildschirmen, um den Test zu überwachen. Fenster hatte der Raum nicht.
»Alles klar?« Dyson trat mit Bosworth im Schlepptau ein.
»Wir hatten Probleme mit dem Empfang des Telemetriepaketes auf der Platte«, antwortete ein schmächtiger Mann in weißem Overall. »Aber wir konnten es beheben, indem wir auf einen anderen Kanal gewechselt haben.«
»Gut!«, sagte Dyson. »Also sind wir bereit zur Zündung?«
»Ja«, erwiderte ein anderer Mann, der vor der vordersten Konsole saß.
»Was macht das Wetter?«, fragte der Nuklearingenieur.
»Schwacher Wind aus Süd. Drei Knoten.«
»Das ist gut! Starten Sie einen Zwei-Minuten-Countdown«, befahl Dyson. »Ich will mir den Test von draußen ansehen!«
»Von draußen?«, fragte Susan. »Ist das nicht gefährlich?«
Dyson grinste dämonisch. »Überhaupt nicht. Kommen Sie mit.«
Susan hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, aber Dyson war schließlich der Spezialist. Sie folgte ihm, Brian und Dr. Bosworth nach draußen.
Dyson trat an den Rand des Betonfundaments, auf dem der Bunker ruhte. Susan stellte sich neben ihn.
»Countdown gestartet«, tönte es aus einem Lautsprecher. »Zwei Minuten bis zur Zündung.«
Susan starrte hinab in die Ebene. Aus dieser Entfernung war die Metallplatte, unter der die Bombe ruhte, nur als Punkt zu erkennen, der in der glühenden Hitze flimmerte. »Wie viele Atomtests haben Sie schon beobachtet?«, fragte Susan den Bombenbauer.
»Dreiundneunzig«, erwiderte Dyson, ohne nachdenken zu müssen. »Aber dieser hier wird auch für mich ein Novum darstellen.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Brian wissen.
»Alle Tests, denen ich bisher beiwohnte, waren unterirdische Nukleartests. Leider durften wir wegen eines dämlichen Vertrages seit 1963
keine atmosphärischen Tests mehr durchführen.«
»Dämlicher Vertrag?«, fragte Bosworth mit Verärgerung in der Stimme. »Der Vertrag von 1963
hatte einen guten Grund, denn durch die ganzen oberirdischen Atomtests der fünfziger Jahre in Amerika und Russland ist die radioaktive Hintergrundstrahlung weltweit spürbar angewachsen. Wie viele Leute dadurch an Krebs gestorben sind, will ich gar nicht wissen.«
Dyson grunzte und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Jedenfalls freue ich mich darauf, jetzt endlich eine Atomexplosion mit eigenen Augen sehen zu können. Mein ganzes Leben habe ich schon auf diesen Moment gewartet.«
Susan verachtete den Typen inzwischen aus tiefstem Herzen. San
Francisco und Nordkorea hatten ihm wohl nicht gereicht.
»Noch sechzig Sekunden!«, plärrte die Stimme aus dem Lautsprecher.
»Und es ist wirklich ungefährlich, wenn wir hier draußen stehen?« Sie fühlte sich bei dem Gedanken immer noch unwohl. Sie überlegte, ob sie nicht wieder in den Bunker gehen sollte.
Brian pflichtete ihr bei. »Können wir davon sicher nicht verstrahlt werden?«
Dyson lachte keckernd. »Doch nicht bei hundert Kilotonnen in einer Entfernung von fünfzehn Kilometern! Die Strahlung ist nur bis zu einem Radius von zwei Kilometern gefährlich. Die Druckwelle unterschreitet bei einem Radius von zehn Kilometern den Wert, bis zu dem sie Fensterscheiben kaputtmacht.«
»Dreißig Sekunden!«
»Es gibt nur eine Sache, auf die Sie aufpassen müssen und das ist Ihr Augenlicht, da die UV
-Strahlung der Explosion die Retina zerstört.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Brian mit einem Hauch von Panik in der Stimme.
Dyson grinste und drehte sich herum. »Sehen Sie nicht hin«, antwortete er. »Leider haben wir keine Schutzbrillen hier. Also wenden Sie der Bombe Ihren Rücken zu.«
»Wenn wir nicht hinsehen dürfen, wozu sind wir dann überhaupt hinausgegangen?« Susan hatte immer mehr den Eindruck, dass Dyson hier eine Show abzog.
»Zwanzig Sekunden!«
Dyson grinste wieder. »Warten Sie es ab! Sie werden es nicht bereuen.«
Susan wandte sich um und fixierte die Hügelkette, über der einige weiße Wölkchen zerfaserten. Dann spürte sie Brians Hand an ihrer, zuckte für einen Moment zurück, ergriff sie aber dann.
»Zehn Sekunden!«
»Schauen Sie erst wieder hin, wenn ich es Ihnen sage«, sagte Dyson. »Dann können Sie meinen Kracher genießen.«
Was für ein Idiot!
»Fünf, vier, drei, zwei, eins …«
Plötzlich erstrahlte die Hügelkette vor ihr in weißem Licht. Susan
sah ihren eigenen Schatten vor sich. Unfassbar schwarz und so scharf konturiert, wie Sonnenlicht es niemals vermocht hätte, hielt er die Hand des Schattens von Brian. Die Kontur war lang, sicher Dutzende Meter, wurde aber schnell kleiner, während die Ränder unscharf wurden. Susan spürte Hitze in ihrem Rücken, als hätte sie zu lange in der Sonne gelegen. Langsam wurde das reflektierte Licht schwächer.
»Jetzt können Sie sich umdrehen«, sagte Dyson leise.
Susan ließ Brians Hand los und folgte der Anweisung. Die Helligkeit war immer noch so stark, dass sie blinzeln musste und kaum etwas erkannte.
Als wäre die Sonne auf die Erde gefallen!
Der Feuerball wurde dunkler, während er sich ausdehnte. Das eben noch weiße, strukturlose Licht verwandelte sich in eine riesige gelbe Kugel, die langsam in den Himmel emporstieg und dabei Staub, Steine, Geröll und Dreck mit sich nach oben sog.
Der Ball aus Feuer verwandelte sich in ein schmutzigrotes Auge, das von einer braunen Wolke umgeben war und immer schneller in den Himmel aufstieg. Darunter zog es eine Rauchsäule mit sich nach oben, die der entstandenen Wolke die Form eines Pilzes gab.
Der ganze Vorgang war in unheimlicher Lautlosigkeit vor sich gegangen. Als betrachte sie im Kino einen Dokumentarfilm, bei dem der Ton ausgefallen war.
Doch dann war die Druckwelle heran, und ein Krachen sprengte beinahe ihr Trommelfell, als hätte der mächtige Thor sein gesamtes Arsenal an Blitz und Donner auf einmal auf Susan losgelassen. Etwas drückte gegen ihre Brust und wehte ihre Haare ruckartig nach hinten. Währenddessen stieg die Spitze der Wolke noch weiter nach oben. Sie musste schon weit über der Höhe sein, wo Flugzeuge normalerweise flogen.
»Mein Gott!«, flüsterte Dyson ergriffen. »Ist das schön!«
Erst jetzt wurde Susan allmählich klar, was sie da gerade gesehen hatte. Eine Wasserstoffbombe! Die mächtigste Kraft, die Menschen in ihrer Evolution freigesetzt hatten. Wäre dort unten im Tal eine Stadt gewesen, so wäre nun nichts mehr davon übrig.
So wie San Francisco!
Und doch war die Wasserstoffbombe nun ihre einzige Rettung.
Noch ein Jahr, dann würde sie in der Spitze der Arche sitzen und sich von genau so einer Explosion in den Himmel schleudern lassen. Nein, nicht genau so einer Explosion. Die Bombe des Experiments war ja heruntergeregelt. Die Richtige würde zehnmal stärker sein! Susan bekam eine Gänsehaut.
Dyson wandte sich ruckartig ab, ging um den Bunker herum und durch die Tür. Susan, Brian und Dr. Bosworth folgten ihm.
»Und?«, fragte Dyson den Wissenschaftler an der vordersten Konsole.
»Wir haben die Telemetrie der Metallscheibe aufgefangen.« Der Mann grinste. »Der ablative Hitzeschild hat funktioniert.«
»Die Flugbahn?«
Der Wissenschaftler zeigte auf einen Monitor. Dort war auf weißem Hintergrund eine schwarze Parabel abgebildet. »Wie erwartet. Scheitelpunkt war fünfzehn Komma zwo Kilometer. Das entspricht einer Explosionsenergie von exakt hundert Kilotonnen.«
Dyson drehte sich herum und starrte Dr. Bosworth triumphierend an. »Hundert Kilotonnen. Genau, wie ich es gesagt habe.«
Der Angestellte des Pentagons lächelte gezwungen. »Ja, ich gebe es zu. Die Kollegen vom LLNL
haben sich geirrt.«
Dyson machte eine wegwerfende Handbewegung. »Natürlich. Die Jungs vom LLNL
sind scheiße!«
Susan presste die Lippen zusammen und fragte sich, wie Colin dieses Gespräch finden würde.