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Die Befreiung

Ich habe immer geglaubt, dass Gott mir nach den Jahren in der Hölle zu Hilfe eilen wird. Ich war am Boden zerstört, ich war untröstlich, und ich brauchte von irgendwoher Hilfe.

Die Torturen schienen einfach kein Ende nehmen zu wollen, und ich war völlig verzweifelt. Ich glaube, dass Gott dafür gesorgt hat, dass meine Pflegemutter krank wurde.

Eines Tages konnte sie nicht aus dem Bett aufstehen. Ich wurde losgeschickt, um den Arzt zu holen, damit er sie untersuchte. Schließlich kam er ins Haus und stellte seine Diagnose. Sie war ernsthaft krank, so krank, dass sie sofort ins Krankenhaus gebracht werden musste.

Als der Arzt wieder wegging, sagte er, er werde alles veranlassen, damit ein Rettungswagen sie abholen kommt. Mir riet er, dafür zu sorgen, dass ich woanders untergebracht wurde. Er schlug vor, ich solle mir jemanden suchen, der in der Lage war, mich für einige Wochen oder sogar Monate bei sich aufzunehmen. Dazu erklärte er mir, dass meine Pflegemutter wohl nicht in der Lage sein würde, sich angemessen um eine Zwölfjährige zu kümmern. Ich weiß noch, wie ich in dem Moment dachte: »Wenn du wüsstest, wie angemessen sie sich um eine Zwölfjährige kümmert!«

Ich dachte, ich müsste zu einer der Schwestern meiner Pflegemutter gehen. Sie hieß Nonie. Ich hatte sie einmal besucht, als ich ungefähr acht gewesen war. Dort gab es etwas, was ich im Haus meiner Pflegeeltern noch nie gesehen hatte: Bücher. Sie hatten Regale voll mit Büchern. Bei meinen Pflegeeltern im Haus gab es rein gar nichts zu lesen. Ich erinnere mich daran, dass mir erlaubt worden war, die Bücher in Nonies Haus zu betrachten. Das war das Einzige, was ich tun wollte, wenn ich dort war.

Die Schule hatte ich nur kurze Zeit besucht, aber wenn es irgendwie klappte, machte mir das Vorlesen am meisten Spaß. Im Buchstabieren war ich wirklich mies, aber ich konnte die Bedeutung der Wörter erfassen. Ich war auch in der Lage, die Geschichte zu verstehen, die in einem Buch geschrieben stand, auch wenn ich dabei gewisse Schwierigkeiten hatte. Ich hoffte insgeheim, dass ich zu diesen Leuten kommen würde, die diese vielen Bücher besaßen. Ich dachte, dann würde ich die ganze Zeit nur lesen können.

Aber durch den Trubel, der dadurch entstand, dass meine Pflegemutter ins Krankenhaus gebracht werden musste, wurde völlig vergessen, für meine anderweitige Unterbringung zu sorgen. Später am Abend wurde ich zum Priester gebracht. Ich bat ihn darum, mich nicht in dieses Haus zurückzuschicken, und ich erzählte ihm, warum ich solche Angst davor hatte, dorthin zurückzukehren. Über meine Klagen schien er einfach hinwegzuhören, aber wenigstens für diese Nacht brachte er mich zu einer Familie, die etwas weiter entfernt wohnte.

Ich war unglaublich erleichtert, dass ich die Nacht nicht in dem düsteren, erschreckenden Haus verbringen musste. Meine große Angst war, dass dann die gleichen Männer vorbeikommen würden wie an jedem anderen Abend. Bei der Familie, bei der ich unterkam, fühlte ich mich etwas unbehaglich. Aber ich dachte, wenn ich bei der Hausarbeit helfe, würde mich die Familie vielleicht nicht wieder wegschicken. Als einer der Söhne mich bat, mit ihm aufs Feld zu gehen, um ihm bei den Schweinen zu helfen, stand ich sofort auf und ging vor ihm her nach draußen. Auf dem Weg zu den Schweinen sagte ich kein Wort, weil ich Angst vor dem Sohn hatte, der so groß war und auch älter als ich. Es wurde düster, als wir uns vom Haus entfernten. Sehen konnte ich den Schweinestall nicht, aber ich wusste, wir waren fast dort. Plötzlich bekam ich einen Stoß verpasst und fiel hin. Dann packte er mich und drehte mich auf den Rücken. Eine Hand drückte er mir fest auf den Bauch, damit ich mich nicht rühren konnte. Er schob mein Kleid hoch und versuchte, mir den Schlüpfer auszuziehen. Ich konnte mich nicht rühren. Ich gab keinen Laut von mir. Ich wusste, was geschehen würde. Er hatte einen stechenden Blick, der mich förmlich erstarren ließ. Er ächzte und wand sich, und schließlich drang er in mich ein. Ich musste mir auf die Lippe beißen, weil ich nicht vor Schmerzen aufschreien wollte. Dann war es vorbei, und er rollte sich zur Seite.

Ich bewegte mich immer noch nicht, während er aufstand, seine Hose hochzog und sich wegdrehte. Im Weggehen rief er mir zu: »Du bist erst elf, richtig? Du kannst noch keine Kinder kriegen, nicht wahr?«

Ich lag im nassen Gras, meine nackten Beine immer noch gespreizt. Ich zitterte vor Kälte, aber ich wagte nicht, mich zu bewegen. Ich hatte Angst davor aufzustehen. Er irrte sich, was mein Alter anging, aber der Rest stimmte. »Ja«, murmelte ich nur, dann herrschte Stille, da er zum Haus zurückging.

Am nächsten Tag holte mich der Priester ab und sagte mir, dass ich bei einer Nichte meiner Pflegemutter unterkommen würde. Dort sollte ich bleiben, solange meine Pflegemutter im Krankenhaus lag. Letztlich blieb ich gut sechs Wochen dort.

Es gefiel mir dort.

Ich bekam zu essen, ich hatte nie Hunger. Wann immer ich wollte, konnte ich mir etwas zu essen aus dem Schrank nehmen. Zu Hause hatte ich nur dann etwas essen dürfen, wenn meine Pflegemutter mir etwas gab. Als mir klar wurde, dass ich essen konnte, so oft und so viel ich wollte, gab es für mich kein Halten mehr. Ich aß mehr und mehr und nutzte jede sich bietende Gelegenheit dazu. Sie hatten so leckere Sachen da, und die Frau des Hauses war eine sehr gute Köchin. Sie backte alle möglichen Kuchen – Apfelkuchen, Rhabarberkuchen. So etwas Leckeres hatte ich noch nie gegessen. Aber ich weiß, dass sie niemals erwartet hätten, dass ein junges Mädchen so viel und so oft essen würde.

Abends sprachen sie ein Gebet und wollten, dass ich mich ihnen anschließe. Zuerst konnte ich nicht mitbeten, da ich den Text nicht kannte. Aber sie brachten ihn mir bei, und weil wir ihn Abend für Abend wiederholten, lernte ich das ganze Gebet.

Es gefiel mir wirklich sehr, in die Familie einbezogen zu werden.

Die Gebete wurden laut gesprochen, und jeder kniete vor einem Stuhl auf dem Boden und hielt den Kopf gebeugt. Man sollte nicht nach links und rechts sehen, aber ich wagte oft einen Blick zur Seite, weil ich sehen wollte, was die anderen machten, während sie beteten. Ich konnte sehen, dass sie wirklich ernsthaft in ihre Gebete vertieft waren, die sie abwechselnd sprachen.

Als ich an der Reihe war, betete ich ganz laut, und niemand ermahnte mich, dass ich das nicht tun sollte.

In der Zeit besuchte ich die örtliche Schule in Knocklong, County Limerick. Die Lehrerin war sehr nett zu mir. Sie nahm sich Zeit, um mir einige Gedichte beizubringen, und sie half mir auch beim Lesen und Rechnen. Ich machte auch erste Schreibübungen. Ich war zwölf Jahre alt, als ich mein erstes Wort schreiben konnte. Es war mein Name, Celine. Es stand sehr krakelig auf dem Papier, aber ich hatte es ganz allein geschrieben. Ich war so stolz, dass ich auf einmal schreiben konnte. Ich wusste, ich wollte weiter zur Schule gehen und lernen.

Allmählich begann ich zu begreifen, dass es ein besseres Leben gab als das, das ich führte. Und genauso fing ich an zu verstehen, dass alles das, was ich in meinem Leben für normal gehalten hatte, für andere Menschen keineswegs normal war.

Eines Tages erfuhr ich, dass meine Pflegemutter aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte. Die Frau des Hauses sagte mir, ich müsse nun ins Haus meiner Pflegemutter zurückkehren und mich um sie kümmern. Sie erholte sich zwar von ihrem Krankenhausaufenthalt, musste aber ständig versorgt werden.

Ich war am Boden zerstört.

Ich konnte es nicht fassen, dass man mich zu meiner Pflegemutter zurückschickte. Und ich konnte nichts dagegen unternehmen. Ich war völlig machtlos.

Gleich am nächsten Tag wurde ich mit dem Fahrrad zu dem verhassten Haus zurückgebracht. Ich konnte mich nicht mal von den anderen in der Schule verabschieden.

Als ich meine Pflegemutter sah, entpuppte sie sich als gebrechliche alte Frau, die im Bett lag. Sie war nur ein fahler Schatten ihrer selbst. Heute kann ich es kaum nachvollziehen, doch damals tat sie mir in dem Moment leid. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass sie gar nichts bereute. Sie mochte krank gewesen sein, doch jetzt, als bettlägerige Frau, war sie wieder genauso biestig wie zuvor – vor allem, was ihre Einstellung mir gegenüber anging.

Sie war der Ansicht, dass es meine Aufgabe war, sie ab sofort von vorn bis hinten zu bedienen. Mit Blick darauf, dass mir so oft gesagt worden war, dass mich niemand wolle und ich auch zu nichts zu gebrauchen sei, tat ich genau das, was mir gesagt worden war. Ich begann mich um meine Pflegemutter zu kümmern und motivierte mich, so gut ich eben konnte.

Nachdem meine Pflegemutter aus dem Krankenhaus zurück war, kamen die Männer, mit denen sie befreundet war, nicht mehr so oft vorbei. Weder konnte sie Alkohol trinken, noch war sie in der Lage, länger als eine Stunde das Bett zu verlassen. Sie war sehr schnell wieder erschöpft, ihr fehlte das nötige Durchhaltevermögen, und sie hatte Schwierigkeiten beim Atmen. Auch wenn ich mich die ganze Zeit um meine Pflegemutter kümmern musste, war das immer noch um Längen besser, als die sexuellen Triebe der Männer zu befriedigen, die sich in den letzten sechs Jahren in diesem Haus aufgehalten hatten.

Meine Pflegemutter blieb auch weiterhin bettlägerig, und Ende 1961 musste sie abermals ins Krankenhaus, was meine Rettung sein sollte. Zwar hatte ich in diesem Augenblick keine Ahnung davon, aber es sollte das letzte Mal sein, dass ich meine Pflegemutter lebend sah.

Ich würde nie wieder einen Fuß in dieses Horrorhaus setzen müssen.

Es war das Ende eines Lebensabschnitts, in dem es für mich nie etwas zu lachen gegeben hatte. Ich dachte, dass ich vielleicht auch das Weinen würde aufhören können, obwohl ich meinen Tränen ohnehin fast nur dann freien Lauf ließ, wenn ich allein war. Weinte ich in Gegenwart anderer, war immer jemand da, der mich anherrschte: »Hör auf zu heulen.«

Üblicherweise erwiderte ich dann: »Ich heule nicht, meine Augen tränen nur.«

Es war das Ende eines Lebensabschnitts, aus dem vor allem Erinnerungen überdauert haben, die sich um zerfetzte Kleidung und meinen übel zugerichteten Körper drehten. Was ich anzuziehen hatte, stammte alles aus zweiter Hand, ich bekam es schmutzig, und es wurde auch danach nie gewaschen. Wenn die Sachen nicht schon kaputt waren, wenn ich sie bekam, wurden sie spätestens von einem der Männer in Fetzen gerissen, die sich an mir vergehen wollten.

Ich wurde zu einer anderen Nichte meiner Pflegemutter gebracht. Ihr Name war Kit. Sie führte ein glückliches Leben und lebte mit ihrem reizenden und mitfühlenden Ehemann Tony in dem kleinen Städtchen Buttevant im County Cork. Sie selbst hatten keine Kinder, und Kit sollte das werden, was in meinem Leben einer Mutter am nächsten kam.

Das Erste, was sie zu mir sagte, waren die Worte: »Du wirst niemals in dieses Haus der Schande zurückkehren.« Von diesem Moment an waren wir beide eng miteinander verbunden.

Sie besaßen einen kleinen Bungalow, der makellos sauber und schön eingerichtet war. Es gab dort all den modernen Komfort, den ich bislang nicht gekannt hatte. Sie hatten Strom, fließendes Wasser, eine Toilette und einen Rayburn-Ofen, der das ganze Haus warm zu halten schien.

In diesem Haus lernte ich, mich richtig zu waschen. Es gab heißes Wasser, für das der Rayburn-Ofen sorgte und das aus jedem Hahn kam. An dem ersten Abend konnte Kit nur ungläubig den Kopf schütteln, als sie Stellen an meinem Körper wusch, die wahrscheinlich mein Leben lang noch nie Wasser gesehen hatten. Sie zeigte mir, wie man sich richtig wäscht. Aber sooft ich das seitdem auch getan habe, kommt es mir so vor, als könnte ich mich niemals vollständig von dem Dreck befreien, mit dem ich in diesen finsteren Zeiten in Berührung gekommen war.

Es war Ende Dezember, Weihnachten stand unmittelbar bevor. Als ich das erste Mal ihr Haus betrat, konnte ich nicht glauben, was ich da sah. Vor Staunen blieb ich stehen, ich bekam den Mund nicht mehr zu, und mir stockte der Atem. Noch nie zuvor hatte ich etwas so Schönes zu sehen bekommen.

Was da vor mir stand, war mein erster Weihnachtsbaum. Er war mit unzähligen silbernen und goldenen Kugeln behängt, außerdem hingen kleine silberne Glöckchen und silberne Ketten an den Zweigen. Das Beste von allem war gut ein Dutzend Kerzen, die immer wieder an- und ausgingen. Für mich war dieser Anblick Magie pur.

Nachdem sie mir zu essen gegeben hatten, wurde ich ins Bett gebracht – ein riesiges Doppelbett, das ich ganz für mich allein hatte. Ich rechnete damit, dass noch irgendwer dazukam, mit dem ich das Bett teilen sollte, aber es war ausschließlich für mich gedacht.

In dieser ersten Nacht bekam ich kein Auge zu, weil ich viel zu aufgeregt war. Ich dachte, ich bin im Himmel gelandet.

Kit und Tony waren sehr nett zu mir.

Am nächsten Tag fuhren sie mit mir in ihrem Wagen nach Limerick City, dort gingen wir in ein großes Kaufhaus, wo sie mir neue Schuhe und Strümpfe kauften. Die Schuhe waren cremefarben, die Strümpfe blau. Es war das erste Mal, dass ich neue Schuhe und Strümpfe gekauft bekam, die noch niemand vor mir getragen hatte. Bis zu diesem Tag hatte ich immer nur getragen, was andere abgelegt und gespendet hatten.

Ich liebte es, von der Verkäuferin im Kaufhaus so zuvorkommend behandelt zu werden. Sie nannte mich »kleine Lady« und ließ mich ein Paar nach dem anderen anprobieren, bis ich die Schuhe gefunden hatte, die mir wirklich gefielen.

Ich war völlig überwältigt. Es war das erste Mal, dass ich wählen durfte. Bis dahin hatte mich niemand gefragt, was ich wollte. Meine Wünsche und Bedürfnisse waren nie von Belang gewesen. Es fiel mir schwer, diese Geste zu schätzen. Eine solche Rücksichtnahme war mir bis dahin kaum einmal begegnet, und es war ein Konzept, das mir mein Leben lang fremd bleiben sollte – und es bis heute auch geblieben ist.

An diesem Weihnachtsfest ließen Kit und Tony einen Fernseher in ihrem Haus anschließen. Ich war noch nie im Kino gewesen und hatte deshalb noch nie ein Bild gesehen, das sich bewegte. Die Ankunft eines Fernsehers im Haus war im ersten Moment beängstigend. Ich begegnete dem Gerät mit Argwohn. Mir missfiel die Vorstellung, mich in einem Zimmer mit einem Kasten aufzuhalten, in dem kleine Leute lebten. Allerdings gewöhnte ich mich recht schnell daran, und schon bald wollte ich den ganzen Tag fernsehen. Das Programm begann aber erst um sechs Uhr abends. Sie schalteten den Fernseher eine Stunde früher ein, dann saßen wir da und betrachteten das Testbild, während die immer gleiche Musik gesendet wurde. Das war alles sehr aufregend.

An Heiligabend gingen wir zur Mitternachtsmesse in die örtliche Kirche. Als wir wieder zu Hause waren, blieb ich noch eine Weile auf und half bei der Füllung für den Truthahn mit, den wir am nächsten Tag essen würden. Ich hatte noch nie so viel Essen gesehen, das nur für drei Leute gedacht war.

Ich legte mich schlafen und fühlte mich so glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben. Früh am nächsten Morgen versammelten wir uns vor dem Weihnachtsbaum, und Kit verteilte die Geschenke an Tony und mich. Tony bekam nur ein Geschenk, alle anderen waren für mich. Ich muss so ungefähr sieben Geschenke bekommen haben.

Ein blauer Rock.

Dann ein Satz Taschentücher.

Und eine rosa Strickjacke.

Und verschiedene Sorten Schokolade.

Und noch mehr Süßigkeiten.

Und eine Mütze, eine Art Barett.

Das Schönste von allem aber war eine Handtasche, ziemlich klein und braun. Und in einer Ecke stand in Goldschrift mein Name, Celine. Diese Tasche liebte ich über alles.

Einmal mehr kam ich mir so vor, als wäre ich im Himmel gelandet.

Diese Leute machten mir so viele Geschenke und gaben mir innerhalb kürzester Zeit das Gefühl, bei ihnen willkommen zu sein. Beide waren sehr nett zu mir. Selbst wenn mir ein Missgeschick unterlief wie einmal, als jemand Kit eine hübsche Haarbürste schenkte und ich mich versehentlich draufsetzte, sodass der Griff abbrach. Sie war zwar wütend und fauchte: »Von da ist noch nie was Gutes gekommen.« Damit war das Haus meiner Pflegemutter gemeint gewesen. Ich hatte Angst, aber ich wusste, sie würde mir verzeihen. Ich wurde auch nicht von ihr geschlagen.

Doch aus den wenigen Jahren Erfahrung, die ich in meinem Leben gesammelt hatte, wusste ich, dass ich von niemandem wirklich viel erwarten durfte. Bedauerlicherweise sollte sich diese Erkenntnis bewahrheiten, und meine Welt lag einmal mehr in Trümmern vor mir.

Gut drei Monate nach Weihnachten sagten Kit und Tony zu mir, dass sie mit mir reden wollten. Also setzten wir uns eines Abends in der Küche an den Tisch. Ich trank eine Tasse von Kits starkem süßen Tee und wollte mich gerade über den Biskuitkuchen mit Marmelade hermachen. Ich hatte einen Bissen im Mund, da erklärten sie mir, dass ich nicht länger bei ihnen bleiben könne.

Für mich ging die Welt unter.

Ich konnte das Stück Kuchen nicht mehr schlucken, und die Teetasse knallte auf den Tisch, da mein Arm nicht länger die Kraft besaß, um sie zu halten.

Alle Energie wich aus meinem Körper, ich konnte nicht mal einen Ton sagen. Ich war nicht mal in der Lage, ein »Warum?« rauszubringen.

Sie erzählten mir, dass meine Pflegemutter inzwischen gestorben war. Zur Beerdigung bin ich nicht gegangen, Kit hatte mir zu dem Zeitpunkt nichts davon gesagt. Ich erinnere mich noch genau an ihre Worte: »Ich bin mir sicher, dass du es nicht als Verlust empfindest.« Und trotzdem redeten wir beide von ihrer »Mutter«, weil sie auch Kit großgezogen hatte.

Sie sagten mir, dass ich zu viel Unterricht versäumt hatte und dass ich wieder zur Schule gehen müsse, weil das Gesetz es so wollte. Sie sagten, sie hätten keine andere Wahl, und sie könnten mich nicht bei sich behalten. Sie sprachen davon, dass ein Nachbar schon vor Monaten eine Beschwerde gegen meine Pflegemutter bei der ISPCC (Irish Society for the Prevention of Cruelty to Children, sinngemäß »Irische Gesellschaft zur Verhinderung von Brutalität gegenüber Kindern«) eingereicht hatte wegen der »Vorgänge« in ihrem Haus. Mich mussten sie jetzt wegschicken. Der sogenannte Cruelty Officer von der ISPCC (eine Art Kontrolleur bei mutmaßlichen Fällen von Gewalt gegen Kinder) hatte im Lauf des Tages angerufen und mitgeteilt, dass er am nächsten Tag herkommen und mich zur Schule bringen würde.

Als sie mir das sagten, spürte ich, wie ich mich innerlich abkapselte. Ich kannte diese Schmerzen. Mein Selbstschutz bestand darin, jeglichen Schmerz abzuschotten. Ich weinte nicht, und ich entgegnete auch nichts. Ich ging einfach zu Bett und legte mich hin. Als ich versuchte zu schlafen, konnte ich hören, dass Kit meine Kleider bügelte und meine wenigen Habseligkeiten zusammenpackte. Irgendwann schlief ich ein.

Am nächsten Morgen stand ich auf und wusch mich gründlich. Kurz nach dem Frühstück, das wir schweigend zu uns nahmen, kam der Cruelty Officer von der ISPCC und holte mich ab. Trotz der Tränen auf allen Seiten nahm er mir die einzigen Menschen in meinem Leben weg, die gut zu mir gewesen waren.

Jahre später erfuhr ich, dass Kit die uneheliche Tochter der Schwester meiner Pflegemutter war. Sie war eine liebe Frau, die selbst genug Stress im Leben gehabt hatte, war sie doch mit dem Stigma behaftet, ein uneheliches Kind zu sein. Als ich das herausfand, dämmerte mir, dass sie entweder nicht willens oder nicht in der Lage gewesen war, mich zu adoptieren. Wegen ihres eigenen Status konnte sie kein uneheliches Kind adoptieren, weil dann ihre eigene Vergangenheit ans Licht gekommen wäre und alle Nachbarn davon erfahren hätten. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, mich großzuziehen, wenn gleichzeitig ihre ganze Welt zusammengebrochen wäre. Ich hätte einfach zu viel Aufmerksamkeit auf sie gelenkt.

Als wir von Kits Haus wegfuhren, hatte ich große Angst. Mir war nur gesagt worden, dass ich eine Schule besuchen würde, mehr nicht. Ich fragte den Cruelty Officer: »Wohin bringen Sie mich?«

»Nach Kilmallock, damit du da vor Gericht erscheinen kannst«, erwiderte er.

Sofort brach ich in Tränen aus.

Der Cruelty Officer war ein elegant gekleideter Mann mit Sportjackett und heller Hose. Er war ein kühler, ernster Mann. Ich hatte das Gefühl, dass er mich nicht leiden konnte, da er in keiner Weise versuchte, mir meine Angst zu nehmen.

Ich hatte noch nie vor Gericht gestanden, aber soweit ich wusste, kam nie etwas Gutes dabei heraus, wenn man vor Gericht erscheinen musste. Ich dachte, man würde mich ins Gefängnis stecken.

Immer wenn das Wort »Gericht« irgendwo gefallen war, hatte es bedeutet, dass irgendwer ins Gefängnis geschickt wurde. Mein spärliches Wissen hatte ich von den vielen Männern, die immer meine Pflegemutter besucht hatten. Manche von ihnen waren zwielichtige Typen, die oft von Richtern und Gerichten und von Urteilen erzählt hatten, die mit Gefängnisstrafen zu tun gehabt hatten.

Während der ganzen Fahrt schluchzte und heulte ich. Ich wusste, wenn jemand etwas Verkehrtes getan hatte, wurde er vor Gericht gestellt. Ich wusste, wenn man ins Gefängnis kam, musste das zuvor von einem Richter an einem Gericht bestimmt worden sein.

An dem Morgen war ich in heller Aufregung. Ich konnte mir nicht erklären, was ich verkehrt gemacht haben sollte. Alle schlimmen Dinge, die ich getan hatte, gingen mir durch den Kopf. Aber ich dachte auch, dass es sich um etwas richtig Schreckliches handeln musste, was ich in letzter Zeit angestellt hatte. Wenn ich vor Gericht musste, weil es um etwas ging, was ich schon vor langer Zeit gemacht hatte, warum war ich damals nicht abgeholt worden?

»Nein«, sagte ich mir. »Es muss etwas sein, was ich in letzter Zeit getan habe.« Aber da war doch gar nichts.

Kit hatte mir all meine neuen Sachen angezogen. Ich trug meine cremefarbenen Schuhe und die blauen Socken, die sie mir vor Weihnachten gekauft hatten. Also konnte es mit meiner neuen Kleidung nichts zu tun haben. Ich hatte auch die Lederhandtasche, in die mein Name eingeprägt war, damit jeder sehen konnte, dass sie mir gehörte.

Dann fiel mir etwas ein. Die einzige schlechte Sache, die ich verbrochen haben konnte, war die, dass ich bei Kit und Tony zu Hause zu glücklich gewesen war. Auf dem Rest der Fahrt schluchzte ich unablässig und flehte Gott an, mir zu verzeihen, was ich getan hatte. Ich versprach ihm, wenn er dafür sorgte, dass ich nicht ins Gefängnis gesteckt wurde, dann würde ich niemals wieder glücklich sein.

Endlich kamen wir in Kilmallock an. Der Cruelty Officer fuhr mit dem Wagen so dicht wie möglich an das Haupttor des Gerichtsgebäudes heran. Dann stieg er aus, schlug die Fahrertür zu und lief um den Wagen herum. Er machte meine Tür auf und legte seine Hand so fest um meinen Oberarm, dass es mir wehtat. Dann zerrte er mich grob vom Sitz. Aus meinem Schluchzen wurden Schmerzensschreie. Tränen liefen mir über die Wangen.

Vor dem Gerichtsgebäude standen vier oder fünf Grüppchen zusammen, die sich alle in meine Richtung umdrehten, weil sie wissen wollten, woher der Lärm kam. Ich wurde von dem Mann die Treppe hochgeschleift, der meinen Oberarm in einem stählernen Griff hatte. Ich schrie und schluchzte in einem fort. Ich hatte das Gefühl, der schlechteste Mensch der Welt zu sein. Ich war der Meinung, dass ich jede Bestrafung verdient hatte, die mir zuteilwerden würde. Ich dachte: »Mir kann jetzt nur noch das Schlimmste passieren.«

Der Cruelty Officer hielt meinen Arm noch fester und zog mich hoch, sodass ich in der Luft hing, als er mit mir das Gerichtsgebäude betrat. »Kannst du aufhören zu schreien?«, herrschte er mich an. »Dir wird nichts passieren.«

Das waren die ersten und auch die einzigen Worte aus dem Mund dieses Mannes, die mir einen Hauch von Trost spenden konnten. Aber überall um uns herum hielten sich Polizisten auf, und ich sah nichts anderes auf mich zukommen als eine lange Gefängnisstrafe. Die Strafe, die ich für das Verbrechen verbüßen musste, dass ich glücklich gewesen war.

In aller Eile lief er mit mir die Treppe wieder runter und dann um das Gebäude herum, das wir schließlich durch einen Seiteneingang betraten. Dahinter befand sich ein Büro, vier Polizisten standen um einen Schreibtisch herum, am Tisch saß ein Mann, der vor sich ein großes Buch liegen hatte. Ein so riesiges Buch hatte ich noch nie gesehen.

Der Cruelty Officer zeigte auf einen leeren Stuhl hinter dem Mann am Schreibtisch und sagte zu mir: »Setz dich auf den Stuhl und rühr dich nicht einen einzigen Millimeter. Und gib auch keinen Laut von dir. Wenn du auch nur mit einem Muskel zuckst oder einen Pieps verlauten lässt, werden diese vier Polizisten dich festnehmen, in eine Zelle stecken und den Schlüssel wegwerfen. Stimmt's, Leute?«

»Das stimmt«, erwiderte einer der Polizisten und bestätigte die Worte des Cruelty Officer.

Vier Stunden lang saß ich da, bewegte keinen Muskel und gab keinen Laut von mir. Ich musste zur Toilette, aber ich wagte nicht, das zu sagen. Schließlich konnte ich nicht länger einhalten, also ließ ich den Inhalt meiner Blase nach und nach an meinem Bein entlanglaufen und vom Stuhl tropfen. Ich war in Panik, dass jemand etwas davon bemerken könnte.

Der Cruelty Officer war weggegangen, die Polizisten waren in eine Diskussion mit dem Mann am Schreibtisch vertieft. Während sie über Gewalttaten, Lizenzen für Schankbetriebe, Fahrräder ohne Licht, Lastwagen, für die keine Steuer bezahlt worden war, über Traktoren ohne weiße Lichter, über Trunkenheit in der Öffentlichkeit und Randalierer redeten, bemerkte keiner von ihnen das Rinnsal aus Urin, das sich seinen Weg unter dem Schreibtisch hervor in Richtung Tür und dort zum Büro hinaus in die Freiheit bahnte.

Irgendwann am Nachmittag kam mein Cruelty Officer zurück in das Büro. Er ging auf mich zu und sagte: »Komm mit, schnell. Du bist bald dran.«

In diesem Tonfall angesprochen zu werden war für mich etwas ganz Alltägliches, also sprang ich von meinem Stuhl, um den Mann nicht warten zu lassen. Besser gesagt: Ich versuchte von meinem Stuhl zu springen. Da ich aber über Stunden hinweg keinen Muskel bewegt hatte, fühlte es sich an, als würde ich am Sitz festkleben. Als ich mich vorbeugte, kippte der Stuhl mit mir nach vorn. Der Schweiß an der Unterseite meiner Oberschenkel ließ mich tatsächlich am Stuhl kleben. Die Rückenlehne schlug mir gegen die Schultern, und ich fiel mit dem Stuhl zusammen auf den Boden. Da ich Halt suchte, stieß ich einen Füllfederhalter mitsamt Tintenfässchen um – einem großen, schweren Tintenfässchen aus Bleikristall, randvoll mit blauer Tinte, die sich auf den ordentlich polierten braunen Schuhen und der beigefarbenen Hose des Cruelty Officer verteilte.

Vor Schreck machte er einen Satz in die Luft, als hätte ihm jemand Schwefelsäure auf die Schuhe gekippt. »Meine Schuhe sind ruiniert! Und sieh dir nur meine Hose an!«, brüllte er aufgebracht.

Zwei der Polizisten und der Mann am Schreibtisch lachten von Herzen über das Pech des Cruelty Officer.

»Ach, kommt schon, Leute«, stöhnte er und streckte die Arme aus, als flehte er die Männer um etwas Mitgefühl an.

Diese offenbar vergnügliche Episode hatte die Laune der Polizisten spürbar gebessert. Für mich war allerdings klar, dass ich jetzt erst recht für alle Zeit ins Gefängnis wandern würde.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, zerrte der durch die Tintenflecken in Verlegenheit gebrachte Cruelty Officer mich aus dem Büro und drückte mich gegen die Wand des Gerichtsgebäudes.

Ich fing wieder an zu weinen.

»Halt den Rand und hör mir zu!«

Ich wurde nur noch lauter.

»Wenn der Richter dir eine Frage stellt«, redete er auf mich ein, »dann antwortest du: ›Ja, Euer Ehren.‹ Hast du das verstanden?«, fragte er.

Ich wollte bejahen, aber ich bekam keinen Ton raus, weil ich so laut schluchzte.

»Ob du verstanden hast?«, brüllte er.

»Ja, Euer Ehren«, gab ich völlig arglos zurück.

»Du kommst dir wohl komisch vor, wie, Kleine?«, fauchte er.

Ich schüttelte den Kopf, konnte aber immer noch nichts sagen.

»Jetzt hör auf zu weinen, denn wir sind gleich mit deinem Fall an der Reihe.«

Ich verkniff mir die Schluchzer und ging mit ihm nach oben zum Gerichtssaal. Der war so riesig, dass ich nur staunen konnte. Überall waren Männer. Männer in Anzügen. Männer hinter Schreibtischen. Und jede Menge Polizisten. Ein Mann in einer schwarzen Robe saß auf einem erhöhten Podest. Es sah aus, als hätte er eine kleine Lockenperücke auf dem Kopf.

Diesem Mann zugewandt setzte ich mich neben den Cruelty Officer an einen Schreibtisch. Dabei sagte der Cruelty Officer zu mir: »Das ist der Richter.«

Ich saß da, von meiner Umgebung wie verzaubert.

Ein Mann stand auf und rief mit lauter Stimme: »Der Staat gegen Clifford.«

Zu dem Zeitpunkt hatte das für mich keinerlei Bedeutung. Es war erst das zweite Mal in meinem Leben, dass ich den Namen Clifford hörte. Ich kannte mich nur als Celine O'Brien.

Der Cruelty Officer nahm mich an der Hand und führte mich zum Richter. Ich musste mich in den Stand rechts vom Richter hinstellen, wo ich den Leuten im Saal zugewandt war. Ich konnte allerdings kaum über die Oberkante dieses Stands hinwegsehen. Ich war allen Leuten zugewandt, sie sahen mich alle an. Ich war vor Angst wie gelähmt und versuchte, mich hinter die Umrandung zu ducken, damit mich niemand sehen konnte.

Jahre später bekam ich eine Abschrift der Beschwerde nach dem Gesetz zum Schutz der Kinder 1908 – 1941 zu sehen. Dort stand vermerkt: »Antrag, Celine Clifford auf eine staatlich anerkannte Arbeitsschule zu schicken, die vor dem Gericht als ein Kind von weniger als fünfzehn Lebensjahren erschienen ist und die – soweit feststellbar – am 14. November 1948 geboren wurde und in Ballyculhane, Kilmallock, lebt. Grund dafür ist, dass festgestellt wurde, dass es aktuell weder einen Elternteil noch einen Vormund gibt, der als Erziehungsberechtigter tätig werden kann.«

Während ich mich weiter heimlich im Gerichtssaal umschaute, wurde mir bewusst, dass der Richter, der Cruelty Officer und viele andere Männer über mich, meine Pflegeeltern, meine Schule und zahlreiche andere Aspekte meines Lebens diskutierten. Ich verstand nicht so richtig, um was es dabei ging, aber ich wünschte mir sehr, ich müsste nicht dort sein.

Damals dachte noch niemand daran, die Aussage eines Kindes auf Tonband aufzunehmen oder zu filmen, um ihm zu ersparen, vor einem Saal voller Leute noch einmal all die traumatischen Dinge zu durchleben, die es schildern musste.

Auf einmal hörte ich: »Und jetzt zu dir, junge Dame. Wie ist dein Name?« Ich sah zu meinem Cruelty Officer und flehte insgeheim, von ihm irgendeinen Hinweis zu bekommen, was ich tun sollte.

Er nickte mir zu, als sollte ich die Frage beantworten.

»Ja, Euer Ehren«, brachte ich irgendwie raus.

Der Cruelty Officer verdrehte die Augen.

»Wie lautet dein Name, junge Dame?«, herrschte der Richter mich an.

Seine Stimme schallte durch den Saal, er klang so ernst, dass ich vor Angst erstarrte. »Celine O'Brien«, brachte ich heraus, doch meine Stimme war so leise, dass sie kaum zu hören war.

»Sprich lauter, ich kann dich nicht hören«, forderte der Richter mich auf, der verärgert klang. Ich hatte solche Angst, dass meine Kehle wie zugeschnürt war und ich keinen Ton rausbekam.

Wieder sah ich den Cruelty Officer an und hoffte, er würde mir helfen. Aber er hatte eine Hand vor den Mund gelegt und starrte zur Decke. Mir wurde klar, dass ich auf mich allein gestellt war.

»Celine O'Brien, Sir«, rief ich dem Richter entgegen, so laut ich konnte.

»Was hat denn das zu bedeuten?«, wollte der wissen und sah sich fragend im Saal um.

Der Cruelty Officer sprang von seinem Platz auf und rief: »Nein, nein, Euer Ehren, ihr Name ist Clifford. Celine Clifford. Der Name ihrer Pflegeeltern war O'Brien.«

Wieder kam Unruhe auf. Ich nahm an, es hatte damit zu tun, dass ich den Richter so angebrüllt hatte, und ich war mir sicher, dass mich schrecklicher Ärger erwartete.

Während des ganzen Hin und Her fiel mir eine große, schmale Frau in einem beigefarbenen Mantel auf, die weiter hinten im Gerichtssaal stand. Sie schien das ganze Geschehen mit großem Interesse zu verfolgen. Ich versuchte, ihren Blick auf mich zu lenken, aber sie vermied es, mich anzusehen. Nur einmal gab es einen ganz kurzen Blickkontakt, und dabei lächelte sie mir flüchtig zu.

Kannte ich sie? Kannte sie mich? Wer war sie? Warum war sie hier?

Meine Aufmerksamkeit wurde zurück zu den Geschehnissen im Saal gelenkt, noch bevor mir eine Antwort auf all diese Fragen in den Sinn kommen wollte. Man einigte sich darauf, dass mein Name tatsächlich Celine Clifford war. Soweit ich das beurteilen konnte, änderten sie meinen Namen für den Fall, dass mich jemand im Gefängnis wiedererkennen könnte. Ich hielt es für eine gute Entscheidung, weil ich meiner ursprünglichen Familie allein durch meine Existenz schon genug Kummer gemacht hatte. Ich wollte nicht den guten Ruf meiner Pflegeeltern besudeln, nur weil ich ein so schlechter Mensch war, dass ich dafür ins Gefängnis gehen sollte. Es kam mir so vor, als müsste ich mir selbst die Schuld für all die schrecklichen Dinge geben, die mir in meinem Leben widerfahren waren.

Ich musste alle möglichen Fragen zu intimen Körperpartien beantworten. Manchmal wurde eine Frage wieder und wieder gestellt – mal von derselben Person, mal von einer anderen –, bis ich eine Antwort geliefert hatte, die sie zufrieden stellte. Ich musste einige der schrecklichen Dinge beschreiben, die mir in den letzten sechs Jahren angetan worden waren. Es war furchtbar, in der Öffentlichkeit darüber zu reden, erst recht in einem Saal, in dem fast nur Männer anwesend waren.

Überall im Saal unterhielt man sich, doch auf einmal verstummten alle Unterhaltungen. Ich hob den Kopf, um zu sehen, was nun los war.

Der Richter wandte sich direkt an mich: »Steh auf, Miss Clifford.«

Ich erhob mich von meinem Stuhl, mir schlotterten die Knie.

»Ich will, dass du mir nachsprichst«, wies der Mann mich an.

Sofort fing ich an zu weinen.

»Ich schwöre, so lange in der Arbeitsschule von Mount St Vincent zu bleiben, wie es notwendig erscheint oder wie es mir vorgegeben wird.«

Ich begann laut zu schluchzen, weil ich mit all den Wörtern völlig überfordert war, die der Richter gesagt hatte. Ich konnte mir nichts davon merken, weshalb er alles wiederholte und dabei immer nur zwei Worte sprach, die ich wiederholen musste. Als ich das machte, kam ich mir wie von aller Welt verlassen vor. Es gab niemanden, der für mich da war.

Der Cruelty Officer packte mich wieder am Oberarm, und ich wurde aus dem Gerichtssaal gebracht. Auch jetzt brach ich sofort in Tränen und lautes Schluchzen aus.

Das war es also gewesen.

Viele Jahre später bekam ich die Gelegenheit, die Aktennotiz des Richters zu sehen, da das Protokollbuch des Gerichts ins Nationalarchiv aufgenommen worden war. Darin stand geschrieben: »Es wird angeordnet, dass Celine Clifford in die staatlich anerkannte Arbeitsschule von Mount St Vincent, Limerick, überstellt wird und dort vom heutigen Tag an bis zum Beginn des 14. November 1964 verbleibt. Der County Council wurde benachrichtigt.«

In jener Zeit war eine Beschwerde nach dem Gesetz zum Schutz der Kinder 1908 – 1941 eine gängige Methode, um sich verhaltensauffälliger Kinder anzunehmen. Dadurch wurden Kinder in industrial schools untergebracht, die durch alle möglichen Varianten von Kleinkriminalität vom Diebstahl eines Brotlaibs bis hin zum Raub eines Fahrrads aufgefallen waren. Einige dieser Kinder waren unter sehr gewalttätigen Umständen aufgewachsen und verhielten sich entsprechend aggressiv. In manchen Fällen war es so schlimm, dass diese Kinder überhaupt nicht zu bändigen waren.

Vielleicht erklärt das auch das schroffe Verhalten, das der Cruelty Officer mir gegenüber an den Tag legte.

Am 2. März 1962 verließ ich im Alter von dreizehn Jahren unter dem Namen Celine Clifford das Gerichtsgebäude von Kilmallock und war fest davon überzeugt, als Nächstes meine lebenslange Gefängnisstrafe antreten zu müssen. Die vornehm gekleidete Frau war verschwunden, ohne mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich wurde zu dem Polizisten zurückgebracht, bei dem ich bereits stundenlang rumgesessen hatte.

Als ich das Büro betrat, sah ich auf den Boden. Meine Haare fielen mir dabei ins Gesicht, das von meinen unkontrollierbaren Tränen völlig nass war. In diesem Moment wäre ich für jede Art von Trost oder Zuspruch sehr dankbar gewesen, doch da kam nichts. Genauso hätte ich gern einen Schluck Wasser getrunken, aber ich hatte zu große Angst, darum zu bitten. In der Gerichtswelt, in der es nur Männer zu geben schien, kam ich mir so vor, dass ich das falsche Geschlecht hatte und dass sogar das meine Schuld war.

Ich hatte das Gefühl, niemandem vertrauen zu können, und ich glaubte immer noch, dass man mich ins Gefängnis stecken würde.

»Du kommst mit mir, ich bringe dich ins Waisenhaus. Da wird man sich gut um dich kümmern«, sagte der Cruelty Officer zu mir.

Fast sofort hörte ich auf zu weinen. Ich hatte laut und deutlich das Wort Waisenhaus gehört. Sollte es zuvor an diesem langen Tag schon einmal gefallen sein, dann war es mir offenbar entgangen.

»Heißt das, dass ich nicht für immer ins Gefängnis gehen muss?«, fragte ich leise.

»Natürlich gehst du nicht ins Gefängnis. Wie kommst du denn auf die Idee? Da wirst du besser versorgt sein als bislang. Du hast wirklich großes Glück gehabt, dass diese Frau sich bei der ISPCC beschwert hat.«

»Wer hat sich beschwert? Welche Frau war das? Was ist ISPCC?«

»Was sich in diesem Haus abgespielt hat, war einfach widerwärtig. Die ganze Welt weiß über das Haus Bescheid. Ich muss nur noch im Büro verschiedene Papiere unterzeichnen, dann machen wir uns auf den Weg«, sagte er.

Mir lagen tausend Fragen auf der Zunge, aber ich behielt sie alle für mich, weil ich Angst hatte, mir nur noch mehr Ärger einzuhandeln.

»Natürlich verdanke ich dir, dass meine Schuhe und meine Hose jetzt ruiniert sind«, waren die letzten Worte des Cruelty Officer.

Bevor ich ging, warf ich einen verstohlenen Blick auf den Boden, weil ich mich vergewissern wollte, dass nicht mehr zu sehen war, wo ich hingemacht hatte. Zu meinem Entsetzen war das immer noch zu sehen. Ich betete zu Gott, dass niemand den Fleck bemerken sollte. Ich hatte deswegen so ein schrecklich schlechtes Gewissen.