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»Mir
geht es nicht gut.« Mikels Stimme klang kläglich. »Ich glaube, ich muss mich übergeben.«
Pala wollte sich herumdrehen, da hörte sie schon ein würgendes Geräusch hinter sich. Ihr Vater erbrach sich vor der Wand. Sie hangelte sich bis zu ihm vor und hielt ihn am Oberarm fest, damit er nicht davonschwebte wie sein Mageninhalt. Toma war ein Stück vorausgeschwebt und nicht zu sehen.
Der beißende Gestank von Erbrochenem stieg in Palas Nase und ließ sie selbst würgen. Ihr war flau im Magen, seit sie den letzten Rest ihres Gewichtes verloren hatte. Gehen war nun nicht mehr möglich. Sie hangelten sich am Geländer weiter vorwärts. Hoffentlich hatte dieser seltsame Zustand der Gewichtslosigkeit nicht noch gefährlichere Auswirkungen auf den menschlichen Körper als Übelkeit. »Wird es denn gehen?«
Mikel stöhnte. »Ich habe wohl keine andere Wahl.«
»Wir sind gewichtslos, weil wir nun offenbar auf der zentralen Achse der Welt sind.« Toma war plötzlich wieder hinter Pala aufgetaucht. »Irgendwo hinter dem Nordpol.«
»Hinter dem Nordpol?«, wiederholte Pala. Toma hatte es zwar schon mal erwähnt, aber sie konnte es einfach nicht glauben, dass sie sich nun in der Nähe eines solch mystischen Ortes befand. Andererseits war sie hier im Untergrund der Welt, von dem niemals jemand auch nur gehört hatte.
Toma nickte. »Ich glaube, dass es nun nicht mehr weit bis zum Bug ist.«
»Hoffentlich können wir da endlich die Energie für die Klinik wieder einschalten«, sagte Mikel schwach. »Und hoffentlich werden wir von dort aus nicht schon wieder woanders hingeschickt.«
Pala nickte. Mikel würde nicht die Kraft für weitere Strecken haben. Der Bug war ihre letzte Chance.
Langsam und vorsichtig arbeiteten sie sich weiter am Geländer entlang. Pala fragte sich, wofür es hier überhaupt noch Stufen gab, die sie ja in ihrem gewichtslosen Zustand ohnehin nicht benutzen konnten.
Nach einer Weile kamen sie zu einer schweren Tür, die sich widerstandslos öffnete, als sie sich ihr näherten. Dahinter bog ein neuer Korridor nach links ab. Wieder gab es einen Wegweiser, der laut Toma zum Bug deutete.
Der neue Korridor war kreisrund, mit in den Boden eingelassenen Leitersprossen. Pala, die in der Mitte des Ganges schwebte, konnte gar nicht sagen, was hier Wände, was Decke und was Boden war. Ohne Gewicht machte es nicht den geringsten Unterschied.
Schon nach wenigen Minuten erreichten sie erneut eine Wand, in die eine Tür eingelassen war. Die bräunliche Farbe unterschied sich von der der bisherigen Luken. Ein Metallrad ragte aus der Tür heraus. Die gelbe Farbe blätterte bereits ab und darunter waren rostige Stellen zu sehen.
Ächzend drehte Toma an dem Rad, wobei er sich mit den Füßen an der Wand abstützte. Schließlich schwang die Luke nach außen. Wieder ein Korridor, aber der sah ganz anders aus als die zuvor. Die braune Farbe ähnelte dem Metall der Tür. Fugen waren zwischen den einzelnen Elementen zu erkennen, und statt der diffusen Leuchtelemente waren gelbe, blendende Lichter in die Wand eingelassen. Überall waren rostige Stellen zu sehen und ein eigenartiger, fast schon beißender Geruch nach Maschinen und Chemikalien stieg Pala in die Nase. Langsam schwebte sie über die Schwelle. Auf der anderen Seite der Luke war eine große bronzefarbene Plakette an der Wand angebracht.
»Was steht da?«, fragte sie Toma.
Er bremste ab, indem er sich an einer Leitersprosse festklammerte, schwang herum und betrachtete die Schrift.
»Sie betreten nun den alten Teil des Raumschiffes. U.S.S. Mayflower. Gebaut in Nevada. A.D. 2027
.«
»Was bedeutet das?«, fragte Pala.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Toma.
Pala fuhr mit dem Finger über die Buchstaben auf der Plakette. »Ich weiß zwar, was ein Schiff ist, aber was ist ein Raum
schiff? Und
was bedeuten diese Zahlen?«
»Ich weiß es nicht. Das Wort ›Nevada‹ habe ich auch noch nie gehört.«
»Lasst uns weitergehen.« Mikels Stimme klang schwach.
»Ob das hier nun der Bug ist?«, grübelte Pala.
»Wäre möglich«, erwiderte Toma. »Dann müsste hier irgendwo die Steuerzentrale sein.«
»Da ist eine Gabelung.« Mikel zeigte nach vorne. »Und da sind Schriftzeichen.«
Toma stieß sich ab und schwebte zu Mikel, um die Buchstaben zu untersuchen. »Tatsächlich.« Er grinste. »Da steht es. Steuerzentrale/Cockpit. Geradeaus.«
»Cockpit?«, wiederholte Pala.
Toma zuckte mit den Schultern und stieß sich von der Wand ab.
Pala schaute sich um.
»Wohin führen denn die anderen Gänge?«
»Auf dem linken Gang stand was von ›Observatorium‹ und auf dem rechten stand ›Messe‹.«
»Was auch immer«, murmelte Pala und folgte Toma.
Schon nach wenigen Augenblicken erreichten sie eine Luke.
»Was steht da?«, wollte Mikel wissen.
»Steuerzentrale/Cockpit«, antwortete Toma. »Also sind wir am Ziel.«
Im selben Moment fuhr die Tür mit einem lauten Zischen in die Decke und gab den Weg für sie frei.