49
»Es
ist unfassbar.« Mikel öffnete eine weitere Tür.
Pala spähte über seine Schulter in einen mit Regalen vollgestopften Raum. In den meisten Fächern befanden sich mit schwarzen Symbolen beschriftete Holzkisten. Mikel zog die Tür wieder zu und langsam kämpften sie sich den steil nach oben führenden Gang hinauf.
Toma öffnete eine weitere Tür. »Da sind lauter merkwürdig aussehende Geräte drin.«
Immer wieder kamen sie an Gabelungen, an denen weitere Korridore nach rechts oder links abführten, die aber allesamt kleiner waren. Pala war fasziniert von dieser ganz eigenen Welt, die sich, ohne dass sie davon gewusst hatte, unter ihren Füßen erstreckte. Sie zweifelte nicht daran, dass die geheimnisvolle Unterwelt sich auch unter ihrem Dorf, ihrem See, ihrem Wald durch den Boden zog. Sie erinnerte sich daran, dass sie vor ewigen Zeiten bei einer langen Wanderung mit ihrer Mutter im Wald auf eine Schleuse im Boden gestoßen war. Doch damals hatten sie sich aus der Platte mit dem Hebel keinen Reim machen können und waren achselzuckend weitergezogen.
Sie passierten eine Luke, die sich selbständig öffnete und nach oben in die Decke fuhr. Direkt dahinter gab es eine weitere Tür, die sich erst dann zu einem weiteren Korridor hin öffnete, nachdem sich die erste Tür wieder geschlossen hatte.
Der Korridor wurde immer steiler, bis er schließlich in eine breite Treppe mündete, die sich scheinbar endlos in die Höhe zog. Dicke Geländer waren an den Wänden befestigt.
Schnaufend stiegen sie in die Höhe, wobei sie mit Rücksicht auf Mikel immer wieder Pausen einlegten. In regelmäßigen Abständen passierten sie noch mehrere dieser Doppeltüren.
»Wenn es so steil weiter nach oben geht, müssten wir irgendwann
hinter dem Nordpol sein«, überlegte Toma.
»Vielleicht befindet sich genau dort dieser Bug mit der Zentrale, zu der wir müssen«, vermutete Pala.
Sie gingen weiter. Obwohl die Treppe steiler wurde, bereitete sie Pala auf seltsame Weise immer weniger Mühe. Als wäre sie selbst leichter geworden, nahm sie schließlich ohne jede Anstrengung zwei Stufen auf einmal. Selbst Mikel kam problemlos voran. Merkwürdig.
Toma blieb stehen, um aus seinem Wasserschlauch zu trinken, da rutschte er ihm aus der Hand. Das Gefäß schien sich zunächst nicht entscheiden zu können, ob es überhaupt herunterfallen wollte, sondern verharrte einen Moment lang mitten in der Luft und sank dann langsam wie eine Feder nach unten. »Das war seltsam.« Toma hob den Beutel wieder auf.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang Pala hoch. Sie erschrak heftig, als sie plötzlich an der Decke war und musste ihren Kopf mit den Händen schützen, um nicht anzustoßen. Langsam sank sie wieder zu Boden. Was ging hier nur vor sich?
Sie sah Toma an. »Es ist das, was der Proffes gesagt hat«, meinte der. »Zur Mitte der Welt hin wird die Kraft geringer, die uns nach unten zieht. Wenn wir in der Achse ankommen, werden wir gar nichts mehr wiegen.«
»Gar nichts mehr wiegen?«, wiederholte Mikel. »Werden wir dann etwa mitten in der Luft schweben? Wie sollen wir denn laufen, wenn uns nichts mehr nach unten zieht?«
Toma zuckte mit den Schultern und ging weiter die Treppe hinauf. Nach wenigen Stufen erreichte er eine dicke Metalltür und blieb stehen, um die Schriftzeichen darauf zu betrachten.
»Was steht dort?«, fragte Pala.
»Panoramalounge.«
»Was bedeutet das?«
»Keine Ahnung.« Er öffnete die Tür mit der schweren Klinke. Dahinter war es dunkel. Es war der erste Raum, den sie entdeckten, der nicht beleuchtet war. Toma ging hinein, und Mikel folgte ihm neugierig. Pala bildete den Schluss, ließ aber die Tür offen, damit sie etwas sehen konnten.
Einige Metallstühle waren um runde Tische herum gruppiert. Die der Tür gegenüberliegende Wand bestand aus Glas, aber dahinter
war es dunkel. Vermutlich zeigte das Fenster in einen anderen, noch größeren Raum. Ansonsten gab es hier nichts zu sehen, und Pala wollte sich schon enttäuscht wieder abwenden.
»Warte mal«, hielt Toma sie auf. »Da sind Lichter in dem dunklen Raum.«
»Wo?« Mikel drückte die Nase gegen das Glas. »Ich kann nichts erkennen.«
»Sie sind ganz schwach.«
Pala schloss die Tür. Nun war es stockdunkel, und sie musste sich ihren Weg zum Fenster ertasten.
Doch allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Toma hatte recht. In dem Raum hinter dem Fenster waren kleine Lichter. Wie weit entfernte Kerzen. Die Helligkeit reichte aus, um Pala die Umrisse von Toma und Mikel erkennen zu lassen. Sie blieb neben Toma stehen und streckte die Hand aus, um das Glas zu berühren. Es war sehr kühl. Sie erkannte immer mehr Lichter. Alle in einer bläulichen Farbe. Und sie schienen unendlich weit entfernt zu sein. Der Raum hinter den Fenstern war offensichtlich riesig.
Dann begriff sie. Da war gar kein Raum. Sie blickte in die Ewigkeit des Vakuums. Die Gruselgeschichten ihrer Kindheit waren wahr. Die Lichter waren Sterne!
»Mein Gott.« Pala stolperte unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Das sind Sterne.« Toma war offenbar ebenfalls auf denselben Gedanken gekommen. Aber seine Stimme verriet keine Furcht.
»Sterne?«, fragte Mikel mit ängstlicher Stimme.
Pala hatte den Eindruck, in einen unendlichen Abgrund zu schauen. Die Gruselgeschichten stimmten also. Das hier war das Vakuum. Das Nichts. Die ewige Verdammnis mit den Irrlichtern, die weiter entfernt waren, als Menschen es sich vorstellen konnten. Und sie war vom Abgrund am Ende der Welt nur durch das Glas eines Fensters entfernt. Pala begann, zu zittern. Am liebsten wäre sie davongelaufen, doch der Anblick hielt sie gefangen. Sie empfand eine morbide Faszination beim Blick nach draußen in die Unendlichkeit.
»Der Proffes hat davon erzählt«, flüsterte Toma. »Aber ich habe es nicht verstanden, ihn falsch wiederholt, worauf er mich wieder geschlagen hat.«
»Was hat er erzählt? Von den Irrlichtern?«, fragte Pala leise.
»Es sind keine Irrlichter. Es sind Sterne. Dass sie die Heimat anderer Welten sind. Dass unsere Ursprungswelt ebenfalls in der Nähe eines Sterns gewesen ist. Bevor die Vorväter sich ihre eigene Welt bauten und geflohen sind.«
»Warum sind sie geflohen?«
»Sie flohen vor dem Vakuum.«
»Aber da draußen ist doch überall Vakuum«, widersprach Pala.
Toma sah verwirrt aus. »Ich verstehe es ja auch nicht.«
»Mir macht das furchtbare Angst«, erklärte Mikel. »Aber gleichzeitig wirken die Lichter auch sehr faszinierend. Als ob sie einen durch ihr Schimmern anlocken wollten.«
Er trat einen Schritt nach vorne, bis er direkt vor dem Fenster stand. »Etwas ist allerdings seltsam.«
»Was denn?«, fragte Pala. »Was ist seltsam?«
»Die Sterne sind nur auf der rechten Seite des Fensters. Links sind keine zu sehen.«
Ihr Vater hatte recht. Überall wimmelte es von Sternen, nur links nicht. Der Sternhintergrund hörte einfach auf. Als ob jemand eine gerade Linie gezogen hätte. Pala schüttelte den Kopf. Sie verstand einfach nicht, was sie außerhalb des Fensters sah. Es jagte ihr ebenso wie ihrem Vater Angst ein. »Können wir jetzt bitte wieder gehen?«, fragte sie leise.
»Es ist nichts Schlimmes.« Toma war ungerührt. »Es ist die natürliche Umgebung unserer Welt. Seit Generationen schützt die Hülle unserer Welt uns vor dem leeren Raum dort draußen. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben.«
»Das mag sein, aber ich fühle mich hier wirklich nicht wohl«, entgegnete Pala. »Ich kann den Anblick nicht länger ertragen. Ich werde jetzt gehen.«
Sie wandte sich ab und tastete sich vorsichtig wieder bis zur Tür.
Mikel folgte ihr nach draußen auf den Korridor. »Ich habe immer an die Leere außerhalb der Welt geglaubt, aber ich dachte, sie würde erst viel tiefer unter unseren Füßen beginnen. Und nun sind wir kaum einige Schritte von der Oberfläche der Welt entfernt.«
Endlich folgte Toma ihnen. Pala atmete auf, als sich die Tür zu dem Raum mit dem Fenster wieder geschlossen hatte.