Kapitel 7

Chenxi stand dicht an der Wand. Er hatte die Arbeit an einer Seite des Bildes beendet, das mit Reißzwecken an der Wand befestigt war, und stand nun auf einem Stuhl und streckte sich zur oberen Ecke. Pinselstrich für Pinselstrich trug er die Tuschelagen auf, erschuf eine allmähliche Schwärze. Graue Wellen kräuselten sich, eine Reihe von Einkerbungen, die in dem Kontrast zwischen Hell und Dunkel scharf wirkten.

In der oberen rechten Ecke bluteten Tuschetropfen in das poröse Reispapier, blassgraue Spritzer wie die Flecken auf einem Vogelei. Unter diesem Bereich zogen sich schwarze Schlitze von trockenen Pinselborsten in nasser Farbe, deuteten nach oben und in die Tiefe, wie ein zerklüfteter Berggipfel oder vielleicht ein offenliegender Rippenbogen. Die Ecke, an der Chenxi jetzt arbeitete, war eine Mischung aus weichen grauen Pinselstrichen und dunklen, nassen Pfützen aus schwarzer Tusche, feuchtes Haar oder modriges Laub vielleicht.

Er hielt nie inne, um sein Werk zu betrachten. Es erwuchs aus eigenem Antrieb unter seinen Händen, atmete, nahm Leben an durch die sanfte Ermutigung seines Schöpfers. Jeder Strich mit dem Pinsel war wie das behutsame Freilegen einer archäologischen Kostbarkeit. An dieser abstrakten Verschmelzung aus Formen und Schattierungen war nichts Vertrautes, aber es war so harmonisch vollkommen wie das Werk eines großen Meisters, ob aus dem Osten oder dem Westen.

Chenxi trat zurück. Lao Li öffnete schläfrig die Augen und warf ihm von seinem Stuhl aus, den er mit der Rückenlehne gegen den Fenstersims gelehnt hatte, einen Blick zu. »Fertig?«

»Da ist jemand an der Tür«, sagte Chenxi, ohne die Augen von seinem Gemälde zu nehmen.

Lao Li schaute zur Tür, und tatsächlich: Die Ausländerin spähte durch das in der Tür eingelassene Fenster. »Woher wusstest du das?«, wollte Lao Li wissen und stand auf, um sie hereinzulassen.

»Sie steht schon eine ganze Weile da. Ich habe mich gefragt, wie lange es dauern würde, bis sie den Weg zurück findet.«

Lao Li schloss die Tür auf und öffnete sie für Anna. Chenxi zog die Reißzwecken eine nach der anderen aus dem riesigen Stück Papier an der Wand.

»Warte«, sagte Anna. »Darf ich’s mir ansehen?«

Chenxi zuckte mit den Schultern und steckte die Reißzwecken wieder fest.

Durch die staubige Türglasscheibe hatte Anna das Bild nur undeutlich sehen können, deshalb betrachtete sie es jetzt genau.

Chenxi lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was du denken?«

Anna verengte die Augen und zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne. »Ich denke, du solltest diesen runden Teil hier etwas abdunkeln, wenn du den Eindruck erwecken willst, dass der Vordergrund vom Hintergrund getrennt ist …«

Chenxi drehte sich überrascht um.

»Oder aber du müsstest diesen Mittelstreifen etwas heller machen. Nein, ich glaube, die Schattierung wäre effektiver, meinst du nicht auch?« Sie schaute zu Chenxi, dessen Mund weit offen stand. Lao Li betrachtete die beiden und grinste.

»Ähm … ja. Das ich überlegen auch. Ich wusste nicht, ob besser dunkler oder heller …«

»Das ist nur meine Meinung«, fügte Anna hinzu. »Ansonsten denke ich, dass es wunderbar ist. Es wirkt so gelassen und gleichzeitig voller Energie …«

»Gelassen?«

»Ruhig. Still. Friedlich.«

Chenxi nickte.

»Dieses Kräuseln dort drüben hält alles zusammen …« Anna betrachtete das Bild noch genauer. Es schien vor ihren Augen zu vibrieren.

Chenxi ging auf sie zu. Er räusperte sich. »Ich nicht bin sicher über diesen Teil. Vielleicht zu viel?«

Anna trat ein Stück zurück. »Nein, es ist gut. Du hast nur zu lange daran gearbeitet. Du musst es eine Weile weglegen und dann, in ein paar Tagen, wieder anschauen, mit einem neuen Blick. Es ist wirklich toll, Chenxi. Wenn du noch diese Sache mit dem Vorder- und Hintergrund herausarbeitest, ist es perfekt. Ganz und gar harmonisch.«

»Harmonisch?«

»Ausgewogen. Ausgeglichen. Ähm … du weißt schon, wie zwei Gegensätze, die ohne einander nicht existieren können.«

Chenxi lächelte. »Du meinen wie Yin und Yang?«

Diesmal war es Anna, die verwirrt dreinschaute.

»Yin und Yang. Nacht und Tag. Frau und Mann …«

»Genau!«

Chenxi wandte sich zu Anna und schaute ihr zum ersten Mal in die Augen. »Mmm. Du geben mir gutes Kompliment«, sagte er. Die Zeit schien stillzustehen und sich in die Ewigkeit zu dehnen, ehe er wieder wegschaute.

Anna merkte, wir ihr Gesicht brannte. Sie hatte ihn erreicht. Sie hätte nie gedacht, dass es auf diese Weise geschehen könnte. Noch vor wenigen Augenblicken war ihr alles falsch vorgekommen, und plötzlich schob sich ihr ganzes Dasein an die richtige Stelle. Sie hielt Chenxis Blick so lange stand, wie sie es vermochte, und stellte sich dabei vor, wie sie ihn in ihre Arme zog und dieses honigweiche Gesicht mit ihren Küssen bedeckte. So war es also, wenn man seine fehlende Hälfte fand. Ich bin Yin und er ist Yang. Sie wusste, dass sie ihre Gefühle für ihn nicht unterdrücken konnte. Ihr fatalistisches Herz sagte ihr, dass es Bestimmung war.

Es klopfte an der Tür und Lao Li stakste hin, um zu öffnen.

Chenxi drehte sich wieder zur Wand und zog die Reißzwecken aus seinem Bild. Er rollte das Papier zusammen und schob es unter seinen Arbeitstisch. Dabei schaute er Anna kein einziges Mal an.

Der korpulente Junge mit dem Mondgesicht kam herein. Er spürte, dass sich etwas in dem Raum verändert hatte, schaute sich misstrauisch um und holte sich dann eine Staffelei aus der Ecke. Lao Li schien wie aus einer Trance zu erwachen, sprang auf und zog sich ebenfalls eine Staffelei heran. Anna stand auf, aber Lao Li bedeutete ihr, zu bleiben, wo sie war, und brachte ihr eine Staffelei. Er lächelte sie an.

»Xiè xiè«, sagte sie langsam und betont.

»Bu yong xiè«, antwortete er, diesmal ohne zu lachen. »Gern geschehen.«

Lao Li legte Papier auf Annas Staffelei, und als er merkte, dass sie keine Kohlestifte hatte, lieh er ihr welche von seinen. Chenxi beschäftigte sich mit seiner eigenen Staffelei, aber Anna spürte, dass er ihr von Zeit zu Zeit einen Blick zuwarf.

Nachdem die anderen Studenten eingetroffen waren und sich mit Staffeleien versorgt hatten, kam Lehrer Dai mit einer jungen Bauersfrau herein. Sie trug ein blauweißes Batikgewand und errötete, als sie Anna sah. Sie wimmerte Dai Laoshi etwas ins Ohr und starrte dabei unentwegt Anna an, wie ein verängstigtes Tier. Aber Dai tätschelte ihr bloß die Schulter und führte sie zu einem großen Rohrstuhl.

»Sie nicht wollen Kleider ablegen mit ausländischem Teufel im Raum!«, flüsterte Chenxi spitzbübisch. »Sie vom Land. Sie vielleicht niemals sehen ausländische Teufel. Sie denken, du essen ihr … Wie sagt man? … inneren Geist.«

Ihre Seele, dachte Anna, und sagte, zu Chenxi gewandt: »Sag ihr, dass ich in Australien schon viele Nacktmodelle gemalt habe.«

Chenxi lächelte und nickte, aber er übersetzte Annas Worte nicht. Anna machte das nichts aus. Sie fühlte, dass sie jetzt ein Geheimnis teilten, das sie vom Rest der Klasse absetzte. Der Gedanke durchzuckte sie wie ein elektrischer Schlag.

Sie war angenehm berührt von der Ernsthaftigkeit und der Reife der Studenten im Umgang mit der jungen Frau. Sie schaute sich um und sah, dass sie alle angefangen hatten, das Modell zu zeichnen, und zwar bekleidet. Wenn die Frau ihre Kleider nicht ablegen wollte, gab es deshalb anscheinend keine Diskussion. Und so machte sich auch Anna an die Arbeit. Sie hatte seit Monaten nichts mehr gezeichnet, seit Ende der Schule, und sie brauchte eine Weile, um warm zu werden. Aber es dauerte nicht lange und ihre Hand wurde locker und geschmeidig, und dann schien sie sich wie von selbst zu bewegen.

Als Anna das dritte Blatt Papier zur Hand nahm, war die junge Frau in der drückenden Hitze eingeschlafen. Ihr Kopf war zur Seite gerollt, der Ausschnitt ihres Gewandes war verrutscht und enthüllte eine kleine cremeweiße Brust. Das lange Haar fächerte über ihren bleichen Oberkörper, schwarz auf weiß. Anna schattierte gerade die Linien der Rippen, als sie fühlte, wie der Lehrer hinter sie trat und anerkennend und überrascht mit der Zunge schnalzte. Sie war sehr zufrieden mit dem Fortgang ihrer Arbeit.

»Mmm … Bu zuo. Bu zuo«, murmelte er, ehe er weiterging.

»Er sagen: ›Nicht schlecht.‹«, flüsterte Chenxi hinter seiner Staffelei hervor.

»Nicht schlecht?« Anna hob die Augenbrauen, enttäuscht über dieses magere Lob.

Chenxi kicherte. »In China Lehrer niemals sagen ›Sehr gut‹. Er nur sagen: ›Nicht schlecht‹. Wenn Lehrer sagen ›Nicht schlecht‹, dann du sehr glücklich. Nur neunzig Jahre alte Meister können sein hen hao – sehr gut! Du bist wie alle Ausländer. Zu stolz!«

Anna runzelte die Stirn. Diese Art von Kritik war sie nicht gewohnt. Unfähig, ihre Neugier im Zaum zu halten, beugte sie sich zur Seite, um Chenxis Arbeit zu betrachten. Sie war sprachlos angesichts der mangelnden Originalität des Bildes.

»Das ist scheiße!«, winkte Chenxi verächtlich ab.

Sie musste zugeben, dass er recht hatte. Besonders nach dem, was sie erst vor einer halben Stunde von ihm gesehen hatte. Der Zeichnung fehlte jegliches Gefühl. Die Proportionen waren vollkommen, alles war am richtigen Platz, aber die Frau in dem Bild hatte nichts Besonderes, nichts Einzigartiges an sich. Es war irgendeine beliebige Frau. Sie besaß keine Wärme, nichts, wodurch sie sich hervorgehoben hätte; ihr Gesicht war eine leere Maske, ihr Körper der einer Statue. Anna musste an die Propagandaposter von glücklichen Arbeitern aus der UdSSR der fünfziger Jahre denken. Starke, gesund wirkende Menschen, aber alle völlig identisch. Männer, Frauen und Kinder, abgebildet nach dem Einheitsprinzip.

Anna schlenderte zu Lao Li und sah auf seinem Tisch das gleiche Bild, nur aus einem anderen Winkel. Ebenso bei Mondgesicht. Es waren alles perfekt produzierte, uniformierte Zeichnungen. Und der Lehrer, der hinter den Studenten auf und ab ging, nickte zufrieden oder korrigierte hier und da ein paar Linien.

Die studierte Einförmigkeit war beängstigend. Das war kein Zufall. War dies ein aufgezwungener Stil, ein Kompromiss? Wurde den Studenten eingebläut, auf diese Art Kunst zu produzieren, oder hatten sie bloß erkannt, was von ihnen erwartet wurde?

Sie betrachtete Chenxi, der mit ausdruckslosem Gesicht an seiner Skizze arbeitete, und sie fragte sich, ob sie wirklich und wahrhaftig einen Blick in sein wahres Inneres getan hatte.

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Anna saß schweigend auf dem Gepäckträger seines Fahrrads und überlegte, wie sie Chenxi all die Fragen stellen sollte, die sich in ihren Gedanken drängten. Während er sich durch den Verkehr schlängelte, stellte sie sich vor, wie er auf der elfenbeinfarbenen Couch in dem stillen Apartment ihres Vaters saß. Sie würde ihm Tee kochen und dann würden sie sich zusammensetzen und reden. Sie würden sich kennenlernen. Vielleicht würden sie sich küssen.

Als sie die Straße erreichten, in der Annas Vater wohnte, rief sie Chenxi von hinten zu: »Kommst du noch mit hoch und trinkst etwas?«

Chenxi fuhr langsamer, als sie sich dem Tor näherten, und steuerte auf die gegenüberliegende Straßenseite zu.

Anna rutschte vom Gepäckträger und wartete auf seine Antwort.

»Nein, danke«, sagte er und warf einen Blick hinüber zu dem Torwächter.

Anna war wie vor den Kopf gestoßen. War er mit Absicht so widerspenstig? »Ach komm! Du bist den ganzen Weg gefahren. Komm doch mit hoch und setz dich ein paar Minuten. Es wäre doch verrückt, jetzt gleich in dieser Hitze wieder zurückzufahren. Trink doch wenigstens einen Tee.«

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Torwächter sie und Chenxi beobachtete.

»Nein, danke. Ich müssen nach Hause«, sagte Chenxi und schwang sein Bein über das Fahrrad. »Wir uns sehen morgen in Akademie.«

Verwirrt schaute ihm Anna nach, bis er um die Ecke bog und ihren Blicken entschwand.