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Das Wagnis, zu träumen

In den folgenden sechs Monaten arbeitete ich weiter als Dienstmädchen für Mrs Cooke. Sie hatte Herzprobleme und wurde mit der Zeit immer schwächer. Sie konnte sich kaum noch körperlich anstrengen, ohne sich anschließend stundenlang davon erholen zu müssen. Da sich ihr Zustand zusehends verschlechterte, konnte sie schließlich auch nicht mehr die Treppe in ihrem Haus bewältigen. Also beschloss sie, nur noch im Erdgeschoss zu bleiben. Das Bett wurde nach unten geschafft und im großen Wohnzimmer aufgebaut.

Ihr Arzt und Father Bernard O'Dea schienen die Einzigen zu sein, von denen sie besucht wurde. Für ihren Arzt war sie eine Patientin, die seine medizinische Betreuung benötigte, von daher war das eine rein geschäftsmäßige Beziehung. Father Bernard dagegen war ein besonderer Freund, mit dem sie sich gut verstand. Sie nannte ihn Bernard, er sagte zu ihr Peggy. Es schien so, dass die beiden eine enge Freundschaft verband.

Meine Arbeit als Dienstmädchen verlor mehr und mehr den formalen Charakter. Vorwiegend kümmerte ich mich um Mrs Cookes tägliche Bedürfnisse. Ich musste ihr leichte Mahlzeiten zubereiten, wenn sie Hunger hatte. Ich musste sie im Bett wieder aufsetzen, wenn sie von ihren Kissen gerutscht war. Ich musste ihr zur Toilette helfen, wenn es nötig war. Ich musste sie im Bett waschen, wenn sie sich nicht in der Lage fühlte, ein Bad zu nehmen. Aber die meiste Zeit über wurde von mir erwartet, dass ich dasaß und mit ihr redete oder ihr zuhörte.

Mrs Cooke und ich kamen sehr gut miteinander aus. Während ihr Körper in eine Art Lethargie verfallen war und praktisch jede Art von Betätigung verweigerte, war ihr Verstand so glasklar und aktiv wie am ersten Tag. Sie ließ sich jeden Morgen die Tageszeitung The Irish Independent nach Hause liefern, die sie dann im Lauf des Tages komplett las.

Eines Tages rief sie mich zu sich ans Bett.

»Celine«, sagte sie. »Wärst du so nett, mir heute die Zeitung vorzulesen? Meine Arme besitzen nicht die Kraft, sie hochzuhalten.«

»Ich werde mein Bestes geben«, stammelte ich nervös. »Aber ich kann nicht gut lesen.«

»Natürlich kannst du das. Heutzutage kann jeder lesen«, beharrte sie.

Ich nahm die Zeitung und betrachtete die Titelseite. »Was möchten Sie vorgelesen bekommen?«, fragte ich verlegen, während ich nach irgendwelchen vertrauten Wörtern suchte, oder zumindest nach kurzen Wörtern.

»Fang auf der Titelseite an, such dir einfach einen Artikel aus«, antwortete sie ungeduldig.

Nachdem ich ungefähr fünf Minuten lang vorgelesen hatte, unterbrach sie mich: »Hör auf, Kind. Du kannst ja tatsächlich nicht lesen. Unfassbar. Aber wie willst du im Leben vorankommen, wenn du nicht lesen kannst?«, fragte sie mich völlig verblüfft. »Wir werden etwas dagegen unternehmen, mein Mädchen.«

Father Bernard kam am Nachmittag des gleichen Tages vorbei, um nach Mrs Cooke zu sehen. Kaum hatte er sich zu Mrs Cooke ans Bett gesetzt, um bei einer Tasse Tee und einem Stück Porterkuchen mit ihr zu reden, sprach sie ihn auf meinen Analphabetismus an.

»Dieses reizende junge Ding kann sich mündlich ausdrücken, Bernard. Aber sie kann weder lesen noch schreiben«, beklagte sie sich. »Du bist ein Mann des Wortes, Bernard. Wirst du ihr helfen? Ich brauche jemanden, der mir morgens aus der Zeitung vorliest.«

»Es wäre mir eine Freude, behilflich zu sein«, sagte er.

»Du musst mir versprechen, dass du dafür sorgen wirst, dass sie lernt, fehlerfrei zu lesen und zu schreiben – auch wenn ich nicht hier bin, um mich davon zu überzeugen, welche Fortschritte sie macht. Versprichst du mir das?«, hakte sie nach.

»Wenn du darauf so großen Wert legst, habe ich ja wohl keine andere Wahl«, meinte er lächelnd. »Es wäre mir eine Freude, zu helfen, und wenn ich etwas verspreche, dann halte ich mich auch daran.«

Er drehte sich zu mir um und fragte: »Möchtest du, dass ich dir helfe, Celine?«

»Ja, das würde mir sehr gefallen, Father Bernard«, erwiderte ich mit ernster Miene.

»Gut, dann kannst du gleich heute anfangen. Du kannst mir einen Brief schreiben, in dem alles steht, was ich über dich wissen sollte. Dieser Brief wird mir einen Eindruck davon vermitteln, wie viel du bereits weißt und kannst. Dann weiß ich, wo ich ansetzen muss. Hier ist meine Anschrift.«

Mein erster Anlauf war weit davon entfernt, mich zufrieden zu stimmen, da ich fast zwei Wochen brauchte, um gerade einmal zwei Seiten zu schreiben. Es gingen mindestens zehn Umschläge für mein Bemühen drauf, seine Adresse richtig zu schreiben. Aber es machte mir Spaß, und ich war entschlossen, Lesen und Schreiben zu lernen.

Nachdem er meinen ersten Brief erhalten hatte, brachte er ihn bei seinem nächsten Besuch bei Mrs Cooke mit. Er hatte alle Schreibfehler korrigiert. Es waren unglaublich viele, aber alle Kommentare waren so geschrieben, dass sie mir Mut machten. Ich schrieb ihm so oft einen neuen Brief, wie ich nur konnte, manchmal sogar zwei oder drei in der Woche. Ich erzählte ihm alles Mögliche aus meinem Leben, aber viele Dinge über meine Vergangenheit behielt ich für mich.

Er beklagte sich nie, sondern korrigierte weiter alle meine Schreibfehler und versah sie mit aufbauenden Kommentaren. Er hielt mich auch dazu an, mehr zu lesen, und allmählich verbesserten sich meine Lese- und Schreibfähigkeiten in einem Maß, das nicht zu übersehen war.

An meinem freien halben Tag begann ich, Father Bernard zu Hause zu besuchen, da er nicht weit von Glenstal Abbey entfernt wohnte. Es gab Tee und Gebäck in der Abtei, dann unterhielt er sich mit mir über alles Mögliche. Bei einem meiner Besuche erzählte ich ihm, dass ich Krankenschwester werden wollte. Ich rechnete damit, dass er mich auslachte und mir erklärte, so etwas sei ohne einen Schulabschluss und ohne Prüfungen nicht möglich. Aber er machte sich nicht über mich lustig. Vielmehr entgegnete er, dass er mir eine Referenz schreiben würde. Dann folgten zahlreiche Anmerkungen und Hinweise, was mich erwartete, sollte ich tatsächlich Krankenschwester werden wollen.

Während ich das Lesen und Schreiben lernte und von einer Karriere als examinierte Krankenschwester träumte, ging ich hin und wieder mit einigen Freundinnen aus dem Waisenhaus zum Tanzen. Viele von ihnen arbeiteten ebenfalls als Dienstmädchen in den vielen reichen Haushalten rund um Limerick herum. Meistens trafen wir uns am Sonntagabend im Jetland Ballroom. Wir verbrachten dort immer eine tolle Zeit, allein schon, weil wir gern über die manchmal recht lustigen Eigenarten unserer jeweiligen Arbeitgeber sprachen.

Diese gemeinsamen Abende waren auch deshalb so gut, weil wir austauschen konnten, wie man sich am besten gegen die unerwünschten Annäherungsversuche von Seiten der Ehemänner in den Haushalten zur Wehr setzte. Meistens war Alkohol die treibende Kraft bei diesen Fehltritten. Die Gespräche waren auch hilfreich, wenn es darum ging, wie wir armen Leibeigenen es im Leben einfacher haben konnten. Von unseren Arbeitgebern wurden wir fast ausnahmslos als die niedersten Lebensformen überhaupt wahrgenommen, und wir wurden ausgebeutet, wo es nur ging.

An einem dieser Sonntage begegnete ich einem Jungen namens Michael. Er fragte, ob ich mit ihm tanzen wolle, und ich sagte Ja. Als das Stück zu Ende war, bat er mich, noch für das folgende schnelle Stück zu bleiben. Ich sagte wieder zu. Die Band spielte ein Medley aus Rock-'n'-Roll-Songs, die auch von Elvis hätten sein können. Er wirbelte mit mir über die Tanzfläche, sodass ich am Ende völlig erschöpft, aber auch sehr beeindruckt war. Er bat mich, für den Rest des Abends »bei ihm zu bleiben«, was ich dann auch tat. Er war ein exzellenter Tänzer, und er hatte die Frisur von Elvis. Ich fand ihn wirklich reizend.

Nach dem Tanz brachte er mich in seinem schwarzen Morris Minor nach Hause. Er fragte, ob wir uns am nächsten Sonntag wiedersehen würden. Er sagte, ich sei eine der besten Tänzerinnen, die er je gesehen habe. Er sagte, nächstes Mal würde er mich vor dem Tanz abholen. Ich nickte nur, weil ich so erfreut war, dass ich kein Wort rausbekam.

Am folgenden Sonntagabend kam er zu Mrs Cookes Haus gefahren und holte mich ab. Diesmal hatte er ein Motorrad, und er sagte mir, ich solle mich fest an ihn klammern, während er die Straße entlangschoss. Ich hatte eine Heidenangst, da ich jeden Moment damit rechnete, das Gleichgewicht zu verlieren. Wenn wir um Ecken fuhren, neigte sich das Motorrad so weit zur Seite, dass ich dachte, ich würde jeden Moment runterfallen und dabei zu Tode kommen. Schließlich gewöhnte ich mich aber daran, und mir begann der Nervenkitzel hoher Geschwindigkeit zu gefallen.

Michael fuhr dieses Motorrad sehr schnell, und ich glaube, dass er versuchte, mir damit Angst einzujagen. Tatsächlich machte mir das schnelle Fahren am Anfang Angst, aber dann wurde daraus ein Nervenkitzel, der mich auch begeisterte. Nachdem ich mich erst mal daran gewöhnt hatte, spornte ich ihn dazu an, schneller und schneller zu fahren. Ihm schien es dann nicht mehr so viel Spaß zu machen, nachdem er hatte erkennen müssen, dass ich nicht so verängstigt war, wie er es sich vorgestellt hatte. Er sagte mir, ich hätte eine burschikose Ader.

Nach einem dieser Tanzabende saßen wir nicht weit von Mrs Cookes Haus in seinem Morris Minor und küssten uns. Das machten wir immer, wenn wir in seinem Wagen vom Tanzen kamen und ich nach Hause musste. Das war alles, was wir machten: Wir küssten uns, mehr nicht.

»Würdest du mich heiraten, Celine?«, fragte er auf einmal, nachdem er mich lange und ausgiebig geküsst hatte.

»Ja, Michael, das würde ich«, antwortete ich, ohne lange darüber nachzudenken.

»Gut. Ich meine das wirklich ernst«, ergänzte er.

»Heißt das, dass wir jetzt verlobt sind?«, fragte ich ihn zögerlich.

»Ja, auf jeden Fall«, versicherte er mir.

»Dann sehen wir uns am nächsten Sonntag«, redete er weiter und beugte sich über mich, um mir die Beifahrertür zu öffnen, damit ich aussteigen konnte.

In den folgenden zwei Wochen erzählte ich all meinen Freundinnen, dass ich verlobt war.

»Du hast ›nen Braten in der Röhre, wie?«, zogen mich einige von ihnen auf.

Da ich die Redewendung kannte, versicherte ich ihnen, dass das nicht der Fall war.

»Kein Wunder, du bist ja auch ›ne dumme Kuh«, konterten sie.

Aber ich war nun mal offiziell verlobt, und daran gab es nichts zu rütteln. Ein paar meiner Freundinnen meinten, ich sollte es Schwester Bernadette sagen, da ich schließlich noch immer ihr »Fall« war.

»Das geht sie gar nichts an«, entgegnete ich.

Aber der Zweifel war gesät und nagte tagelang an mir. Nach ein paar Tagen war mein schlechtes Gewissen so laut geworden, dass ich sie schließlich doch von meiner spontanen Entscheidung in Kenntnis setzte. Ich beschrieb Michael, so gut ich konnte. Es war ein kurzer Brief, da ich eigentlich nicht sehr viel über ihn wusste. Sie schrieb mir zurück und machte mich darauf aufmerksam, dass sie die Verbindungsperson zwischen mir und meiner Mutter, meiner Großmutter und meinen »Nonnentanten« war, wie sie sie ebenfalls bezeichnete. Sie lud mich und meinen Verlobten Michael zum Mittagessen ein.

Das Treffen sollte am 27. Mai 1967 im Kloster in Mount Trenchard, Foynes, County Limerick, stattfinden, wo sie nun zu Hause war. Das Ganze bereitete mir großes Unbehagen. Wir fuhren im Morris Minor hin, dort wurde uns ein leckeres, aber unbehagliches Klostermahl serviert. Anschließend schlug Schwester Bernadette vor, dass ich in der Kapelle warten sollte, während sie mit Michael einen Spaziergang über das Klostergelände unternahm. Sie sagte, sie wolle ihm von meiner Familie und meiner Vorgeschichte erzählen. Das bereitete mir nur noch größeres Unbehagen.

Dieser Tag sollte einen Schlussstrich unter unsere Verlobung setzen.

Nach ungefähr einer Stunde kamen sie von ihrem Spaziergang zurück. Sie holten mich an der Kapelle ab, und nach der üblichen Verabschiedung von Schwester Bernadette verließen wir das Kloster. Michael fuhr los, und als die Stadt ungefähr zwei Meilen hinter uns lag, fuhr er an Straßenrand und hielt an. Seit wir uns in der Kapelle wiedergesehen hatten, hatte er mir nicht in die Augen geschaut. Er sagte, er müsse die Verlobung auflösen.

»Wieso?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst kannte.

Er sagte, er könne nicht mit dem klarkommen, was Schwester Bernadette gesagt hatte. Er sagte, er komme aus einer Großfamilie mit dreizehn Geschwistern und er könne diesem großen Clan nicht sagen, dass seine Verlobte unehelich zur Welt gekommen war. Unehelich zu sein war damals für mich die größte Schande. Und jetzt war meine schlimmste Befürchtung für jeden sichtbar ausgebreitet worden.

Er sagte auch, wenn er heiratete, wolle er Kinder haben. Schwester Bernadette hatte ihm gesagt, ich würde keine Kinder bekommen können. Den Grund dafür hatte sie ihm auch genannt. Und er sagte auch noch, ein Onkel von ihm sei Priester und eine Tante sei Nonne.

Ich wusste, unsere Verlobung war zum Scheitern verurteilt.

Ich spürte wieder den Schmerz der Ablehnung, der mich zu umschließen begann. Warum wurde ich für etwas zurückgewiesen, für das ich nichts konnte? Wenn es an mir in keiner anderen Hinsicht etwas auszusetzen gab, warum zählte dann, ob meine Mutter bei meiner Geburt verheiratet gewesen war oder nicht?

Er fuhr mich nach Hause.

Nach diesem Tag sah ich ihn nie wieder.

Ich berichtete Father Bernard von meinen Problemen in Sachen Liebe und Ehe, wie sie sich dank der Unterstützung von Schwester Bernadette abgespielt hatten.

»Ich finde, es wird Zeit, dass du deine Karriere als Krankenschwester in Angriff nimmst, Celine«, verkündete Father Bernard eines Tages, gerade als ich den Nachmittagstee servierte.

Ich bekam einen roten Kopf, während ich das Tablett auf dem Nachttisch abstellte. Ich hatte gegenüber Mrs Cooke nie ein Wort darüber verlauten lassen, dass ich den Ehrgeiz entwickelt hatte, Krankenschwester zu werden. Genau genommen hatte ich mit niemandem darüber gesprochen – außer eben mit Father Bernard –, dass ich gern als Krankenschwester arbeiten würde. Ich fand, dass das für mich ein zu hohes Ziel war, zumal ich gesellschaftlich gar nicht akzeptabel genug war, um überhaupt eine solche Karriere in Erwägung zu ziehen. Mein Selbstwertgefühl war so verschwindend gering, dass ich mich glücklich schätzen konnte, wenigstens als Dienstmädchen arbeiten zu dürfen.

Mir wurde klar, dass Father Bernard das absichtlich in Gegenwart von Mrs Cooke so laut gesagt hatte, weil er wusste, ich konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Er hatte Mrs Cooke zu verstehen gegeben, dass ich die Absicht hatte, nicht mehr für sie zu arbeiten. Es überraschte sie nicht, dass ich Krankenschwester werden wollte. Sie und Father Bernard hatten bereits darüber gesprochen und hin und her überlegt, wie sie mir dabei am besten zur Seite stehen konnten. Ich hatte noch immer einen knallroten Kopf, und es war mir äußerst peinlich, dass noch jemand von meinen hochtrabenden Plänen wusste. Insgeheim war ich aber auch darüber begeistert.

Father Bernard erklärte, dass sie sich mit der Möglichkeit befasst hatten, mich in einem irischen Krankenhaus eine Ausbildung machen zu lassen. Die Möglichkeit verwarf er aber gleich wieder, weil sie nicht funktionierte. Warum das so war, erklärte er mir nicht, also konnte ich nur die Tatsache akzeptieren, dass es so war.

Also musste ein anderer Weg gefunden werden. Er sagte, er habe etwas arrangiert, damit ich als Kinderkrankenschwester arbeiten konnte. Mein Puls begann zu rasen. Ich konnte meine Begeisterung kaum noch bändigen. Er erklärte, das würde als gute Erfahrung für meinen Weg zur Krankenschwester in einem Krankenhaus dienen.

»Wärst du daran interessiert, Celine?«, fragte Mrs Cooke.

»Natürlich wäre ich das«, erwiderte ich. »Wann würde ich da anfangen? Aber was istmit meiner Anstellung bei Ihnen, Mrs Cooke? Wäre das für Sie in Ordnung?«, fragte ich voller Sorge.

»Mach dir um Mrs Cooke keine Gedanken«, warf Father Bernard ein. »Du machst dich auf den Weg, um die beste Krankenschwester aller Zeiten zu werden.«

»Wenn es schon nicht mal mehr die Kirche kümmert, was aus mir wird …«, sagte Mrs Cooke mit gespielter Verärgerung, während sie Father Bernard ansah. »Danke für deine Sorge, Celine, aber du musst das tun, was für dich das Beste ist. Es ist bereits alles in die Wege geleitet. Ich lasse dich mit einem Monat Kündigungsfrist gehen, und ab dem nächsten Monat wirst du für unseren guten Freund Desmond Woods in Belfast als Kinderkrankenschwester arbeiten.«

Ich murmelte ein betretenes Danke und machte vor beiden einen Knicks. Ich war ihnen so dankbar, aber auch unglaublich begeistert. Dann schwebte ich aus dem Zimmer, da ich mir sicher war, dass meine Füße vor lauter Freude längst nicht mehr den Boden berührten. Als ich in der Küche angekommen war, begann ich zu tanzen und sang vor mich hin: »Ich werde Krankenschwester! Ich werde Krankenschwester!«

Ein lautes »Celine« von Mrs Cooke aus dem Wohnzimmer holte mich in die Realität zurück.

Als ich zum Bett zurückkehrte, hielt Father Bernard mir etwas hin. »Celine«, sagte Mrs Cooke, »das da ist eine Einladung zur William Street Traders Exhibition morgen im Jetland Ballroom. Eine Freundin, die dort einen Stand hat, gab mir die Einladung, die ich eigentlich Father Bernard überlassen wollte, doch er hat keine Zeit. Deshalb habe ich überlegt, dass du stattdessen hingehen könntest. Vielleicht gefällt dir diese Handelsmesse ja. Es gibt da sehr viel zu sehen und zu entdecken.«

»Danke, da würde ich gern hingehen«, sagte ich voller Begeisterung darüber, dass ich einen Tag lang rauskommen und alle möglichen neuen Produkte sehen würde.

Am nächsten Morgen erledigte ich so schnell wie möglich alle Aufgaben, sah noch einmal nach Mrs Cooke, ob mit ihr alles in Ordnung war, und dann machte ich mich auf den Weg.

In Limerick City kannte ich mich mittlerweile gut aus, und den Weg zum neueröffneten Jetland Ballroom fand ich sogar mit geschlossenen Augen, da ich an so vielen Sonntagen dort tanzen gegangen war. Ich stieg in der Nähe der Halle aus dem Bus und lief zum Eingang.

Ein Mann an der Tür sagte: »Entschuldigung, junge Dame, was wollen Sie hier?«

»Ich bin eingeladen«, sagte ich forsch und hielt ihm die Einladung hin.

»Oh, in dem Fall müssen Sie sehr wichtig sein«, erwiderte er, verbeugte sich und hielt mir die Tür auf.

Die Atmosphäre war eine ganz andere als sonntagabends, wenn sich zweieinhalbtausend junge Menschen in der Halle drängten, um zu tanzen. Es wirkte wie ein ganz anderer Ort. Es waren nur wenige junge Menschen anwesend, und für einen Moment kam ich mir wichtig und sorglos vor, während ich an den Ständen entlangging, die von einem Ende der Halle bis zum anderen dicht an dicht aufgebaut worden waren.

Meine Freude war jedoch nur von kurzer Dauer.

Ich hatte noch keine fünf Minuten dort zugebracht, da stand ich keine zehn Meter von einer Frau entfernt, die ich kannte. Eine große, elegante Dame, die leicht nach vorn gebeugt war, um sich an einem Stand ein Objekt aus Kristallglas genauer anzusehen. Ich kannte sie noch gut von unserer letzten Begegnung im Kloster. Die Frau war meine Mutter.

Ich stand wie erstarrt da. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mein minimales Selbstbewusstsein war wie weggeblasen.

Sollte ich auf dem Absatz kehrtmachen und davonschlendern, bevor sie mich sehen konnte? Sollte ich mir in aller Eile einen Weg durch die Menge bahnen, um nach draußen zu kommen, und dann nach links oder rechts die Ennis Road wegrennen, um auf möglichst große Distanz zu ihr zu gehen? Ich tat weder das eine noch das andere.

Ein Druck lastete auf meiner Brust, gleichzeitig verhinderte ein überwältigendes Verlangen nach einem Zusammentreffen mit meiner Mutter, dass ich das Weite suchte. Meine Gefühle für meine Mutter kamen wie in Wellen auf mich zu.

Ich wollte sie berühren.

Ich wollte mit ihr reden.

Ich wollte von ihr umarmt werden.

Ich wollte ihr sagen, dass ich sie liebte.

Ich wollte von ihr hören, dass sie mich liebte.

All diese Gefühle überkamen mich in diesem Moment.

Sie hatte mich noch nicht bemerkt. Dieses Zusammentreffen war eine einmalige Gelegenheit. Diesmal konnte nichts geplant werden. Diesmal blieb keine Zeit, um sich auszumalen, was alles sein könnte.

Ich ging zu ihr und legte eine Hand auf ihren Unterarm, um sie auf mich aufmerksam zu machen. Sie befand sich zwischen mir und dem Stand, also gab es für sie kein Entkommen. Ehe ich etwas sagen konnte, drehte sie sich um, damit sie sich der Person zuwenden konnte, die offenbar etwas von ihr wollte. Sie lächelte. Dann sah sie mich. Sofort riss sie ihren Arm zurück, ihr Lächeln verschwand, da sie die Lippen schürzte. Ihre abweisende Miene wies keinen Funken Menschlichkeit mehr auf.

»Sind Sie Doreen Clifford?«, fragte ich leise, während sie im Begriff war, die Flucht anzutreten.

Sie verschränkte die Arme, so gut das unter diesen Umständen ging, und baute sich vor mir zu voller Größe auf. Sie schob das Kinn vor und wandte den Blick von mir ab, um nach oben zur hohen Decke des Ballsaals zu schauen.

»Nein, und die war ich auch noch nie!«, fauchte sie und stieß mich weg. Ich taumelte ein paar Schritte nach hinten. Ich war völlig schockiert.

Ich wandte mich ab und rannte zur Damentoilette. Ich stieß die Tür auf, der Raum dahinter war menschenleer. Sonntagabends herrschte hier Hochbetrieb. Ich stürmte in eine Kabine, verriegelte die Tür hinter mir und fing an zu weinen. Aus der Zeit im Waisenhaus hatte ich eine Erkenntnis gewonnen: Wenn ich jemals so tief sinken sollte, dass es nötig sein würde zu weinen, dann war es wichtig, dass ich mich schnell wieder unter Kontrolle bekam. Ich nahm mir die Erkenntnis zu Herzen, bekam mich in den Griff, richtete mich wieder her und verließ die Damentoilette. Zwar war ich immer noch verwirrt, aber ich war wieder Herr über mich.

Im Hauptsaal nahm ich auf einem der vielen Stühle Platz und starrte vor mich hin, während die Besucher hin und her liefen. Mein Verstand war wie leer gefegt, ich konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen. Nach einer Weile beschloss ich, mir an der Bar ein Glas Limonade zu holen. Im Bereich vor der Bar hielten sich vielleicht zwanzig Leute auf. Einige hatten sich an die Tische gesetzt, die meisten standen in kleinen Gruppen zusammen. Nur fünf Frauen waren anwesend, zwei von ihnen saßen an einem der Tische. Eine dieser beiden Frauen war der Grund dafür, dass ich in der Damentoilette Zuflucht gesucht hatte.

Ich ging zur Bar und bestellte eine Limonade. Mit dem Glas setzte ich mich so hin, dass ich die beiden Frauen sehen konnte. Obwohl ich meine Mutter keinen Moment aus den Augen ließ, trafen sich unsere Blicke nicht ein einziges Mal. Aber sie gab sich selbstbewusst. Ich glaube, sie war davon überzeugt, dass es ihr gelungen war, mich – ihre leibliche Tochter – davon zu überzeugen, dass sie nicht meine Mutter war. Wie konnte eine Mutter so etwas ihrer Tochter antun? Wie konnte sie glauben, dass sie mich davon überzeugt hatte, nicht meine Mutter zu sein?

Für mich gab es keinen Zweifel, dass sie meine Mutter war, aber da sie es abstritt, brauchte ich immer noch einen unwiderlegbaren Beweis.

Während ich die beiden Frauen beobachtete, stand die Begleiterin meiner Mutter auf und ging zur Theke, um etwas zu trinken zu bestellen. Ich ging zu ihr und fragte höflich: »Entschuldigen Sie, aber ist der Name Ihrer Freundin zufällig Doreen Clifford?«

»Nein«, erwiderte sie mit einem Anflug von Neugier. »Nein, das ist er nicht.«

»Oh«, sagte ich. »Trotzdem danke.« Es sollte so klingen, als wäre ich einer Verwechslung erlegen.

»Sind Sie mit ihr verwandt?«, hakte sie beiläufig, aber interessiert nach. »Da ist eine gewisse Ähnlichkeit.«

»Nein, ich dachte nur, sie könnte eine Cousine von mir sein«, gab ich zurück.

Ich sah über den Rand meines halb ausgetrunkenen Glases hinweg die Frau an und beschloss, mich von der Theke zu entfernen. Auf dem Weg zur Tür ging ich mit nicht mal einem halben Meter Abstand an der Frau vorbei, bei der ich mir sicher war, dass es sich um meine Mutter handelte. Als ich mich dem Tisch näherte, starrte ich sie an. Unsere Blicke begegneten sich, doch diesmal trotzte sie mir, anstatt wieder woanders hinzusehen. Ich lächelte sie an, weil ich glaubte zu erkennen, dass sie die Lippen ebenfalls zu einem Lächeln verziehen wollte. Doch als ich mich ihr näherte und sie mich weiter starr ansah, da entpuppte sich das freundliche Lächeln als ein boshaft triumphierendes Grinsen.

Sie hatte gewonnen.

Nachdem ich die Bar verlassen hatte, rannte ich zum Ausgang. Als ich den Tanzsaal hinter mir gelassen hatte, verlor ich die Beherrschung und brach in Tränen aus. Abermals verbrachte ich einen Nachmittag damit, schluchzend quer durch die Stadt bis zum Haus von Mrs Cooke zu gehen. Ich war von Traurigkeit überwältigt worden, weil meine Mutter mich abermals zurückgewiesen hatte. Was hatte eine Achtzehnjährige verbrochen, um eine solche Behandlung zu verdienen? Ich hatte keine Ahnung.

Es sollte sechzehn Jahre dauern, ehe ich sie wiedersah.

Vier Wochen nach dieser Begegnung verließ ich endgültig Limerick.