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Pala
öffnete die Augen, nachdem Cortana ihren Bericht beendet hatte. Wie erwartet hatte sie das Gesagte nur bruchstückhaft verstanden. Aber die Kernpunkte waren ihr doch klar geworden. Dass die Welt der Vorväter eine ganz andere gewesen war, dazu viel größer und mit viel mehr Menschen. Dass bei der Flucht nur wenige Menschen überlebt hatten und die erste von den Erbauern geschaffene Welt kleiner gewesen war als Palas Welt jetzt.
»Erschütternd.« Mikels Blick traf sich mit dem von Pala.
»Der Proffes wird ganz schön Augen machen, wenn ich ihm diese Geschichte erzähle«, sagte Toma. »Er wird mich nie wieder schlagen.«
Pala hörte hinter sich ein lautes Zischen. Sie drehte sich herum und sah eine weiße Kugel in die Zentrale schweben. Sie war etwas größer als ein Menschenkopf und hatte das Symbol eines roten Kreuzes an der Seite. Das Ding summte laut. »Was ist das?«
»Das ist die Medo-Einheit mit dem Medikament«, antwortete Cortana.
Die weiße Kugel schwebte zu Mikel, der in seinem Sessel saß und das Ding skeptisch musterte.
»Bitte mache einen deiner Oberarme frei«, forderte Cortana ihn auf.
Mikel rollte den Ärmel seines Wamses nach oben. Aus der Kugel fuhr eine kleine Nadel heraus, die einmal kurz in Mikels Oberarm stach. Dann drehte sich das merkwürdige Gefährt in der Luft herum und verschwand, wie es gekommen war.
»Und ich bin jetzt geheilt?« Mikel starrte den roten Fleck auf seinem Oberarm an.
»Es dauert etwa drei Tage, bis die genetische Struktur der Vorläuferzellen im Knochenmark und somit die ordnungsgemäße Hämatopoese wiederhergestellt ist. In zwei Tagen wirst du kurzzeitig
hohes Fieber bekommen und dann sollte dein Blutbild innerhalb von weiteren drei Tagen wiederhergestellt sein. Es kann sein, dass du dich noch einige Wochen schwach fühlen wirst.«
»Damit kann ich leben.« Mikel lachte.
Pala schwebte zu ihm und umarmte ihn.
Dann stieß sie sich von seinem Sitz ab und schwebte zu Toma. Sie umarmte ihn auch und gab ihm einen langen Kuss auf den Mund.
Als sie ihn losließ, starrte er sie mit rotem Gesicht an. »Was …?« Seine Stimme versagte.
»Es tut mir leid. Ich hatte angenommen, du wärst eine Belastung auf der Reise, aber das Gegenteil war der Fall. Ohne dich hätten wir es niemals geschafft, und oft genug bist du vorausgegangen und hast uns geführt. Ich habe mich geirrt. Und das in vieler Hinsicht.«
Er schaute unsicher zu Boden und nickte. Das musste er gewiss erst einmal verdauen. Pala sah ihn mit völlig anderen Augen, als zu Beginn der Reise. Im Gegensatz zu vorher konnte sie sich Toma nun sogar als Partner vorstellen. Aber die Zeit würde zeigen, ob daraus etwas werden konnte.
»Sollen wir uns auf den Heimweg machen?«, fragte Mikel.
Pala nickte. »Ja, lasst uns nach Hause gehen.«
Plötzlich tönte ein lautes Piepen durch die Zentrale. Der ganze Raum begann zu zittern und dann wurde Pala von einer unsichtbaren Kraft in Richtung Tür geschoben. Sie prallte dagegen und stöhnte laut auf.
»Das ist der Ruck«, schrie Mikel.
Ihr Vater und Toma saßen zum Glück noch in ihren Sesseln, so dass Pala die Einzige war, die nach hinten geschleudert wurde.
Pala rollte sich auf der Tür, die so plötzlich zum Boden geworden war, auf den Rücken. Es würde nur ein paar Minuten dauern. Sie konnte förmlich den See sehen, wie er über die Ufer trat und die Felder überflutete.
Eine lange Zeit verging, in der weder Pala noch ihre Gefährten ein Wort miteinander wechselten. Dann war der Ruck vorbei und Pala schwebte wieder in der Zentrale. »Musste das denn ausgerechnet jetzt geschehen?«
»Besser jetzt als später auf der steilen Treppe nach unten«, sagte Toma.
»Kommt, gehen wir.« Pala öffnete die Tür.
»Augenblick«, stoppte Mikel sie. »Cortana, hast du den Ruck gerade auch gespürt?«
»Sicher. Ich habe die Triebwerke plangemäß gezündet, was eine vorübergehende Beschleunigung entlang der Längsachse zur Folge hatte.«
»Moment.« Mikel hob die Hand. »Du bist für den Ruck verantwortlich?«
»Sicher, die regelmäßige Zündung der Fusionstriebwerke zur Kompensierung der Bremswirkung des interstellaren Mediums wurde schließlich fest programmiert.«
Pala wusste, was Mikel als Nächstes fragen würde.
»Kannst du das abschalten?«
»Natürlich. Ich bin im Administratormodus.«
Mikel sah Pala triumphierend an. »Stellt euch mal vor. Wir werden als Helden zurück ins Dorf kommen. Wir müssen nie wieder in das Flutlager ziehen.«
Toma kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist. Vermutlich haben sich die Vorväter etwas dabei gedacht, als sie den Ruck vorsahen.«
Mikel schüttelte den Kopf. »Aber denkt euch, was wir alles erreichen können, wenn wir nicht mehr regelmäßig umziehen müssen. Wir können für immer im Dorf bleiben und mehr auf den Feldern anbauen. Wir können mehr Tiere züchten und werden nie wieder Hunger leiden. Wir könnten mehr Kinder kriegen, und unser Stamm könnte endlich wachsen.«
Mikel hatte recht. Es würde wundervoll werden, wenn sie endlich ein festes Dorf bauen konnten. Ein Leben ohne den Ruck würde alles erheblich vereinfachen. Pala war dennoch mulmig zumute, wie Gott in die Abläufe der Welt einzugreifen, die ihre Vorväter erschaffen hatten. »Ich habe es in der Geschichte nicht verstanden, aber offenbar haben sie einen Grund gehabt, den Ruck zu schaffen«, gab sie zu bedenken.
Wieder schüttelte Mikel den Kopf. »Vielleicht sollte es ja nur einen
Ruck geben, und nach der Pest konnte ihn niemand mehr abschalten.«
Toma schüttelte langsam den Kopf. »Nein, wir werden den Ruck
nicht abschalten.«
Mikel stieß sich von der Wand ab und stoppte erst dicht vor Toma, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten. »Ich bin der Älteste. Ich entscheide. Und ich sage, wir schalten den Ruck aus.«
Pala näherte sich den beiden und legte ihre Hand auf die Schulter ihres Vaters. »Wir hätten es niemals hierher geschafft, wenn Toma nicht mitgekommen wäre. Du solltest auf ihn hören.«
Toma erwiderte Mikels strengen Blick, ohne zurückzuweichen. »Ich werde der nächste Proffes. Sanes lehrte mich Umsicht und Vorsicht, und in nicht allzu ferner Zukunft ist es meine Aufgabe, solche Entscheidungen zu treffen. Bis dahin werden wir an der Technik der Vorväter nichts verändern, wenn wir uns nicht absolut sicher über die Konsequenzen unseres Handelns sind. Der Ruck bleibt angeschaltet. Das ist mein letztes Wort.«
Pala war völlig überrascht von ihm. In seiner Stimme lag eine Autorität, die der von Sanes in nichts nachstand.
»Wir haben in den letzten Tagen mehr über unsere Welt erfahren als jede Generation vor uns, seit wir in die Wälder geflüchtet sind«, fuhr Toma fort. »Wir wissen jetzt, dass uns in der Stadt keine Gefahr droht und die Geister nichts weiter als künstliche Helfer der Menschen sind. Wir werden sie uns zunutze machen und von ihnen lernen, bis unsere Kinder und Enkel wieder das volle Wissen der Vorväter haben und dann die Kontrolle über die Welt von den künstlichen Wesen zurückerlangen. Das ist unser Weg. Und nun gehen wir zurück zu unserem Stamm, um mit ihm unsere Erfahrungen zu teilen. Sanes und Bennu werden dann über die nächsten Schritte entscheiden.«
Nach einer Weile senkte Mikel den Blick. Er hangelte sich an der Wand entlang und verschwand dann draußen im Korridor. Toma seufzte, nahm seinen Rucksack auf und folgte ihm.
Pala schaute sich noch einmal um und sog die fremdartige Umgebung in sich auf, denn sie rechnete nicht damit, dass sie jemals wieder hierherkommen würde. Aus dem Augenwinkel sah sie die leuchtenden Punkte außerhalb des Fensters und unbewusst schüttelte sie sich. Pala wandte sich ab und hoffte, dass sie die Sterne nie wieder sehen musste.
ENDE