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»Ach,
Mama, warum kannst du nicht einfach loslassen?« Susan strich ihrer Mutter über die Haare.
Die alte Frau starrte die Decke an, wie sie es die ganzen letzten Jahre über getan hatte.
Susan konnte nicht gehen, ohne sich von ihr zu verabschieden, darum war sie froh, als ein General ihr eine Mitfluggelegenheit nach Madison angeboten hatte, wo ein Jet Datenträger von der University of Wisconsin abholen sollte. Aber sie hatte nur wenige Stunden Zeit, bis der Flieger sich wieder auf den Rückweg machen würde.
Mit Tränen in den Augen betrachtete Susan ihre Mutter. Alles, was sie war, verdankte sie ihr. Immer, wenn Susan schwach gewesen war, hatte Mama ihr Kraft gegeben. Es widerstrebte ihr, sie einfach zurückzulassen, wo ihre Mutter jetzt ihre Unterstützung brauchte.
»Ich habe gar nicht mitbekommen, wie Sie hereingekommen sind.«
Susan wandte sich um. Mrs. Denham stand in der Tür. Die Leiterin des Pflegeheims sah schlecht aus. Sie hatte in den Monaten seit Susans letztem Besuch deutlich an Gewicht verloren. Ihre Haare fielen ihr ungepflegt in den Nacken.
»Ich habe hier auch niemanden gesehen«, entgegnete Susan. »Wo sind denn die ganzen Pfleger?«
»Die meisten kommen schon seit Monaten nicht mehr.« Mrs. Denham zuckte mit den Schultern. »An vielen Tagen bin ich die Einzige, die sich noch um unsere Gäste kümmert. Etliche wurden abgeholt, aber es sind immer noch zu viele für mich allein übrig.«
Susan hatte es befürchtet. Schon jetzt wurde sich nicht mehr um die Alten gekümmert. Wie würde es morgen sein, wenn die Arche gestartet war? Würde als Letzte dann auch Mrs. Denham zu Hause bleiben? Und was würde danach mit Mama geschehen?
Nein, das konnte Susan nicht zulassen. Aber das war ja auch der andere Grund ihres Kommens. Und sie war sich jetzt sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
»Kann ich etwas für Sie tun, Susan?«, fragte Mrs. Denham.
Susan kramte in der Tasche ihres Mantels, bis sie die Ampulle gefunden hatte, und stellte sie auf den Nachttisch ihrer Mutter. Sie war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. Susan hatte das Zeug einem befreundeten Tierarzt in Stoughton abgeschwatzt. »Ich brauche eine Spritze.«
Mrs. Denham trat näher, bis sie die Schrift auf der Ampulle erkennen konnte. »Pentobarbital?« Die Pflegerin riss entsetzt die Augen auf. »Das ist nicht Ihr Ernst.«
Sie schaute direkt in Susans Augen. Nach langer Zeit senkte Mrs. Denham den Blick. Schließlich drehte die Frau sich um und verließ das Zimmer. Es gab jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder holte sie eine Injektionsnadel oder sie rief die Polizei.
Minuten vergingen. Schließlich stand Mrs. Denham wieder in der Tür, eine verpackte Spritze in der Hand. Wortlos reichte sie sie Susan und verschwand auf den Gang, wobei sie die Zimmertür hinter sich zuzog.
Susan riss das Päckchen auf, nahm die Ampulle und zog die Spritze mit zitternden Händen auf. Dann ergriff sie den Arm ihrer Mutter und suchte nach einer gut sichtbaren Vene, wie sie es in der Notfallausbildung für ihren Südpoleinsatz gelernt hatte.
Mein Gott. Ich bringe jetzt meine eigene Mutter um.
Susan verpackte den Gedanken und verschloss ihn ganz hinten in ihrem Geist. So durfte sie nicht denken, denn dann würde sie es nicht tun können. Die Alternative war schlimmer. Nein. Sie wollte nicht ihre Mutter einsam in ihrem Bett liegen und verdursten und verhungern lassen, während rings um sie herum die Welt zum Teufel ging.
Mechanisch setzte Susan die Kanüle an, stach in die Vene und drückte den Inhalt der Ampulle in die Blutbahn. Dann warf sie die Spritze in den Papierkorb. Die Wunde blutete ein wenig, aber leider hatte Susan kein Pflaster. Sie nahm die Hand ihrer Mutter in die ihre. Nach allem, was sie über das Mittel gelesen hatte, sollte es relativ schnell gehen. Der Ausdruck in den Augen blieb unverändert, aber
nach einigen Minuten wurden die Atemgeräusche lauter. Das Einatmen fiel ihrer Mutter immer schwerer. Sie schnappte nach Luft und ihr Kopf ruckte rhythmisch nach vorne.
Dann, ganz plötzlich, hörte es auf. Mom lag völlig still in ihrem Bett, die starren Augen zur Decke gerichtet. Es war vorbei.
»Mama.« Susan vergrub ihr Gesicht in der Bettdecke und weinte bitterlich. Ihre Hand umklammerte die ihrer toten Mutter.