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Schwierige Liebe

Meine Zeit im Waisenhaus näherte sich dem Ende. Von dem Tag an, da Schwester Bernadette meine leiblichen Eltern erwähnt hatte, war ich emotional aus dem Gleichgewicht geraten, was vor allem für mein letztes Jahr im Waisenhaus galt. Nach dem Besuch der Nonne war ich völlig aus dem Häuschen gewesen. Ich hatte jedem im Waisenhaus davon erzählt, dass meine seit langer Zeit verschollenen Eltern gefunden worden waren. Ich hatte allen erzählt, dass ich meine Eltern kennenlernen würde und dass sie mich aus dem Waisenhaus holen würden. Aber mit jeder Woche, die verstrich, ohne dass ich einen der beiden zu Gesicht bekam, begann ich meine Erwartungen nach unten zu schrauben.

Ich hörte auf, anderen von meinen Eltern zu erzählen, und dachte nur noch im Stillen über sie nach.

Das Seltsame an dieser Enthüllung war, dass ich die Geschichte rund um meinen Vater als völlig überzeugend empfand. Ich glaubte, dass er ein sehr wichtiger Anwalt wäre, ein Mann mit großer Familie, auf die ein Skandal zukommen würde, wenn ich dort auftauchte. Ich glaubte auch, dass das Geflecht der Gesellschaft Schaden nehmen konnte, wenn dieser so wichtige Mann in aller Öffentlichkeit bloßgestellt wurde, wenn man von meiner Existenz erfahren sollte. Also konzentrierte ich mich stattdessen auf meine Mutter.

Ich dachte immerzu an meine Mutter.

Ich dachte immerzu an ihr Handeln.

Ich dachte immerzu an die Entscheidungen, die sie getroffen hatte.

Ich dachte immerzu an die Folgen ihrer Entscheidungen.

Ich dachte immerzu an die Tatsache, dass sie nie versucht hatte, mich ausfindig zu machen.

Ich dachte immerzu an die Tatsache, dass ihretwegen mein Leben ein solcher Scherbenhaufen war.

Ich dachte immerzu an die Tatsache, dass ich, ihre leibliche Tochter, wegen ihrer Entscheidungen zu einem Leben voller sexueller Demütigungen durch ganz und gar entfesselte Pädophile verdammt worden war.

Ich dachte immerzu an meine Mutter.

Wie konnte eine Mutter ihrer Tochter so etwas antun? Wie konnte meine Mutter mir so etwas antun?

Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr machte es mir zu schaffen. Mein Verhalten veränderte sich, ich wurde mit einem Mal schwierig und nicht mehr so umgänglich, wenn es um meine Aufgaben ging. Und ich konnte nicht aufhören, traurig dreinzuschauen.

In den ersten eineinhalb Jahren hatte ich mir den Spitznamen »Smiler« verdient, weil ich immer glücklich und fröhlich war und immer nur lächelte. Aber das war nicht immer ein glückliches Lächeln gewesen. Ich hatte mir überlegt, dass niemand mit mir Streit anfangen würde, wenn ich immer alle anlächelte. Eigentlich funktionierte das aber nicht, und so war mein Lächeln meistens nur ein Versuch, mein Überleben zu sichern.

Immer wieder fragte ich die Nonnen, wann ich meine Mutter kennenlernen würde. Ich gab einfach nie auf, nach einem Treffen mit ihr zu fragen. Nach ungefähr einem Jahr ließ mir Schwester Bernadette eine Nachricht zukommen: Sie hatte alles in die Wege geleitet, dass meine Mutter mich besuchen konnte. An einem Sonntagnachmittag in drei Wochen würde sie mich im Waisenhaus besuchen kommen. Ich war außer mir vor Begeisterung. In dieser Nacht bekam ich kein Auge zu. Jeder Gedanke kreiste in irgendeiner Form um meine Mutter.

Wie würde sie wohl aussehen?

Würde sie mich mögen?

Wäre ich für sie akzeptabel?

Ich war vierzehneinhalb Jahre alt, und dies würde das erste Mal sein, dass ich meine Mutter wiedersah, nachdem sie mich im Alter von fünf Monaten weggegeben hatte.

Alle Vorbereitungen waren getroffen worden, doch es sollte nicht sein. Ich bekam Mumps, und der Besuch musste abgesagt werden. Mir ging es an dem Tag so schlecht, dass ich nicht mal das Bett verlassen konnte. Ich weiß noch, dass man mich den ganzen Tag im Schlafsaal liegen ließ. Ich war am Boden zerstört. Ich war so enttäuscht, dass ich um das Zusammentreffen mit meiner Mutter gebracht worden war. Aber ich war auch optimistisch, dass sich ein erneuter Anlauf in nächster Zeit ergeben würde. Das sollte sich jedoch nicht bewahrheiten …

Wenn ein Kind fünfzehn wurde, machten sich die Nonnen daran, für dieses Kind eine Anstellung außerhalb des Waisenhauses zu finden. Es war eine Art Vorbereitung, um Dienstmädchen werden zu können. Tagsüber arbeiteten wir bei irgendwelchen Familien, für die Nacht kehrten wir ins Waisenhaus zurück. Wir bekamen keinen Lohn für unsere Arbeit, da sie als Training für eine spätere Beschäftigung gesehen wurde. Wir blieben drei Monate bei einer Familie, danach wurden wir untereinander ausgetauscht. Es war Sklavenarbeit, und bis zum heutigen Tag bin ich der Ansicht, dass ich von den Nonnen noch den mir zustehenden Lohn bekommen müsste. Bis ich das Waisenhaus endgültig verlassen konnte, hatte ich fünf oder sechs derartige Stellen, einmal in einem Pub, sonst immer in vornehmen Häusern.

Mit sechzehn wurde es dann Zeit für mich, zu gehen, das Waisenhaus zu verlassen und mich dauerhaft der großen weiten Welt da draußen zu stellen. Mit anderen Worten: Ich war bereit für einen bezahlten Job, und gleichzeitig musste ich lernen, im Leben meinen eigenen Weg zu gehen. Genau genommen hatte ich nur wenig zu bieten, um eine Anstellung zu finden. Ich war praktisch ohne jede Schulbildung, mit Mühe und Not konnte ich lesen und schreiben. Meine Stärken lagen in der Tatsache, dass ich wusste, wie man Toiletten putzte, Fußböden wischte, Gemüse schälte und bei einem Baby die Windeln wechselte. Ja, ich war tatsächlich absolut qualifiziert, um als Dienstmädchen zu arbeiten.

Zu Beginn wurde ich in die Obhut von Mrs Wall aus Dublin gegeben. Sie stammte aus Limerick und war nach Dublin umgezogen, wo ich als ihr Dienstmädchen arbeiten sollte. Das Ganze währte nur drei Wochen, dann wurde ich in mein Waisenhaus zurückgeholt, weil sich auf einem Bauernhof am Rande von Limerick City eine freie Stelle als Dienstmädchen ergeben hatte. Voraussetzung war, dass ich beim Vorstellungsgespräch gut abschnitt. Ich erhielt die Adresse sowie eine recht vage Wegbeschreibung. Am nächsten Tag sollte ich dort um 14 Uhr erscheinen. Ich hatte in den letzten beiden Jahren immer wieder außerhalb des Waisenhauses gearbeitet, daher hatte ich eine grobe Orientierung in der Stadt. Da ich weder für ein Taxi noch für den Bus Geld besaß, musste ich den Weg zu Fuß zurücklegen. Unterwegs fragte ich viele Leute nach dem Weg, und schließlich hatte ich die besagte Adresse erreicht. Die Dame des Hauses empfing mich an der Tür, bat mich herein und bot mir einen Platz an. Ein alter Freund von ihr würde sie noch besuchen kommen, und er würde mich ebenfalls befragen. Sie versicherte mir, dass es alles ganz einfache Fragen waren, die sie beide mir stellen würden. Ihr Freund entpuppte sich als Priester: Father Bernard O'Dea. Er war ein Benediktinerpater aus der nahe gelegenen Schule.

Mrs Cooke stellte mir leichte Fragen, zum Beispiel nach meinem Namen, meinem Alter, wie lange ich im Waisenhaus gewesen war und welche Aufgaben ich dort erledigt hatte. Ich beantwortete alles, so gut ich konnte. Sie schien mit meinen Antworten zufrieden zu sein. Dann war Father Bernard an der Reihe. Er wollte etwas über meine Bildung und Ausbildung wissen. In welcher Schulklasse war ich derzeit? Ich sagte ihm, dass ich die Schule kaum besucht hatte. Er wollte wissen, ob ich lesen und schreiben könne. Sehr leise beantwortete ich das mit Ja. Er bat mich, meinen Namen aufzuschreiben, dann gab er mir ein Blatt Papier und einen Stift. Ich schrieb auf, was ich für meinen Namen hielt: Celine Clifford. Ich hatte immer wieder geübt, meinen Namen zu schreiben. Ich war mir nicht sicher, warum ich ihn so oft geübt hatte, aber vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass er mir gefiel. Später in meinem Leben neigte ich zu der Ansicht, dass mein Name eine Bestätigung dafür war, dass ich wirklich eine eigene Person war.

Dann bat er mich, einen Satz zu schreiben: »Der Hund bellte lange und laut.« Ich bekam »Der« und »Hund« zu Papier, aber die anderen Wörter konnte ich nicht buchstabieren. Ich versuchte mich dennoch an dem Satz, aber ich weiß nicht, ob mein Geschreibsel überhaupt leserlich war. Der Father sah auf das Blatt, das ich ihm zurückgab, dann sagte er: »Vielen Dank, Celine.«

Er nickte Mrs Cooke zu, und sie sagte daraufhin zu mir: »Komm mit, ich zeige dir das Haus. Dabei kann ich dir erklären, welche Aufgaben du hier zu erledigen hast.«

Als der Rundgang beendet war, erklärte sie mir, dass ich einen Lohn von zwei Pfund und zehn Shilling in der Woche bei freier Kost und Logis bekommen und pro Woche einen halben Tag frei haben würde. Dann fragte sie: »Denkst du, dass du es für diese Lohn machen kannst?«

»Ja«, antwortete ich mit zitternder Stimme. Die Nonnen hatten mich ohnehin vorgewarnt, dass ich die Stelle auf jeden Fall sofort annehmen sollte, falls sie mir angeboten wurde.

»Sind die Arbeitsbedingungen für dich akzeptabel?«, wollte Father Bernard wissen.

Ich nickte bestätigend.

»Also gut«, erklärte Mrs Cooke. »Ich bin bereit, dir diese Anstellung anzubieten. Wirst du sie annehmen? Oder brauchst du noch Bedenkzeit?«

»Nein, nein!«, platzte ich heraus. »Es ist mir eine Freude, die Stelle annehmen zu können, Mrs Cooke.«

»Wann kannst du anfangen?«

»Gleich am nächsten Montagmorgen, wenn Ihnen das recht ist«, erwiderte ich.

»Gut, dann wären wir uns ja einig«, sagte sie. »Bring deine Sachen am Sonntag her, dann kannst du hier einziehen und gleich am Montagmorgen beginnen.«

Als ich zur Tür gehen wollte, kam Father Bernard zu mir und schüttelte mir die Hand. »Ich freue mich, dich kennengelernt zu haben, Celine. Ich bin mir sicher, wir werden uns noch oft begegnen, da ich Mrs Cooke regelmäßig besuche.«

»Vielen Dank, Father«, entgegnete ich.

Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht einmal ahnen, welche wertvolle und wichtige Rolle Father Bernard O'Dea in den folgenden Jahren in meinem Leben spielen würde.

Wie vereinbart begann ich am Montag, bei Mrs Cooke zu arbeiten. Die Arbeit war nicht zu anstrengend. Mrs Cooke war eine Frau im mittleren Alter, der es zu der Zeit nicht ganz so gut ging. Sie konnte keine körperliche Arbeit im Haus verrichten, sie wurde schnell müde. Ihr Arzt hatte ihr deshalb geraten, sich so oft wie möglich auszuruhen.

Ihr Ehemann war verstorben, sie lebte allein mit ihren zwei Kindern, die ich jeden Morgen für die Schule bereit machte. Wenn die täglich anfallenden Arbeiten erledigt waren, verbrachte ich die restliche Zeit des Tages in erster Linie damit, ihr zuzuhören. Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte, und das war die Rolle, die mir zufiel. Ihr zu lauschen, wie sie von früher erzählte, war manchmal anstrengend, aber auch unterhaltsam. Ich entwickelte mich zu einer guten Zuhörerin.

Father Bernard kam einmal in der Woche zu Besuch, es sei denn, er war auf Reisen. Es schien so, als würde er zu vielen exotischen Orten auf der Welt reisen.

Einen besseren ersten Job hätte ich nicht bekommen können. Mrs Cooke war ausgesprochen nett zu mir. Außerdem freute ich mich auf Father Bernards wöchentlichen Besuch, da sie beide mich immer in ihre Gespräche einbezogen. Das allein gab mir das Gefühl, akzeptiert zu werden.

Ich hätte gern etwas mehr Lohn bekommen, aber das war nicht machbar. Und da ich Angst hatte, darum zu bitten, blieb mein Einkommen recht niedrig.

Während ich für Mrs Cooke arbeitete, schrieb ich mit Father Bernards Hilfe einen Brief an Schwester Bernadette mit der Bitte, ein Treffen mit meiner Mutter zu arrangieren. Anstatt den Brief selbst abzuschicken, gab ich ihn Father Bernard mit, da er vorgeschlagen hatte, ihn auf dem Heimweg in den Briefkasten zu werfen. Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich, dass er sich unmittelbar an Schwester Bernadette wandte, entweder telefonisch oder persönlich. Denn ich glaube, sein Einschreiten war verantwortlich für das, was sich als Nächstes ereignete.

Im Juli 1965 erhielt ich einen Brief von Schwester Bernadette, in dem sie mir mitteilte, dass sie ein Treffen mit meiner Mutter im Kloster in Mount ausgemacht hatte. In dem Brief stand dann noch, dass sie mit mir Kontakt aufnehmen würde, um ein Datum zu finden, mit dem beide Seiten einverstanden waren. Einmal mehr wurde meine Welt auf den Kopf gestellt, da sich endlich eine Gelegenheit abzeichnete, erstmals meine Mutter zu sehen.

Allerdings nahm Schwester Bernadette nicht wie angekündigt Kontakt mit mir auf, um einen Termin abzustimmen, sondern sie schickte mir eine Woche später einen Brief, in dem sie mir mitteilte, dass ich am Dienstag der kommenden Woche um 15 Uhr zum Kloster Mount kommen sollte. Meine Mutter würde dann anwesend sein, begleitet von ihrer Schwester.

In den sich anschließenden gut zwei Wochen drehten sich alle meine Gedanken nur um das Treffen. Ich malte mir im Detail aus, wie es ablaufen würde.

Wir würden uns gegenseitig um den Hals fallen.

Wir würden lange Zeit nur dastehen und uns in den Armen liegen.

Sie würde mich als ihre viel zu lange verschollene Tochter bezeichnen.

Sie würde sagen, dass wir nun endlich, endlich wieder vereint sind.

Sie würde mir sagen, dass sie mich noch am gleichen Tag zu sich nach Hause mitnehmen würde.

Sie würde mir sagen, dass ich ihr so sehr gefehlt hatte.

Sie würde mir sagen, dass sie jahrelang nach mir gesucht hatte.

Sie würde mich unter Tränen anflehen, ihr zu vergeben.

Sie würde mir versprechen, alles Versäumte nachzuholen.

Sie würde mir ihre Gründe erklären.

Es war fünf vor drei an jenem schicksalhaften Dienstag. Die Bühne war vorbereitet, die Mitwirkenden waren kurz davor, diese Bühne zu betreten. Mit siebzehn Jahren war ich bereit, zum ersten Mal meiner Mutter zu begegnen. Es war ein wunderschöner sonniger Sommernachmittag.

Ich läutete die Türglocke an der Seite des großen, massiven Holzportals, das den Eingang zum Kloster darstellte. Ich hatte tagelang überlegt, was ich wohl am besten anziehen sollte. Schließlich fiel meine Wahl auf einen türkisfarbenen Anzug, zu dem ich eine Bluse mit Blumenmuster und blaue Schuhe trug. Ich fand, es war eine geschmackvolle Zusammenstellung, und ich fühlte mich darin wohl. Meine lockigen blonden Haare trug ich offen.

Ich wollte in jeder Hinsicht perfekt sein, um auch in jeder Hinsicht akzeptiert zu werden.

Eine junge Nonne, die ich nicht kannte, öffnete die Tür. Gleich hinter ihr war Schwester Bernadette, die mich begrüßte und in den holzgetäfelten Salon führte. Ich erkannte den Lavendelgeruch der Holzpolitur wieder. Schwester Bernadette wies mir einen Stuhl an der der Tür gegenüberliegenden Seite zu.

»Deine Mutter ist noch nicht da, aber es dauert nur noch ein paar Minuten«, versicherte sie mir.

Zwei Minuten später wurde wieder an der Tür geläutet. Mein Puls begann zu rasen. Ich hörte, wie die junge Nonne durch den Flur eilte. Jetzt wurde ich richtig nervös. Als die Eingangstür geöffnet wurde, hörte ich mehrere Frauenstimmen. Meine Handflächen waren nass geschwitzt. Schwester Bernadette musste diese Stimmen erkannt haben, da sie den Raum verließ, um die Besucher zu empfangen. Meine Bluse mit Blümchenmuster war von Schweiß getränkt.

Die Tür ging auf, und Schwester Bernadette kam mit zwei Frauen herein. Die erste von ihnen war groß und blond. Sie trug ein marineblaues Kleid und dazu eine Jacke. Ihr Gesicht war ziemlich ausdruckslos, das Kinn hielt sie hoch erhoben, was sie etwas herablassend erscheinen ließ. Als ich diese schicke, elegante Frau sah, wusste ich sofort, das war meine Mutter.

Die Frau in ihrer Begleitung trug ein gelbes Kleid mit einer braunen Strickjacke. Neben ihrer Schwester wirkte diese Frau schäbig. Schwester Bernadette brachte die zwei an den Tisch, sodass sie mir gegenübersaßen.

Ich stand auf, um mich für den langen Marsch gefasst zu machen, an dessen Ende ich meine Mutter würde umarmen können. »Celine, ich möchte dir deine Mutter vorstellen«, sagte Schwester Bernadette und redete sofort weiter: »Doreen, ich möchte dir deine Tochter Celine vorstellen.« Als ich das hörte, brach ich in Tränen aus und ließ den Kopf nach vorn sinken.

Keine von uns rührte sich.

Ich wollte zu ihr gehen, aber ich stand wie angewurzelt da. Ich hatte mir über die Jahre hinweg angewöhnt, nicht diejenige zu sein, die den ersten Schritt hin zu einem körperlichen Kontakt machte.

Doch zu meinem großen Entsetzen kam meine Mutter nicht auf mich zu.

Sie sagte bloß in einem kühlen, distanzierten Tonfall: »Hallo, Celine.«

Sosehr ich etwas dazu sagen wollte, ich brachte nicht eine einzige Silbe über die Lippen. Man konnte das Schweigen im Raum fast mit Händen greifen.

Schwester Bernadette begann eine Unterhaltung mit der Schwester meiner Mutter, doch anstatt zu mir zu kommen, was ich mir so sehr wünschte, schloss sie sich der Unterhaltung an und ging darauf ein. Ich weinte und schluchzte unbeherrscht, doch von meiner Mutter kam keine Reaktion. Sie ignorierte mich vollständig.

Meine Mutter, ihre Schwester und die Nonne unterhielten sich nun über Leute, die zu meiner Familie gehörten. Namen wurden erwähnt, aber ich hatte keine Ahnung, um wen es ging. Allerdings fand ich, dass die Namen der Kinder ausgesprochen schön gewählt waren.

Die Unterhaltung begann erneut abzuflachen. Meine Tante gab meiner Mutter eine braune Papiertüte, mit der meine Mutter um den Tisch herum zu mir kam. Ich dachte, jetzt umarmt sie mich endlich.

Es fiel mir schwer, meine Tränen zurückzuhalten. Mein Atem ging völlig unregelmäßig, und ich konnte keinen Ton rausbringen.

Mit meinen Augen versuchte ich ihr mitzuteilen, was ich empfand. »Wenn sie hören könnte, was ich ihr durch meine Blicke sagen will, würde sie so reagieren wie jede andere Mutter auch, die sich in dieser Situation befindet«, überlegte ich für mich allein.

Hätte meine Mutter die Arme um mich geschlungen und mir »Ich liebe dich« gesagt, ich hätte ihr in diesem Moment alles verziehen. Ich hätte siebzehn Jahre sexuellen Missbrauch, Schmerz, Folter, Hunger und Demütigung vergessen, wenn sie das gesagt hätte.

Als sie vor mir stehen blieb, war sie noch mehr als eine Armlänge von mir entfernt. Sie begann zu reden, und in diesem Augenblick wurde mir unterbewusst klar, dass der körperliche Abstand zwischen uns beiden zugleich für einen emotionalen Graben stand, der uns voneinander trennte.

»Ich finde, du solltest deinen Namen offiziell ändern lassen und einen anderen Nachnamen wählen, damit niemand dahinterkommen kann, wer du bist. Ich möchte nicht, dass irgendjemand herausfindet, dass ich mit dir verwandt bin«, sagte meine Mutter zu mir. »Ich glaube auch, es wäre für alle Betroffenen das Beste, wenn du nach Amerika auswanderst und dort arbeitest. Da weiß niemand, wer du bist. Ich für meinen Teil werde niemals zugeben, dass du meine Tochter bist. Hier sind ein paar Geschenke für dich. Es ist ein Rosenkranz und weiße Skapuliere. Beides kommt von einer deiner Großtanten. Sie ist eine Nonne und lebt in Amerika. Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Hier ist noch etwas Handcreme von deiner Tante Rosaleen.« Dabei zeigte sie auf die andere Frau, als wäre das Vorstellung genug. Auf ihre eigene freundliche, aber auch distanzierte Art winkte Tante Rosaleen mir zu. »Wir gehen jetzt wieder. Ich wünsche dir für die Zukunft alles Gute.« Mit diesen Worten drehte sich meine Mutter weg.

»Komm, Rosaleen«, forderte sie die andere Frau auf. »Vielen Dank, Schwester Bernadette«, sagte sie an die Nonne gerichtet, während sie alle drei den Salon verließen.

Weiter hörte ich nichts mehr.

Sie war weg. Sie hatte nicht einmal eine einzige Träne vergossen. Sie hatte mich noch nicht mal angefasst. Schwester Bernadette kam zu mir zurück. Später fand ich heraus, dass Schwester Bernadette mit meiner Großmutter zusammen zur Schule in Laurel Hill, Limerick, gegangen war.

»Wirst du damit klarkommen?«, fragte sie und hielt die Tür auf.

Es war offensichtlich, dass es für mich Zeit wurde zu gehen. Das schwere Portal zur Straße hin stand ebenfalls offen. Sie führte mich nach draußen in den Sonnenschein, während ich die Schultern hängen ließ und mein Herz sich schwer wie Blei anfühlte.

»Auf Wiedersehen, Celine. Wenn du mich wegen irgendeiner Angelegenheit brauchst, die du für wichtig hältst, schreib mir bitte. Meine Adresse hast du ja«, sagte Schwester Bernadette.

Mir gingen immer noch die Worte meiner Mutter durch den Kopf, als ich zu Mrs Cookes Haus ging. Jedenfalls nehme ich an, dass ich zu Fuß gegangen bin. Ich war so geschockt, dass ich keine Erinnerung daran hatte, was den Rest des Nachmittags über geschehen war. Bis heute klafft für diesen Nachmittag ein Loch in meinem Gedächtnis.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich gut, und war für meine Arbeit sogar zu früh dran.