Meine neue Familie verursachte bei mir eine weitere, für mich untypische Verhaltensweise. Mein Leben lang hatte ich immer für mich selbst sorgen müssen. Niemand hatte mir jemals irgendetwas geschenkt. Ich musste meine Finanzen immer sehr genau im Auge behalten. Fürs Sparen konnte ich mich nicht begeistern, trotzdem habe ich nie mit Geld um mich geworfen. Aber jetzt musste ein Angehöriger meiner neu entdeckten Familie nur sagen, dass ihn ein bestimmtes Teil interessierte, schon lief ich los, um es zu kaufen. Völlig beiläufig merkte Avril einmal an, dass sie für zu Hause einen neuen Teppich brauchte. Ich begann sie auszuhorchen, um mehr über ihr bevorzugtes Muster und die Farbe zu erfahren. Danach kaufte ich einen in London und ließ ihn zu ihr nach Limerick schicken. Meine Eltern brauchten einen neuen Fernseher, weil sie noch ein Schwarzweißmodell hatten, also kaufte ich einen tragbaren Farbfernseher und ließ ihn zu ihnen nach Limerick schicken. Videorekorder waren eben auf den Markt gekommen, meine Eltern meinten, so was hätten sie auch gern, also machte sich kurz darauf ein Rekorder auf den Weg zu ihnen. Sie erwähnten beiläufig, dass sie keine Polstergarnitur haben, folglich ließ ich unsere zu ihnen transportieren.
Einmal waren sie bei uns und bewunderten meinen Treppenläufer. »Wollt ihr ihn haben?«, fragte ich. Kurz darauf wurde er aufgerollt, eingepackt und nach Limerick geschickt.
Meine unterbewusste Erklärung für mein irrationales Verhalten zu jener Zeit war, wenn ich ihnen das gebe, was sie haben wollen, werden sie mich akzeptieren und mich zu einem Teil ihrer Familie machen. Ich hätte alles getan, um von dieser Familie akzeptiert zu werden. Anthony kann sich noch gut daran erinnern, wie auf einmal sein BMX-Rad eingepackt und zu seinen Cousins nach Limerick geschickt wurde. Harry schien das nicht zu stören. Wirklich wütend reagierte er nur einmal, als er von der Geschichte vom Pflegeheim erfuhr, die von meinen Eltern in die Welt gesetzt worden war.
Ich wollte für sie eine wichtige Rolle spielen. Ich wollte, dass sie zu ihren Nachbarn und Freunden sagte: »Seht sie euch an, das ist meine Tochter. Das ist meine Schwester. Das ist meine Tante.« Ich wollte diese Worte von ihnen hören, wenn sie sich mit jemandem unterhielten, der nicht zur Familie gehörte. Ich wollte nur, dass sie stolz auf mich waren. Aber das geschah nicht.
Ich hatte das Gefühl, dass sie sich so sehr für mich schämten, dass ich tun konnte, was ich wollte, und dennoch nie akzeptiert werden würde. Innerhalb dieser Familie nahm ich zwar eine Nähe zu bestimmten Leuten wahr, aber als Gruppe betrachtet, hatte ich stets den Eindruck, eine Außenseiterin zu sein. Dabei hätte ich als eine von ihnen gelten müssen. Doch das sollte nicht sein.
Ich war ihr eigen Fleisch und Blut, trotzdem sah man mich als etwas Minderwertiges an. Ich war einfach kein vollwertiger Mensch. Nur weil meine Eltern bei meiner Zeugung und bei meiner Geburt nicht verheiratet gewesen waren, hatte man leichtfertig Entscheidungen treffen können, durch die mein Leben völlig der Willkür anderer ausgesetzt worden war, was umso deutlicher wurde, wenn ich mein Leben mit dem meiner ehelich zur Welt gekommenen Geschwister verglich. Es waren die unterschiedlichsten Dinge, die mir diese Tatsache immer wieder aufs Neue vor Augen führten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie mir bei Kit zu Hause erstmals die Haare mit Shampoo gewaschen wurden, als ich zwölf war. Man muss sich das mal vor Augen halten, dass einem bis zum zwölften Lebensjahr nicht einmal die Haare mit Shampoo gewaschen worden waren. Das war eine Sache, die von jedem anderen in meiner Familie als ein Grundrecht angesehen wurde, das mit der Geburt in Kraft trat. Ich hatte bis dahin nicht mal gewusst, was Shampoo überhaupt war. Ich war ja bis dahin noch nicht ein einziges Mal richtig sauber geschrubbt worden. Als ich bei meinen Pflegeeltern lebte, habe ich mich manchmal in einem Teich gewaschen, der sich an der Ecke eines Feldes in der Nähe des Hauses befand. Dieser Teich hatte sich an einer Stelle gebildet, an der zwei Bäche aufeinandertrafen, die am Grundstück entlang verliefen. Vermutlich sollte der Teich dem Vieh als Wasserstelle dienen, um dort zu trinken und sich zu suhlen. Der Grund war etwas morastig, aber man sank nur ein paar Zentimeter ein. Ich kann mich daran erinnern, wie es dort im Frühjahr von Kaulquappen wimmelte, während das Wasser im Sommer voll von Algen war. Dieser Teich war bis zu meinem zwölften Lebensjahr die einzige Stelle weit und breit gewesen, an der ich mich halbwegs hatte waschen können. Je länger ich mich mit meinen Geschwistern über deren Kindheit unterhielt, umso häufiger dachte ich: »Kein Shampoo, keine Zahnpasta, keine Zahnbürste.« Dabei war das Waschen nur ein Beispiel von vielen. Obwohl uns nur wenige Meilen getrennt hatten, lagen dennoch Welten zwischen ihrem und meinem Alltag.
Meine Beziehung zu meiner neuen Familie und vor allem zu meiner Mutter begann sich zu verschlechtern. Als mein Vater bei mir zu Besuch war und wir bemüht waren, die nicht sehr enthusiastische Thelma doch noch für eine Karriere als Krankenschwester zu begeistern, schickte meine Mutter ihm einen Brief, den er mir auch zeigte. Es war ein detaillierter Brief, in dem es darum ging, wie sehr er ihr fehlte. Sehr viele dieser Details befassten sich damit, wie sehr er ihr in sexueller Hinsicht im Bett fehlte. Sie war wütend, weil er immer noch in London war. Er rief sie an, um sie zu beschwichtigen, aber das führte zu nichts. Ich konnte spüren, dass ihre Wut eigentlich mir galt. Aufgebracht war sie vor allem, weil weder mein Vater noch Thelma sie angerufen hatte.
Mein Vater gab den Hörer an Thelma weiter, die ihre Mutter begrüßte und sie mit »Mud« anredete. Als ich Thelma später darauf ansprach, erklärte sie, das sei ein Spitzname. Sie sagte auch, sie würden untereinander alle irgendwelche Spitznamen verwenden. Tommy war »Toss«, Eileen war »Shinny«, alles keine große Sache, wie sie meinte.
Für mich schon. Ich war eifersüchtig.
Ich war krankhaft eifersüchtig.
Ich fragte mich, ob ich auch einen Spitznamen hatte, aber den hatte ich natürlich nicht.
»Welchen Spitznamen werde ich bekommen?«, wollte ich von ihr wissen.
Thelma lachte nur.
Bei dieser Unterhaltung wurde mir auch bewusst, dass all meine Geschwister mindestens zwei, in einigen Fällen auch drei Vornamen hatte, zum Beispiel Thelma Dolores Ellen. Ich hatte nur einen: Celine. Im Gegenzug hatte ich gleich mehrere Nachnamen. Mir wurde klar, dass ich niemals ein Teil dieser in sich geschlossenen Familie sein würde.
Und wieder erwachte die Eifersucht.
Im Vergleich zu den Umständen, unter denen ich aufgewachsen war, hatten sie das perfekte Leben geführt. Sie hatten Essen, Kleidung, ein Bett, in dem sie schlafen konnten. Bei jedem neuen Anlass, der mir vor Augen führte, wie sehr die anderen mich draußen ließen, wurden entsetzliche Erinnerungen wach. Keiner von ihnen hatte jemals Essen klauen müssen. Ich dagegen hatte immer Hunger gehabt, weil ich kaum etwas zu essen bekommen hatte. Ich musste dann zuschlagen, wenn sich eine Gelegenheit ergab, etwas in den Magen zu kriegen.
Im Sommer konnte ich rohes Gemüse essen, das auf den Feldern ringsum angebaut wurde. Ich aß rohe Kartoffeln, Kohlrüben, Steckrüben, Kohl und Zwiebeln, alles, was ich irgendwie finden konnte. Im Spätsommer ernährte ich mich von Pilzen auf den Feldern, außerdem von Blaubeeren, Erdbeeren und Himbeeren, die an den Sträuchern wild wuchsen. Im Winter und zu anderen Zeiten im Jahr konnte ich mich immer noch darauf verlassen, was die katholische Kirche zu bieten hatte. Wenn es hart auf hart kam und ich wirklich das Gefühl hatte, jeden Moment vor Hunger zusammenzubrechen, ging ich in die katholische Kirche in Kilmallock und aß die Wachskerzen. Von denen gab es immer einen großen Vorrat für die Leute, die für einen Penny eine Kerze anzünden wollten, weil etwas Wichtiges in ihrem Leben geschehen war.
Ich nehme an, die Leute glaubten, in eine besondere Verbindung zu Gott zu treten, wenn sie eine von den Kerzen anzündeten. Angeblich war er dann geneigter, sich ihre Bitten anzuhören, wenn man für einen Penny eine Kerze aufgestellt hatte. Bis heute kann ich das Wachs auf meiner Zunge schmecken. Heute ist mir klar, dass ich großes Glück gehabt hatte, nicht dabei ertappt zu werden, wie ich eine von den Kerzen aß. Bestimmt hätte man mich festgenommen und vor Gericht gestellt, aber man hätte mich bestimmt nicht meinen Pflegeeltern weggenommen. Wenn sie davon erfahren hätten, wäre ich von ihnen sicher umgebracht worden. Es war ja schon schlimm genug zu wissen, dass Gott und die Mutter Gottes mich unter Beobachtung gestellt hatten und mich jederzeit holen konnten. Ich glaubte, sie würden wirklich existieren und könnten mich in die Hölle schicken. Ich sah immer zu den Bleiglasfenstern hinauf, die die vielen Heiligen zeigten, wie sie auf mich herabsahen. Ich wusste, sie beobachteten mich dabei, wie ich die Kerzen aß.
Auch wenn ich davon nichts wusste, war mein Ruf zu der Zeit sicher nicht besonders gut. Die Kinder und die Erwachsenen aus der Gegend beschimpften mich gleichermaßen. Ich genoss kein gutes Ansehen. Die Leute riefen mir »heißer Feger« und »Prostituierte« und »Hure« und vieles andere hinterher. Ich wusste nicht, was diese Worte im Einzelnen bedeuteten, aber der gehässige Tonfall der Leute machte mir klar, dass es nichts Gutes sein konnte.
Als ich zehn war, hatte sich mein Körper an den Missbrauch und die damit einhergehenden Schmerzen gewöhnt. In der unteren Körperhälfte nahm ich einfach keinen Schmerz mehr wahr. Wenn Männer mich missbrauchen wollten, machten sie das auch, vorausgesetzt meine Pflegemutter hatte es ihnen erlaubt. Erst nach einer Weile verstand ich, dass die Männer meiner Pflegemutter Geld gaben, damit sie mich »ficken« durften.
Ich stellte auch fest, wenn sie Geld bekommen hatte, weil mich jemand »ficken« wollte, dann behandelte sie mich ein wenig so, als wäre sie stolz auf mich. »Gut gemacht, du kleiner heißer Feger«, sagte sie dann, während sie mich zur Seite schubste oder mir auf eine wohl aus ihrer Sicht spielerische Weise einen Klaps auf den Hinterkopf gab und dann das Geld zählte. Ein Schubser war das Äußerste, was ich von meiner Pflegemutter an körperlicher Zuneigung erwarten konnte. Die meiste Zeit war sie so gehässig zu mir, dass ich nicht wagen konnte, mich in ihre Nähe zu begeben und etwas Zuneigung von ihr zu bekommen. Allerdings konnte sie noch viel netter zu mir sein, wenn ich ihr das Geld gab, das ich durch Eigeninitiative verdient hatte.
Ich muss sagen, dass manche Männer, die mich »ficken« wollten, sich zuvor mir gegenüber ganz nett verhielten, und ein paar von ihnen konnten sogar noch nett zu mir sein, wenn alles erledigt war. Begegneten sie mir auf der Straße, dann ignorierten sie mich ganz bewusst. Lief ich ihnen aber dort über den Weg, wo niemand sonst unterwegs war, dann unterhielten sie sich mit mir und sagten mir nette Dinge. Sie gaben mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Aber es lief immer darauf hinaus, dass sie sagten, sie wollten mich wieder »ficken«.
Als ich zwölf war, gab mir ein Mann in Kilmallock, den ich nur als »Arbeiter von Hannons Hof« kannte, einen Zehn-Shilling-Schein unter der Bedingung, »dass ich dich auf dem Friedhof ficken darf«. Das geschah über den Sommer hinweg viele Male, immer im hohen Gras nahe den immergrünen Bäumen gleich neben der massiven Stadtmauer, hinter der erstaunlich großen Kirche in Kilmallock. Ich erinnere mich noch gut, dass ich auf dem Rücken lag. Während er Sex mit mir hatte, betrachtete ich den Kirchturm und überlegte, dass der so groß war, dass er wohl den Himmel berühren musste. Wenn er fertig war, war er immer sehr nett zu mir. Er zog meine Kleidung zurecht und strich sie glatt. Er gab mir jedes Mal zehn Shilling, ermahnte mich, niemandem ein Wort über uns zu sagen, und sagte mir, wann wir uns wieder hinter der Kirche treffen würden.
Wenn ich das Geld meiner Pflegemutter gab, war sie sehr zufrieden mit mir. »Ein Zehner, sieh an. Dieser elende alte Soundso muss es ja dringend nötig haben. Was hat die Kirche ihm bloß getan? Gutes Mädchen bist du.« Dabei wusste ich gar nicht, was ich da eigentlich tat. Wie sollte ein zehn Jahre altes Mädchen Nein sagen und weggehen, wenn jemand was von ihm wollte? Natürlich wendete sich für mich alles nur zum noch Schlechteren, wenn ich meiner Pflegemutter dieses Geld gab. Dann schickte sie mich nämlich zu Meade's Pub, um Guinness und Whiskey zu holen. Das bedeutete, dass es eine Party geben würde, bei der sich alle betrinken würden. Als mein Pflegevater noch lebte, betrank der sich über alle Maßen. War er erst mal blau, dann wurde er aggressiv und schlug auf jeden ein, der ihm zu nahe kam. Nur meine Pflegemutter schlug er nie, denn vor ihr hatte er Angst. Sie war durchaus in der Lage, sich gegen jeden zu behaupten. Hätte er sie geschlagen, dann hätte er doppelt so viele Schläge von ihr einstecken müssen. Er ging nur auf die los, die sich nicht verteidigen konnten. Ich wurde mit dem Ledergürtel von ihm so brutal verprügelt, dass ich oft vor Schmerzen tagelang nur daliegen konnte, ehe ich wieder in der Lage war, mich zu rühren. Nach und nach lernte ich, auf das Verhalten unseres Hundes Spot zu achten. Wenn sie beide allmählich betrunken waren, zog Spot sich zurück und versteckte sich irgendwo. Er spürte, dass etwas anders war, und fühlte sich in der Nähe der beiden unbehaglich. Das war für mich das Zeichen, mich an meinen Schlafplatz zurückzuziehen. Da lagen Spot und ich zusammengerollt und hofften, dass niemand an uns dachte. Wenn das Maß an Trunkenheit noch weiter anstieg, verschwand Spot ganz und gar, indem er sich unter einen flachen Schrank zwängte, wo niemand an ihn herankam. So viel Glück hatte ich nicht. Und nachdem mein Pflegevater gestorben war, bedeutete eine Party, dass dieselben Männer wie sonst vorbeikamen und ich überhaupt nicht mehr in Ruhe gelassen wurde.
Eine gravierende Folge meines Zusammentreffens mit allen Angehörigen meiner leiblichen Familie war das Auftreten dieser »Rückblenden«. Bis dahin hatte ich damit kaum etwas zu tun gehabt. Ich vermute, sie wurden dadurch ausgelöst, dass ich durch die Begegnungen mit all diesen Leuten und meiner heftigen Eifersucht auf ihr Leben verstärkt an meine schreckliche Vergangenheit erinnert wurde. Ich konnte einfach nicht anders, als meine unglückliche Kindheit mit den Umständen zu vergleichen, unter denen meine Geschwister aufgewachsen waren und die zumindest ich als idyllisch wahrnahm. Die Rückblenden, unter denen ich bis heute leide, können mich manchmal regelrecht depressiv machen. Abhängig davon, wie schmerzhaft die jeweilige Erinnerung ist, kann es sogar mehrere Tage dauern, bis ich mich davon erholt habe. Von ganzem Herzen wünsche ich mir, jemand könnte mich von diesen Albträumen befreien.
Nach meiner Totaloperation rief mein Vater jeden Abend im Krankenhaus an. Als ich wieder zu Hause war, rief er mich dort jeden Abend an. Das sorgte für einen Riss in der Beziehung zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Bei einem dieser Telefonate erwähnte ich, dass es mir zu Hause schlechter ging als im Krankenhaus, da meine Mutter und Harry sich ständig stritten.
Sofort schlug er vor: »Komm heim nach Limerick, dann kannst du dich sechs Wochen lang ganz in Ruhe erholen.«
Mir war zwar inzwischen klar, dass er weit davon entfernt war, ein perfekter Vater zu sein, dennoch erfüllte er mich immer noch mit Ehrfurcht. Er war nach wie vor der Mensch gewordene Traum von meinem Vater, wie ich ihn mir all die Jahre über vorgestellt hatte, als ich nichts über ihn gewusst hatte.
Ich respektierte ihn, deshalb ging ich zögerlich auf sein Angebot an, mich sechs Wochen lang im Schoß meiner Familie zu erholen. Ich war mir wirklich nicht sicher, ob ich es tun sollte. Ich musste die Kontrolle über mein Leben jemandem in die Hände legen, den ich eigentlich gar nicht richtig kannte, und genau das bereitete mir Unbehagen.
Ich ließ Mutter meine Reisepläne wissen, daraufhin wollte sie ebenfalls so schnell wie möglich abreisen. Sie konnte es nicht erwarten, Harry und das Haus in London hinter sich zu lassen. Ronan und ich würden gemeinsam mit meiner Mutter nach Limerick aufbrechen, während Harry in London blieb und auf Anthony aufpasste, der noch in der Schule war.
Da mir das Krankenhaus strikt verboten hatte, irgendetwas Schweres zu heben oder zu tragen, musste ich als Hilfsbedürftige reisen. Ich kaufte die Flugtickets für Ronan und mich, dann fuhren wir drei nach Heathrow.
Als wir an Bord gehen konnten, durfte Mutter uns nicht begleiten. Sie hatte ein Standby-Ticket, aber in der Maschine gab es keinen freien Platz mehr, den man ihr hätte geben können. Sie war außer sich vor Wut.
Als Ronan und ich im Rollstuhl Richtung Flugzeug geschoben wurden, war das letzte Bild, das ich von meiner Mutter sehen konnte, das einer vor Zorn schreienden Frau, die von zwei uniformierten Sicherheitsleuten zurückgehalten wurde. Mir ging es zu schlecht, als dass ich mich darum hätte kümmern können. Ich tat so, als würde ich sie gar nicht kennen. Ich wusste, am Ende des Flugs wartete mein Vater auf mich, und das spornte mich dazu an, möglichst schnell an Bord zu gehen.
Mein Vater holte uns in Shannon ab und fuhr mit uns nach Janesboro. Ich erzählte ihm, was mit Mutter geschehen war, aber das war für ihn kein Grund zur Sorge. »Sie weiß, dass sie mit so was rechnen muss. Früher oder später ist ein Platz für sie frei.« Als wir zu Hause ankamen, wurde ich sofort ins Bett gebracht. Meine Schwester Rosaleen freundete sich schnell mit Ronan an.
Am nächsten Tag war von Mutter noch immer nichts zu sehen und zu hören. Es war ein wundervoller, ruhiger Tag. Am Tag danach wurde die Haustür von einem Hurrikan aufgerissen. Mutter war wieder da.
Sie war auf jeden und alles wütend. Nachdem sie keinen Platz in der Maschine bekommen hatte, war sie notgedrungen mit dem Taxi zu uns nach Hause gefahren. Sie klopfte an, und als Harry die Tür öffnete, stürmte sie an ihm vorbei nach drinnen. Sie verlangte von dem völlig verdutzten Harry, dass er sie am nächsten Tag nach Heathrow fahren sollte. Er fand einen Vorwand, warum er dafür nicht zur Verfügung stand. Unter keinen Umständen hätte er sie zum Flughafen gefahren, nachdem er sich ihre Beleidigungen hatte anhören müssen. Harry ist in fast jeder Hinsicht ein großzügiger Mensch, und er hätte jeden anderen auf der Welt nach Heathrow gefahren, bevor meine Mutter an der Reihe gewesen wäre. Also musste sie ein Taxi nehmen.
Nun ist Shannon einer der kleineren Flughäfen in der Welt der Fluglinien, und es starten jeden Tag nur recht wenige Maschinen mit diesem Ziel. Und die sind üblicherweise ausgebucht, weshalb ein Standby-Ticket keine gute Idee ist. Es kostet zwar nicht viel, aber es kommt schnell vor, dass man eine ganze Weile warten muss. Es war jedoch nicht die verlorene Zeit, die meine Mutter so ärgerte, sondern es war das unwürdige Bild einer Pfennigfuchserin, die möglichst billig von A nach B kommen wollte.
Auch am nächsten Tag gab es für sie keinen freien Platz. Abermals musste sie mit dem Taxi zu Harry fahren, abermals stürmte sie an ihm vorbei ins Haus. Er hatte nicht damit gerechnet, sie so schnell wiederzusehen, ansonsten hätte er ihr nicht die Tür aufgemacht. Diesmal verlangte sie nicht von Harry, sie zum Flughafen zu fahren. Sie schien verstanden zu haben, dass sie sich das aus dem Kopf schlagen konnte. Beim dritten Anlauf war dann endlich ein Platz für sie frei.
Nachdem sie wieder daheim war, legte sie sich erst mal ins Bett. Sie kam nie auf die Idee, früher aufzustehen, um sich um mich zu kümmern. Jeden Morgen ging mein Vater in dem Glauben zur Arbeit, dass ich von meiner Mutter versorgt wurde. Ich musste aber jeden Morgen den Ofen anmachen, ich musste für Ronan und mich selbst und für jeden kochen, der sonst noch im Haus war oder vorbeikam. Wenn Mutter aufwachte, beklagte sie sich als Erstes darüber, dass Ronan und ich ihr die Haare vom Kopf fressen würden. Sie bekam Wutanfälle über unsere Essgewohnheiten. Ich versuchte ihr zu erklären, dass sie zu viele Tabletten schluckte, was vor allem das Valium betraf. Ich war der Ansicht, dass das Valium der Grund für ihr irrationales Verhalten mir gegenüber war. Sie nahm Aufputschmittel und Beruhigungsmittel gleichzeitig, dazu noch ein ganzes Arsenal von anderen Tabletten. Es war einfach unglaublich. Ich war in Sorge um sie, aber sie hielt das für eine Einmischung in ihre Angelegenheiten.
Einmal mehr half mir niemand, und mein Gesundheitszustand verschlechterte sich von Tag zu Tag. Zu der Zeit wog ich nur noch knapp über vierzig Kilo. Ich dachte, ich müsste sterben, und ich wollte nur noch zurück nach London. Jedes Mal, wenn ich das meinem Vater sagte, überredete er mich zu bleiben und beteuerte, dass meine Mutter mich sehr wohl bei sich haben wollte und dass sie mich liebte. Sobald er zu Hause war, tat sie so, als wären wir die besten Freunde. Einmal forderte mein Vater uns auf, dass wir uns umarmen sollten. Diese Umarmung verriet mir, dass sie in diesem Moment an jedem anderen Ort auf der Welt hätte sein wollen, nur nicht bei mir. Ich konnte es spüren, wie sie sich verkrampfte, als ich die Arme um sie legte.
Durch die viele körperliche Arbeit, die ich leisten musste, war ich völlig erschöpft. Dazu kamen die vielen Diskussionen und Auseinandersetzungen mit meiner Mutter. Es war offensichtlich, dass sie mich nicht in ihrem Haus haben wollte, während mein Vater fest daran glauben wollte, dass meine Mutter mich sehr wohl um sich haben wollte. Er betrachtete meine Mutter aus einer anderen Perspektive als ich. Er mochte sich nicht vorstellen, dass sie irgendeinen schlechten Charakterzug an sich haben könnte.
Als ich in Limerick war, hatten auf einem nahe gelegenen Feld Traveller ihre Wohnwagen abgestellt. An einem Tag kamen ein paar Kinder mit einer kleinen Blechdose zum Haus und fragten meine Mutter, ob sie etwas Wasser haben könnten. Mutter weigerte sich und verscheuchte sie, indem sie mit einer Bürste hinter ihnen herrannte. Ich war entsetzt und wütend. »Wie kannst du einem anderen Menschen einen Schluck Wasser verbieten?«, schrie ich sie an.
Sie stand nur da, sah mich an und sagte kein Wort.
Ronan spielte und unterhielt sich mit den Kindern; sie hatten gemeinsam viel Spaß. Und er fand es lustig, wie sie das Wort »Wasser« aussprachen, weil sie dabei versuchten, seinen englischen Akzent nachzuahmen. Eines Abends bat Ronan in Gegenwart einiger Nachbarn meine Mutter um eine Tasse Tee, allerdings im breitesten Limerick-Dialekt. Das war ihr so furchtbar peinlich, dass sie vor Entsetzen fast einen Herzstillstand zu bekommen schien. Ronan fand ihre Reaktion so lustig, dass er das noch tagelang wiederholte. Ich hörte die von Herzen kommenden Lacher derjenigen, die ihn so reden hörten, und fand, dass das Ganze nichts weiter als ein unschuldiger Spaß war. Ich sah mir die Kinder der Traveller an und musste darüber nachdenken, wie schlecht angezogen sie waren und wie zerzaust sie aussahen. Sie waren von Wind und Wetter gegerbt und wirkten so, als würden sie sich nie waschen.
Vermutlich erkannte ich mein junges Ich in den Kindern wieder und spürte, dass Mutter auch mich ablehnte, wenn sie die Kinder ablehnte.
Nach drei üblen Wochen brachte ich endlich den Mut auf, nach London zurückzukehren.