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»Flight,
Capcom«, meldete Colin an den Flugdirektor.
»Reden Sie, Capcom«, forderte Branson, der eine Reihe hinter ihm an seiner Konsole saß.
»Alle Schiffssysteme sind grün. Besatzung meldet, Crew und Passagiere bereit zum Start.«
»Verstanden, Capcom. Danke.«
Colin sah sich um. Das Flugkontrollzentrum war beinahe verlassen. Nur sechs Menschen saßen an ihren Konsolen. Ein ganz anderer Anblick als in der Missionskontrolle in Houston oder dem Startkontrollzentrum bei Cape Canaveral, wo während des Starts einer Rakete Dutzende, zu Apollo-Zeiten Hunderte Menschen an ihren Konsolen gesessen hatten. Branson war klar gewesen, dass er kaum Personal für den Start finden würde. Also hatte er die Kontrolle der meisten Systeme dem Schiff oder den Computern der Bodenkontrolle überlassen. Da die Arche auf Autarkie ausgelegt war, reichten die sechs Menschen völlig aus.
Colins Blick traf sich mit dem von Marc Dyson, dem Nuklearingenieur. Der Mann grinste schief und widmete sich wieder seiner Konsole. Da die erste Atombombe nicht abgeworfen wurde, sondern unter dem Schiff im Boden abgesenkt war, brauchte es einen Ingenieur, der die Zündung überwachte. Dyson hatte es sich nicht nehmen lassen, diesen Job selber zu machen, obwohl er problemlos einen seiner Untergebenen hätte schicken können. Colin fragte sich, ob der Atombombenkonstrukteur seinen Männern nicht vertraute oder einfach nur Zeuge des Spektakels sein wollte. In letzterem Falle hätte er sich auch einfach nur einen Platz in der VIP
-Galerie sichern können. Die war so gut wie leer. Nur Präsident Gorman saß dort zwischen zwei Agenten des Secret Service und blickte immer wieder zwischen den großen Bildschirmen an der Vorderfront des Raumes und dem großen Panoramafenster hin und
her. Colin wunderte sich, warum sich der miese Kerl noch nicht an einen abgelegenen, geheimen Ort begeben hatte und den Start auf dem Bildschirm verfolgte.
»Mr. Dyson«, sagte Launch Director Branson. »Wie ist der Status des primären Detonators?«
Dyson drehte sich wie in Zeitlupe um. »Machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich habe alles im Griff.« Dann wandte er sich wieder seiner Konsole zu.
»So ein Arschloch hätte ich zu Shuttle-Zeiten niemals in mein Kontrollzentrum hineingelassen«, murmelte Branson.
Ein Telefon klingelte an einer unbesetzten Konsole irgendwo vorne. Greg Maine, der für die Flugbahnberechnung zuständig war, stand auf und hob den Hörer ab. Als er wieder auflegte, war er bleich.
»Sir, wir haben ein Sicherheitsproblem«, rief er quer durch den Raum.
Der Flight Director zeigte auf seine Ohrhörer.
Maine eilte zu seinem Platz und setzte sein Headset auf. Kurz darauf hörte Colin seine Stimme im Kopfhörer. »Wir haben ein Sicherheitsproblem, Flight.«
»Was meinen Sie, GUIDO
?«
»Am Telefon des RSO
war ein Mann von der Air Force. Eine Vielzahl an Menschen hat sich an den Toren des Luftwaffenstützpunktes eingefunden. Offenbar hat sich das Gerücht rumgesprochen, dass die Arche ohne Lotterie starten soll.«
Colin wischte sich über den Mund. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es sich herumsprach. Dazu waren zu viele an dem Projekt beteiligt, vor allem aus der näheren Umgebung. Wenn die Leute auf die Idee kamen, die Air Force Base zu stürmen, dann waren sie binnen fünf Minuten am Startkontrollzentrum.
Branson war offenbar auf denselben Gedanken gekommen. Colin konnte hören, wie er mit irgendjemandem, offenbar von der Air Force Base, telefonierte. »Halten Sie die Tore dicht. Wenigstens eine halbe Stunde, dann kann es uns auch egal sein.«
Colin sah hoch zur VIP
-Galerie. Der Präsident saß ungerührt auf seinem Platz. Die bekamen dort oben hinter der dicken Glasscheibe nicht mit, was hier unten gesprochen wurde.
»Noch zehn Minuten.« Branson fragte zum letzten Mal die Stationen ab. Schließlich meldete auch Tonja Dillinger die Arche startbereit.
»Besatzung und Passagiere der Arche bereit zum Start«, gab Colin die Meldung seiner Kollegin an Branson weiter.
»Gut, Aktivieren des Auto Sequencers auf mein Zeichen in fünf, vier, drei, zwei, eins, Mark«, befahl Branson.
»Auto Sequencer aktiviert. Start der Arche um zehn Uhr, fünfzehn Minuten und zwei Sekunden«, bestätigte Lorne Lemmy, der für die Prozeduren zuständig war.
»Pst.«
Colin drehte sich herum. Branson hatte sich über seine Konsole gebeugt und reichte ihm eine Zigarre und eine Packung Streichhölzer.
Colin nahm sie ihm aus der Hand und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er wusste, dass Branson ein Fan der Apollo-Mondlandungen war und dass er vor allem die Flight Controller der damaligen Zeit verehrte. Die hatten sich nach jeder erfolgreichen Mission eine Zigarre angezündet. Der Brauch war dann mit den Rauchverbotsgesetzen in den achtziger Jahren aus der Mode gekommen. Heute interessierte das jedoch niemanden. Colin legte die Zigarre und die Zündhölzer neben sich auf die Konsole und fixierte wieder die Statuswerte auf den Bildschirmen. Temperaturen, Drücke, Drehzahlen – alle Werte waren in ihren Toleranzbereichen.
»Noch drei Minuten«, sagte Branson.
Colin dachte an die chinesische Arche. Was war dort bloß schiefgelaufen? War es wirklich der Ausstoßmechanismus gewesen? Vielleicht auch eine Fehlzündung? Dreitausend Menschen, Männer, Frauen und Kinder, die in einer brennenden Arche aus sechzig Kilometern zu Boden stürzten. Ein schrecklicher Gedanke.
Noch schlimmer war jedoch die Möglichkeit, dass sich diese Katastrophe in wenigen Sekunden wiederholen konnte. Susan, Brian, Tonja … er kannte den Großteil der Besatzung und viele der Passagiere. Es würde ihm das Herz zerreißen, wenn etwas schiefginge.
Hoffentlich hatten sie keinen Fehler gemacht. Im Rückblick war einfach alles zu hektisch gewesen. Kontrollen, Testläufe und Proben
wichtiger und kritischer Subsysteme hatten, wenn überhaupt, nur sporadisch und stichprobenhaft gemacht werden können. Zum Teufel, sie hatten noch nicht einmal das Ausstoßsystem mit Bombenattrappen testen können. Nein, es wäre kein Wunder, wenn in wenigen Augenblicken die Arche in der Gluthitze einer detonierenden Megatonnenwasserstoffbombe mit über zweitausend Amerikanern an Bord verging.
»Mr. President«, sagte Branson mit sarkastischem Tonfall in sein Mikrophon. »Bitte schauen Sie nicht mit dem Fernglas in die Atombombenexplosion, wenn Sie Ihr Augenlicht behalten wollen.«
Colin drehte sich um. Gorman legte sein Fernglas zur Seite und setzte sich wieder auf seinen Platz.
»Noch zwei Minuten«, meldete Branson. »Der Countdown läuft. Alle Systeme weiterhin grün.«
Zwei Minuten. Dann würde es sich entscheiden, ob es für die Menschheit eine Zukunft gab. Nach dem Scheitern der chinesischen und der russischen Arche war dies die letzte Chance. Zumindest für einen kleinen Teil der Menschheit, der das Vermächtnis nicht nur des amerikanischen Volkes, sondern der gesamten Erde zu den Sternen trug.
»Neunzig Sekunden«, sagte Branson ruhig.
»Die Besatzung der Arche möchte sich beim Startkontrollzentrum bedanken«, erklang Tonja Dillingers Stimme über den Lautsprecher. »Außerdem bei allen Mitbürgern, die einen Beitrag zum Bau des ersten interstellaren Raumschiffes der Menschheit geleistet haben, und sei er auch noch so klein. Wir sind uns der Tragweite unserer Mission bewusst und werden unser Möglichstes geben, die in uns gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Wir wünschen den Menschen, die auf der Erde zurückbleiben, alles erdenklich Gute. Wir werden unseren Heimatplaneten für alle Zeit bis in die fernste Zukunft in unseren Herzen tragen.«
Colin wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Er wünschte, er hätte Zeit gehabt, seine Astronautenkollegin besser kennenzulernen.
»Sechzig Sekunden«, meldete Branson. »Booster, geben Sie mir einen letzten Status.«
»Alles bestens. Alle Systeme grün.«
Colin ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Das hieß noch nicht, dass der Ausstoßmechanismus auch die ganze Zeit über funktionieren würde. Eine einzige Fehlzündung zu dicht am Schiff, und die Hoffnung auf eine Zukunft war zunichte.
»Dreißig Sekunden.«
Ein kilometerhohes Schiff, das mit Atomexplosionen in den Himmel gebombt werden sollte.
Worauf haben wir uns bloß eingelassen?
Colin blickte zu dem großen, zweigeteilten Bildschirm an der Front des Raumes empor. Links war die prognostizierte Aufstiegsbahn abgebildet. Ein rotes Licht zeigte an, wo die Arche sich gerade befand. Auf dem Boden. Daneben ein Bild des Raumschiffes, aufgenommen von einer automatischen Kamera auf einem benachbarten Berggipfel.
Colin schüttelte den Kopf. Dieses Gebirge aus Stahl würde sich niemals in den Himmel erheben, egal, ob durch Raketen, Atombomben oder den Willen Gottes. Sie konnten nur scheitern.
»Finaler Countdown«, sagte Branson mit zitternder Stimme. »Zehn, neun, acht, sieben, …«
Bitte, bitte.
»Vier, drei, zwei, eins …«
Ein Licht, heller als tausend Sonnen, strahlte aus dem Panoramafenster und durchflutete den Raum. Es war so grell, dass Colin Mühe hatte, seine Konsole abzulesen. Der Bildschirm, der eben noch die Arche gezeigt hatte, war strahlend weiß. Dann fiel er komplett aus.
»Zündung Primärladung erfolgt«, verkündete Dyson. »Sprengkraft innerhalb des berechneten Rahmens.«
Colin drückte auf die Taste seines Mikros. »Arche, bitte kommen für Status.«
Er erhielt keine Antwort. Colin sah auf den Bildschirm der Flugbahnanzeige. Der rote Punkt war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Der Bildschirm, der eben noch die wichtigsten Statusanzeigen der Arche angezeigt hatte, war leer.
»Booster, Status«, forderte Branson.
»Ich habe den Kontakt zur Arche im Moment der Zündung verloren«, sagte Billings mit kläglicher Stimme. »Keine Telemetrie
vorhanden.«
Nichts. Keine Telemetrie, kein Sprechfunk. Colin sank tiefer in seinen Stuhl. Sie hatten versagt. Es war vorbei. Die Arche war in der Detonation der ersten Wasserstoffbombe verglüht.
Plötzlich erhellte ein weiterer Blitz den Raum. Er war etwas schwächer als der erste und kam von weiter oben. Wenn es nun eine weitere Atomexplosion gegeben hatte, dann konnte das nur eines bedeuten. Sein Herz tat einen Sprung.
»Ich registriere eine Explosion in fünfhundert Metern Höhe.« Dyson zeigte nicht die geringste Spur von Aufregung. »Genau zur berechneten Zeit und am berechneten Punkt der Flugbahn.«
Also war die Arche doch unterwegs und hatte ihre erste eigene Atombombe abgeworfen? Aber warum empfingen sie nichts?
»Flight, ich erhalte bruchstückhafte Telemetriedaten«, verkündete Billings atemlos. »Der Kontakt ist aber schwer gestört.«
Kurz blinkte ein rotes Signal auf dem Bildschirm der Flugbahnlage auf, war aber sofort wieder verschwunden, als es einen weiteren Blitz gab.
»Das ist der elektromagnetische Puls der Bomben«, sagte Dyson trocken. »Ihre Versager von Elektronikingenieuren haben die Kommunikationsverbindung nicht vernünftig abgeschirmt.«
Colin hieb wieder auf die Taste seines Mikrophons. »Arche, LCC
. Bitte kommen. Arche, meldet euch!«
Plötzlich ertönte ein Rauschen in seinem Kopfhörer, das schließlich durch eine helle Stimme ersetzt wurde. »LCC
, Arche.« Colin erkannte Tonja Dillingers Stimme. »LCC
, wir sind unterwegs. Ich wiederhole. Die Arche ist unterwegs. Flughöhe eins Komma fünf Kilometer und steigend.«
Es gab einen weiteren Blitz und die Stimme der Kommandantin war wieder weg. Dafür kehrten nach wenigen Sekunden die Zahlen auf Colins Bildschirme zurück. Einige Temperaturen und Drücke waren im gelben Bereich, aber stabil. Die Arche war gesund und wohlauf. Plötzlich kehrte der rote Punkt auf den großen Bildschirm zurück. Er befand sich in einer Höhe von dreißig Kilometern genau auf der hellblauen Kurve der Flugbahn. Er stieg schnell nach oben.
Geradewegs in den Weltraum!
Colin musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen, zu
klatschen und das Sternenschiff laut anzufeuern.