46
V minus 6
Monate
»Pusher
auf Betriebstemperatur.« Die Stimme der Archenkommandantin, Tonja Dillinger, kam verrauscht aus den Lautsprechern, war aber dennoch gut zu verstehen.
»Bestätige, Pusher auf Betriebstemperatur«, antwortete Harold Billings, der als Controller für die Startphase zuständig war.
»Damit sind alle Parameter abgehakt.« Bill Branson, der Launch Director, der letztlich alle wichtigen Entscheidungen traf und die Gesamtverantwortung trug, machte eine Notiz in sein Logbuch. »Standby für finale Go- oder No-Go-Entscheidung.«
Susan atmete tief durch. Sie saß auf der VIP
-Galerie des Startkontrollzentrums. Es war eine fast exakte Kopie des entsprechenden Gebäudes im Kennedy Space Center bei Cape Canaveral, aufgebaut in Nevada auf dem Luftwaffenstützpunkt Creech Air Force Base bei Indian Springs. Von hier aus sollte der Start des Raumschiffes überwacht werden. Die Entfernung zur Arche auf der Area 51
war mit fünfzig Kilometern gerade ausreichend, um nicht von den Wasserstoffbomben verstrahlt zu werden. Die breite Fensterfront der Besuchergalerie zeigte nach Norden, genau in Richtung Arche, aber zu sehen war nichts. Zu viele Berge standen im Weg. Die Männer und Frauen an ihren Konsolen kehrten den Fenstern sowieso ihren Rücken zu und konzentrierten sich auf die Bildschirme. Ein großer Monitor an der Wand präsentierte eine Karte der Erde mit dem stilisierten Symbol der Arche auf ihrem Startplatz in Nevada. Ein anderer, kleinerer Bildschirm zeigte ein gestochen scharfes Bild des Raumschiffes, wie es in seiner Talmulde stand und die benachbarten Berge um etliche hundert Meter überragte.
Susan richtete den Blick auf Brian, der neben ihr saß. Er sah müde und abgeschlagen aus. Zu groß waren die Anstrengungen der letzten Wochen und Monate gewesen, das Raumschiff in einem Land
fertigzustellen, das sich immer mehr im Zusammenbruch befand. Aber sie hatten es geschafft. Buchstäblich im letzten Moment hatten die Techniker und Ingenieure ihre Arbeiten abgeschlossen, und das Schiff stand nun startbereit im Tal. Doch es galt noch eine wichtige Hürde zu nehmen. Nämlich den integrierten CDT
, oder Countdown Demonstration Test, bei dem alle Komponenten im Zusammenspiel ihre Funktionsfähigkeit beweisen mussten. Darum befand sich die Pilotencrew der Arche nun in ihrem Cockpit auf der Spitze der kilometerhohen Konstruktion und spielte zusammen mit der Bodenkontrolle einen realistischen Countdown durch, bei dem nacheinander sämtliche Systeme aktiviert wurden, bis zu einer Millisekunde vor dem Punkt, an dem die erste Wasserstoffbombe unter dem Schiff detonieren würde.
Susan wandte sich um. Schräg hinter ihr saß Präsident Gorman. Seine Kiefermuskulatur trat hervor, sein Blick wirkte glasig, als befände er sich in Gedanken bereits Lichtjahre entfernt. Er war mit seinem engsten Stab schon vor einigen Tagen nach Nevada gekommen. Susan war davon überzeugt, dass er sich nach dem erfolgreichen Test schleunigst an Bord der Arche einrichten wollte. Immerhin war es nur noch eine Woche bis zum Start. Es widerstrebte ihr, mit diesem Mann gemeinsam in den Weltraum zu fliegen.
Launch Director Branson saß in einem großen Sessel in der hintersten Reihe der Controller und strahlte eine eigenartige Ruhe aus. Kein Wunder, dass dieser Mann, der schon die erste der neuen Mondlandungen von Houston aus kontrolliert hatte, zum Leiter der Bodenkontrolle ernannt worden war. Er beendete seine Notizen im Logbuch und drückte die Sprechtaste vor sich auf der Konsole. »In Ordnung, wir haben noch fünf Minuten im Countdown. Ich rufe jetzt die einzelnen Stationen auf. Bitte geben Sie mir ein Go oder No-Go für den Start. Booster?«
»Go«, tönte es aus dem Lautsprecher. Susan hatte schon wieder vergessen, an welchem Platz der für die Startphase verantwortliche Controller saß.
»FIDO
?«, fragte Branson.
»Sind Go, Flight.«
»GUIDO
?«
»Go.«
»EECOM
?«
»Alles klar, Flight.«
»INCO
?«
»Kommunikation bestens.«
»CAPCOM
?«
»Crew ist bereit zum Start, Bill«, sagte Faye Harding, eine erfahrene Astronautin, die aus persönlichen Gründen die Fahrkarte für die Arche ausgeschlagen hatte. Susan war das Gerücht zu Ohren gekommen, sie sei an einem langsam wachsenden, aber unheilbaren Krebs der Bauchspeicheldrüse erkrankt. Colin saß auf einem Sessel neben ihr und hakte stumm Punkte in einer Checkliste ab.
Branson nickte. »Gut, CGLS
, aktivieren Sie den Sequencer auf mein Zeichen.«
»Verstanden.«
»Fünf, vier, drei, zwei, eins, Mark!«, sagte Branson.
Susan blickte auf die große Countdownuhr an der Wand. Für eine geplante Pause hatte sie eine ganze Zeit bei T minus fünf Minuten geruht, tickte jetzt aber wieder weiter der Nullmarke entgegen.
»Flight«, tönte es aus dem Lautsprecher.
»Was ist, Booster?«, fragte Branson ruhig.
»Ich habe Spannungsschwankungen auf Bus A der Ausstoßvorrichtung. Die Werte sind hart an der Grenze für einen Abbruch.«
»Was schlagen Sie vor?«
»Wir wechseln auf Bus B, während wir Bus A recyceln.«
»Tun Sie das.«
Der Countdown lief weiter. Im Raum war es völlig still. Wenn der Test wegen irgendeiner Kleinigkeit abgebrochen werden musste, dann würde es unweigerlich eine Verschiebung des Starts geben. Und das Zeitfenster bis zum Eintreffen des Vakuumzerfalls war ohnehin schon sehr knapp.
»Bus A recycelt«, meldete Booster. »Spannungswerte sehen wieder gut aus.«
»Danke, Booster. Wir reden darüber noch im Debriefing.«
Der Countdown näherte sich der Zwei-Minuten-Marke. Dank Brian und den häufigen Treffen mit Crippen hatte Susan nun sehr
viel Detailwissen über das Raumschiff. Vor allem die Prozeduren während des Countdowns und des Starts kannte sie nun beinahe auswendig, was sicher ein Grund dafür war, dass sie für den richtigen Start einen Missionsspezialistensitz im Cockpit bekommen hatte. Allerdings fiel es ihr immer noch sehr schwer, zu glauben, dass die riesige Arche sich in einer Woche – mit ihr darin – tatsächlich in den Himmel erheben würde. Heute begann ihre letzte Woche auf der Erde, und sie musste sich noch um ihre letzten Angelegenheiten kümmern. Dabei dachte sie an ihre Mutter und biss sich auf die Lippen.
»Druckabfall im Heliumtank des Lageregelungssystems auf der Steuerbordseite«, meldete Booster.
»Stark?«, wollte Branson wissen.
»Von 4500
PSI
auf 4400
PSI
. Druckabfall hat gestoppt und ist jetzt auf dem niedrigen Wert stabil.«
»Woran kann das liegen?«
»Ich schätze, dass das Kugelventil defekt ist. Das Gas wird jetzt nur noch von der Berstscheibe gehalten.«
»Ihre Empfehlung?«
»Weitermachen. Die Berstscheibe sichert gegen ein Versagen des Ventils. Bei diesem Test brauchen wir das RCS
ohnehin nicht. Wir müssen das Kugelventil aber vor dem richtigen Start austauschen.«
»In Ordnung«, bestätigte Branson. »Countdown läuft weiter. Noch eine Minute und zehn Sekunden.«
»Flight!«
»Reden Sie, INCO
.«
»Selbsttest von KBA
hat versagt. Ku-Band-Antenne A schaltet nicht automatisch auf die sekundäre Bodenstation um.«
»Schalten Sie manuell auf System B!«
Susan ballte die Hände zu Fäusten. Dies war der erste Countdown, den sie beobachtete. Sie fragte sich, ob es normal war, dass alle fünf Sekunden ein neues Problem auftauchte.
»System B aktiv. Die Antenne richtet sich aus.«
»Merken Sie sich das für das Debriefing.«
Susan verdrehte die Augen. Es würde ein langes Debriefing werden. Hoffentlich war für die ganzen sich ergebenden Änderungen noch genug Zeit vor dem Start.
»T minus dreißig Sekunden. Alle Systeme nun auf Autosequenzer«, meldete Branson. Der Start würde nun alleine durch die Computer gesteuert werden, die jede Sekunde Tausende von Ist-Werten mit den Soll-Werten verglichen. Wenn nur einer davon die Toleranzgrenze überschritt, würde der Start automatisch abgebrochen werden. Eine kleine Spannungsspitze in einem Transformator, ein gebrochener Temperatursensor von Hunderten und der Computer würde alle Systeme herunterfahren. Susan schaute fast schon hypnotisiert auf die in Zeitlupe herabzählenden Sekunden der großen Countdown-Anzeige. T minus zwanzig, T minus neunzehn.
»Go für Abstoßvorrichtung«, meldete der Booster-Offizier.
»Verstanden.«
Susan wusste, was nun im Inneren des Raumschiffes geschah. Die erste von Zehntausenden Atombomben wurde automatisch von der Fördereinrichtung des Nuklearbombenarsenals im Boden des Raumschiffes aufgenommen und zur Abstoßvorrichtung transportiert.
»Zehn, neun, acht …«
Hoffentlich hatten die Ingenieure den Test auch richtig programmiert. Nicht auszudenken, wenn der Countdown kurz vor der Nullmarke nicht endete und das Schiff tatsächlich versuchte, einen scharfen Megatonnensprengsatz auszustoßen und zu zünden.
Susan schloss die Augen.
»…, drei, zwei, eins, null.«
Kein helles Licht durchdrang ihre Augenlider. Kein ohrenbetäubendes Krachen, das eine nahe Atomexplosion verkündete.
»Test beendet. Countdown wird auf T minus 24
Stunden resettet.«
Susan öffnete ihre Augen wieder und atmete auf. Es war alles gut gegangen. Der CDT
war erfolgreich beendet worden. Es hatte zwar ein paar Probleme gegeben, aber die waren sicher lösbar. Für die gravierendsten Defekte gab es Ersatzteile vor Ort oder gleich im Raumschiff.
Sie spürte eine Hand auf ihre Schulter klatschen. Es war Brian, der sie angrinste. »Na, wie haben wir das gemacht?«
Susan umarmte ihn flüchtig und schaute dann Branson und seinen Controllern zu, die die Daten sicherten und sich anschließend mit Klemmbrettern und Ordnern auf den Weg zum Debriefingraum machten. Brian und Crippen standen auf. Der Präsident hatte die Besuchergalerie schon verlassen. Susan seufzte und erhob sich ebenfalls. Es wurde von ihr erwartet, dem Debriefing beizuwohnen, auch wenn sie dort nichts beizutragen hatte.
Sie folgte Brian die Stufen der Besuchergalerie hinunter. Der Besprechungsraum befand sich in der Nähe des Ausgangs, direkt neben einer kleinen Lounge mit einem Kaffeeautomaten. Da sie noch auf die Crew der Arche warten mussten, die nun mit einem Hubschrauber von der Area 51
hierher unterwegs war, verteilten sich die Manager und Controller in der Lounge. Präsident Gorman war in ein Gespräch mit Launch Director Branson vertieft, der seinem wichtigen Besucher mit weit ausholenden Gesten irgendetwas erklärte. Brian zog sich einen Kaffee am Automaten und beugte sich dann zusammen mit Crippen über einen Stapel Papiere, die auf einem Tisch verstreut waren. Irgendwie schien jeder beschäftigt zu sein, und Susan wusste nicht so recht, wohin mit sich.
»Hier. Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.«
Susan wandte sich um. Colin war neben sie getreten und hielt ihr einen Plastikbecher entgegen.
»Was ist das?«
»Weißwein«, erklärte der Astronaut. »Ich habe ihn aus der Küche gemopst. Eigentlich sollte es ihn erst nach dem Debriefing geben, aber wir sind ja beide nur Beobachter heute.«
Susan wollte zuerst ablehnen, zuckte aber dann mit den Schultern und nahm Colin den Becher ab. »Danke.«
»Zum Wohl«, sagte Colin, und sie stießen an.
Susan nahm einen kleinen Schluck. Der Wein war trocken, aber trotzdem mild. Billigplörre war das nicht.
»Ist ein Pinot Grigio«, erklärte Colin. »Der Kellner meinte, der Präsident habe ihn mitgebracht. Ist offenbar sein Lieblingswein.«
»Sicher befindet sich schon ein ganzer Jahresvorrat auf der Arche.«
»Der muss dann wohl für sein ganzes Leben vorhalten«, grinste Colin. »Der Platz zum Lebensmittelanbau in der Arche wird
jedenfalls nicht auch noch für Wein reichen.«
»Also wird der kümmerliche Rest der Menschheit, der nächste Woche in den Weltraum flieht, zu Antialkoholikern wider Willen«, kommentierte Susan trocken. »Muss nicht unbedingt das Schlechteste sein.«
Colin lachte. »Das glaube ich nicht! Es wird nicht lange dauern, dann brennt jemand aus Lebensmittelabfällen an Bord den ersten Schnaps. Wenn der Anbau von Gerste und Hopfen nach Plan läuft und die Reserven ausreichen, dann gibt es sicher auch hin und wieder mal ein Bier.«
»Ich bin mal gespannt, ob der Plan aufgeht«, meinte Susan nachdenklich. »Wir haben nicht nur den riskanten Start, die Ungewissheit bei der Inbetriebnahme des interstellaren RAMJET
, sondern auch noch die offenen Fragen, was das Langzeitüberleben der Menschen an Bord angeht. Wir haben eine geschlossene Ökologie entworfen, die bis zum Ende aller Zeiten reichen muss.«
Colin grinste. »Nein, keine geschlossene Ökologie. Die Passagiere werden sich mit allen Rohstoffen versorgen können, die sie brauchen.«
Susan wusste nicht, was der Astronaut meinte. »Wo sollten denn die Rohstoffe herkommen, wenn wir nirgends mehr stoppen und landen können?«
»Der Magnetteil des Staustrahltriebwerks extrahiert sie aus dem interstellaren Medium«, erwiderte Colin. »Es ist ein ganz neues Konzept, aber dieser Nuklearheini … wie heißt er doch gleich?«
»Dyson.«
Colin nickte. »Genau der. Er sagte, dass es im interstellaren Medium nicht nur Wasserstoff, sondern alle denkbaren Elemente gibt, wenn auch nicht in so großen Mengen. Sie haben in den Einfangtrichter ein Magnetfeld eingebaut, das die benötigten Elemente in einen Tank umleitet. Ganz so, wie ich aus einem Rennboot einen Becher raushalten kann, um Salzwasser zu schöpfen.«
Susan schlug sich an den Kopf. Natürlich. Es war das uralte Prinzip eines Massenspektrometers. Warum war sie nicht selber darauf gekommen? Wenn das Schiff erst mal mit annähernder Lichtgeschwindigkeit flog, würden sie keine Mühe haben, alles, was
sie brauchten, aus dem interstellaren Medium zu fischen. Mit den an Bord befindlichen chemischen Minifabriken konnten sie dann nahezu jeden Stoff synthetisieren. Susan wunderte sich, dass Brian und Crippen nie davon gesprochen hatten. Aber es hatte ja auch beim Bau so viele Diskussionspunkte gegeben.
»Wo ist eigentlich General Gunn?«, erkundigte sich Colin. »Ich wollte mit ihm sprechen, aber ich sehe ihn nirgendwo. Ich hatte angenommen, dass er an dem Meeting teilnehmen würde.«
Susan runzelte die Stirn. Colin schien nicht gut informiert zu sein. »Du hast es nicht gehört?«
»Was gehört?«
»General Gunn ist tot. Und NASA
-Administrator Boseman auch. Sie sind bei einem Aufstand in der Nähe von Chicago ums Leben gekommen, als sie eine Fabrik inspizieren wollten.«
»Oh.« Colin starrte sein Weinglas an.
Susan hatte es selbst nicht glauben wollen. Sie hatte immer angenommen, dass, wenn jemand gut auf sich aufpassen konnte, es der General gewesen wäre.
»Aber das mit der russischen Arche hast du schon mitbekommen?«, fragte Susan.
Die Tickets für deren Arche, die etwas kleiner war als die amerikanische, waren von Anfang an für die zum Betrieb nötige Mannschaft, einige Spezialisten und eine nicht unerhebliche Zahl an Oligarchen, Politiker und sonstige Personen gegangen, die sich über Beziehungen und Geld eine Mitfluggelegenheit ergattert hatten. Die Techniker und Ingenieure waren in einem Rückfall auf stalinistische Methoden zur Arbeit gezwungen worden. Als die Zustände immer schlimmer wurden, hatte sich eine Gruppe Zwangsarbeiter mit einer aus dem Arsenal gestohlenen Atombombe in die Luft gesprengt. Und zwar im Inneren der schließlich in einem Atompilz vergangenen Arche.
»Na klar habe ich davon erfahren.« Colin lächelte schwach. »Bei uns läuft es zum Glück besser. Ist dein Gepäck schon an Bord?«
Susan schüttelte den Kopf. »Ich muss morgen noch mal nach Wisconsin.«
Colins Gesicht wurde ernst. »Sicher? Das Reisen ist ziemlich gefährlich geworden.«
Als ob Susan das nicht selber gewusst hätte. Die Anzahl der Toten bei Aufständen, Plünderungen, Überfällen und organisierten Vergewaltigungen stieg Tag für Tag. Wenn die Lotterie gelaufen und die Arche gestartet war, würde der letzte Rest an Ordnung im Land zusammenfallen. »Ich muss mich noch um meine Mutter kümmern.«
»Du willst dich verabschieden. Das verstehe ich«, meinte Colin sanft. »Aber du wirst es schwer haben, dorthin zu kommen. Es gibt praktisch keine Linienflüge mehr.«
Susan lächelte. »Ich fliege mit einer Militärmaschine, die sowieso nach Wisconsin reist, um Datenträger der Universität abzuholen. Am Abend bin ich wieder da.«
Sie verschwieg ihm, wie sehr sie das belastete. Einerseits freute sie sich, ihre Mutter noch einmal zu sehen, andererseits wusste sie auch, dass das kein leichter Besuch werden würde. Es widerstrebte ihr, ihre Mutter in einem sterbenden Land auf einem sterbenden Planeten zurückzulassen. Sie hatte sich einen Plan zurechtgelegt, das Leid ihrer Mutter zu verkürzen, aber sie wollte jetzt nicht daran denken. »Was ist mit dir? Ist dein Gepäck schon eingeladen?«
Colin lächelte gezwungen, als suche er nach Worten.
Susan runzelte die Stirn. Sie dachte, er hätte sich inzwischen entschieden. »Du zweifelst nicht wirklich noch, ob du mitfliegen sollst? Oder etwa doch? Ich dachte, die Sache mit Allison sei endgültig erledigt.«
»Eigentlich schon«, erwiderte Colin zögernd. »Wir sehen uns zwar hin und wieder, sobald ich nach Houston komme, aber wenn ich zu Hause bin, dann ist es wie in einer Wohngemeinschaft.«
»Also, was hält dich dann?«
Colin kratzte sich nervös am Kinn. »Wir sind immer noch verheiratet.«
»Dann macht doch reinen Tisch. Auch wenn es schwerfällt. Die Zeit dazu ist gekommen.«
»Ich weiß«, sagte Colin gequält. »Ich …«
»Da sind sie ja endlich!«, rief Präsident Gorman.
Susan blickte auf. Tonja Dillinger und die anderen Mitglieder ihrer Crew betraten das Gebäude. Einige Ingenieure und Politiker applaudierten. Die Astronauten hatten ihre Druckanzüge abgelegt und trugen nun die blauen Kombinationen, die sie schon im NASA
-Programm bei dienstlichen Anlässen angezogen hatten.
»Dann wollen wir mal reingehen.« Colin klatschte in die Hände. Er schien erleichtert, nun nicht mehr über das Verhältnis zwischen ihm und seiner Ehefrau sprechen zu müssen.
Susan folgte Colin hinter den anderen in den Besprechungsraum. An der Stirnseite des Zimmers war unter der Projektionsfläche ein großer Tisch aufgebaut, an dem die Hauptverantwortlichen des Projekts, darunter Brian, Crippen, Atombombenkonstrukteur Dyson und Tonja Dillinger, Platz nahmen. Präsident Gorman setzte sich an die Kopfseite des Tisches. Davor war ein gutes Dutzend Stuhlreihen aufgestellt, die von den nachrangigen Projektmanagern und Spezialisten besetzt wurden. Jeder von ihnen würde die Reise mitmachen. Es waren die Menschen, die sich mit der Arche am besten auskannten und unentbehrlich waren. Susan setzte sich neben Colin in die hinterste Reihe. Launch Director Branson wollte gerade das Wort ergreifen, da erhob sich der Präsident. Seine Miene war freundlich, aber sichtlich angespannt. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich hier einmische. Ich habe mit meinem Stab noch einiges an Arbeit und kann nicht das ganze Debriefing über an Ihrer Seite bleiben, daher möchte ich noch einige Punkte klären, die mir wichtig sind.«
Branson zuckte mit den Schultern. »Fahren Sie fort, Mr. President.« Er setzte sich wieder.
»So weit ich das heute gesehen habe, ist die Arche in betriebsbereitem Zustand«, sagte Gorman und wandte sich zu Crippen um. »Sind Sie bereit für Plan Gelb?«
Susan runzelte die Stirn. Was war Plan Gelb? Ihre Blicke trafen sich mit denen von Colin. Sie sah es an seinem Gesichtsausdruck: Er hatte auch keine Ahnung.
Crippen räusperte sich. »Ich werde meine Projektleiter fragen. Dr. Dyson?«
Der Nuklearingenieur machte eine wegwerfende Handbewegung. »Keine Einwände.«
»Bill?«, wandte sich Crippen an den Launch Director.
Der Mann fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Tja, es gibt schon noch einige Dinge zu tun, aber mit entsprechendem Druck
werden wir es in den übrigen zwei Tagen schon schaffen.«
Was für übrige zwei Tage?
Crippen fragte noch einige andere Männer und Frauen nach ihrer Meinung, bevor er Brian ansprach. »Was denkst du?«
»Kein Problem von meiner Seite. Ich hebe allerdings noch einmal meine moralischen Bedenken hervor.«
Was zum Teufel geht hier vor?
Vereinzelt tuschelten die Männer und Frauen in den Sitzreihen miteinander. Die meisten hatten keine Ahnung, aber die oberen Manager wussten über diesen Plan Gelb offenbar Bescheid.
»Keine Bedenken gegen die Umsetzung von Plan Gelb«, verkündete Crippen schließlich.
Der Präsident wirkte erleichtert. »Gut, dann werden wir damit fortfahren.« Er wandte sich dem Publikum in den Sitzreihen zu. »Es gibt eine Planänderung. Die Arche wird nicht erst in einer Woche starten, sondern übermorgen.«
Susan glaubte, sich verhört zu haben.
Das kann nicht sein!
Überall im Raum stöhnten, schrien, keuchten die Leute auf.
»Aber die Lotterie!«, rief Colin.
Der Präsident hatte sichtbar Mühe, sich über den Lärm hinweg verständlich zu machen. Er machte eine beschwichtigende Geste. »Beruhigen Sie sich.«
Langsam sank der Lärmpegel im Raum. Doch Colin hatte sich erhoben. »Was ist mit der Lotterie?«
Präsident Gorman fixierte ihn ausdruckslos. »Es wird keine Lotterie geben.«
Susan sprang auf. Keine Lotterie?
»Sir«, sagte Colin mit bemüht ruhiger Stimme. »Was ist mit über zweihundert Millionen Amerikanern, die im Angesicht des auf sie zukommenden Todes ruhig ihr Leben und ihre Arbeit getan haben? Sie taten es in dem Wissen, dass diese Chance ihre einzige auf ein Überleben ihrer Familien ist.«
Zustimmendes Gemurmel brandete im Raum auf. Doch Präsident Gorman blickte ihn weiter ausdruckslos an. »Ihre moralischen Bedenken in allen Ehren, Mr. Curtis, aber wir können uns das in dieser Situation nicht leisten. Die Plätze an Bord der Arche sind
begrenzt. Das wissen Sie doch selbst. Es wäre eine Dummheit, das Los über die Zusammensetzung der Besatzung entscheiden zu lassen. Wenn wir das Überleben der Menschen an Bord garantieren wollen, dann können wir nur die klügsten, fleißigsten und besten Amerikaner mitnehmen.« Gorman lächelte schwach. »Sie selbst haben uns bei der Auswahl dieser Menschen geholfen, Mr. Curtis. Über zweitausend wurden in den letzten Wochen in einer Geheimaktion nach Nevada gebracht und in unmittelbarer Nachbarschaft der Arche einquartiert. Sie sind bereit, morgen an Bord zu gehen und übermorgen ihre letzte Reise anzutreten, um das Erbe Amerikas und der Menschheit in den Weltraum hinauszutragen.«
Susan wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es durfte nicht sein, dass so einfach alle Werte, alle Versprechungen, alle Hoffnungen, die dieses Land einmal geprägt hatten, über Bord gingen.
»Damit verraten Sie Ihre eigenen Prinzipien.« Colin war so außer sich, dass er stotterte. »Sie begehen Verrat am Volk, das Sie gewählt hat. Die Menschen haben Ihnen vertraut. Und jeder von ihnen hat das Recht auf eine Chance zur Flucht, ohne Spezialist oder Politiker zu sein. Sagen Sie mir, Mr. President, wie viele Tickets haben Sie für sich und Ihre Seilschaften reserviert? Hundert? Zweihundert?«
Im Raum wurde es plötzlich totenstill. Menschen, die eben noch Colin angestarrt hatten, drehten sich zum Präsidenten herum.
Gorman funkelte Colin an, seine Kiefermuskulatur mahlte. Er atmete tief ein und wieder aus. »Kein einziges.«
»Was?«, fragte Colin entgeistert.
»Sie haben mich schon richtig verstanden, Mr. Curtis. Während der Startphase liegt die Befehlsgewalt im Schiff bei der Kommandantin Dillinger. Wenn die Arche dann in den stabilen Reiseflug gegangen ist, wird ein Rat gewählt, dem die Kommandantin sich unterzuordnen hat. Ich kann Sie also beruhigen. Nicht ein einziger Politiker wird die Arche betreten. Alle Plätze sind für unentbehrliche Spezialisten reserviert.«
Der Präsident ließ die Worte im Publikum sacken, bevor er weitersprach. »Auch ich werde nicht an Bord gehen, sondern mit meiner Frau zusammen in Washington auf das Ende warten. Ich
habe Schuld auf mich geladen und elementare moralische Prinzipien verletzt, um diesem Projekt zum Erfolg zu verhelfen. Ich trete mit dem Start der Arche zurück, um den Weg für einen Neuanfang freizumachen.«
Susans Kehle war eng. Der Präsident hätte jedes Anrecht auf einen Platz an Bord gehabt. Niemand hätte das in Frage gestellt. Es gab ihm ein Minimum an Anstand zurück, machte die getroffenen Entscheidungen aber nicht besser.
Colin schien das auch nicht zu beruhigen. »Sie hätten zumindest mit offenen Karten spielen können. Sie hätten den Menschen die Wahrheit sagen sollen, anstatt sie über zwei Jahre hinweg anzulügen und ihnen eine Hoffnung vorzuschwindeln.«
Präsident Gorman schnaubte. »Alleine die Aussicht auf Teilnahme an der Lotterie hat die öffentliche Ordnung aufrechterhalten. Sie haben ja gesehen, was in Russland passiert ist.«
»Sie haben sich die Loyalität des amerikanischen Volkes erschwindelt«, schrie Colin. »Durch Lügen und Intrigen. Wie lange schon? Wann haben Sie beschlossen, die Lotterie nicht stattfinden zu lassen?«
Gorman lächelte mild. »Als Sie mich aus der Fabrik in Michaud angerufen haben. Wir mussten die Gewichtung der Arbeiter herabstufen, da wir dringend Platz für mehr Fachpersonal in der Arche brauchten. Zunächst war für mich nur die höhere Chance bei der Lotterie eine notwendige Lüge. Aber ich bin dann noch am selben Tag darauf gekommen, dass es vernünftiger ist, die Lotterie gar nicht stattfinden zu lassen. Das Versprechen ist für die notwendige Arbeit genauso hilfreich wie die Einlösung des Versprechens.« Gorman sprach voller Überzeugung. »Ich tat es, weil ich es als notwendig für das Überleben des Volkes erachte. Notwendig für das Überleben der Archenbesatzung. Und somit notwendig für Ihr Überleben, Mr. Curtis.«
Colins Lippen bebten. Er zitterte. »Dabei mache ich nicht mit. Ich weigere mich, mein Überleben mit Lügen und Betrug zu erkaufen. Ich werde mich nicht klammheimlich davonmachen und dabei die Hoffnungen von Millionen Amerikanern zerstören. Behalten Sie Ihr gottverdammtes Ticket. Ich bleibe hier.«
»Das wäre zwar sehr bedauerlich, aber letzten Endes Ihre Entscheidung, Mr. Curtis. Und jetzt geben Sie endlich Ruhe, damit wir mit dem Meeting fortfahren können. Oder muss ich Sie rauswerfen lassen?«
Zwei Agenten des Secret Service kamen von den Seiten des Raumes langsam auf Colin zu.
»Nicht nötig, Mr.
Gorman.« Colin hob seine Tasche auf, quetschte sich an Susan vorbei und stürmte aus dem Raum.
Am liebsten wäre Susan dem Astronauten gefolgt. Doch stattdessen setzte sie sich wieder auf ihren Platz und blickte zu Boden.
Ich will leben!