Kapitel 10

Die Lichter funkelten und tanzten im Swimmingpool des Konsulats. Gezwungen klingendes Gelächter und das Klirren von Glas zogen um die Veranda des alten, zweistöckigen Gebäudes, gemeinsam mit dem schweren Geruch nach Parfüm und Schweiß. Anna hielt nach Chenxi Ausschau, für den Fall, dass er früher gekommen war, aber weit und breit war kein Chinese in Sicht. Der einzige asiatisch aussehende Mann sprach mit einem schweren amerikanischen Akzent. Obwohl es Abend war und eine leichte Brise wehte, waren alle Ausländer mit einem Schweißfilm überzogen, als ob sie sich in einem beständigen Angstzustand befänden. Einige der kahl werdenden Herren hatten Taschentücher mit eingestickten Monogrammen dabei, die sie von Zeit zu Zeit aus ihren Brusttaschen zogen, um sich damit die Stirn abzutupfen. Die Frauen schlugen nach Moskitos, die sich auf ihren nackten Fußgelenken niederließen.

Anna langweilte sich. Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und lauschte mit einem Ohr dem Geplapper um sie herum. Warum waren diese Leute hier? Was hatte sie nach China geführt? Als Ausländer hier zu leben, war vermutlich so ähnlich wie ein Hollywoodstar zu sein. Es war eine unwirkliche Existenz. Obwohl sie sich darüber beklagte, dass sie in den Straßen angestarrt und angefasst wurde, war es ein bisschen so, als wäre man berühmt. Ein ständiger Ego-Trip. War das der Grund, warum all diese Leute hier waren? Weil sie in ihren Heimatländern unwichtig waren?

»Ach, hallo!« Eine Frau in einem Cocktailkleid und mit glitzerndem Nagellack schwebte auf sie zu. »Du musst Anna sein. Dein Vater hat mir erzählt, dass du zu Besuch kommst. Wie gefällt es dir hier?«

Anna hatte keine Lust, die brave Tochter zu spielen. Ihr Vater ergriff sowieso gleich das Wort und sprach an ihrer Stelle, wie sie es erwartet hatte. Er behauptete, sie sei in China, um ihren »Horizont zu erweitern« und ein bisschen Mandarin zu lernen, um ihrer »Karriere auf die Sprünge zu helfen«. Während Anna geistesabwesend lächelte, behielt sie das Eingangstor im Auge. Sie hatte Chenxi heute beim Abschied erklärt, dass er, falls er vielleicht kommen würde, vielleicht auch hineingehen sollte. Sie würde jedenfalls nicht den ganzen Abend lang vor dem Tor auf ihn warten.

Eine Gruppe junger Leute schlenderte durch das Tor, ausländische Studenten, und Annas Vater stieß sie an. Sie betrachtete die Gruppe flüchtig und erblickte einen, von dem sie vermutete, dass es der französische Student war, den ihr Vater für sie auserkoren hatte. Er hatte dickes, lockiges braunes Haar, ein attraktives Gesicht und trug cremefarbene Leinenhosen und ein Seidenhemd. Aber jegliches Interesse, das sie aufzubringen versuchte, wurde von dem Gedanken an Chenxi im Keim erstickt.

Anna entschuldigte sich und zog sich aus der Unterhaltung zurück. Sie schlängelte sich durch die schwitzenden Körper zu einem Klapptisch, der als Bar diente. Sie spießte einen Käsewürfel mit einem Zahnstocher auf. Sie wusste, dass sie bemerkt worden war. Sie nahm ein Champagnerglas und fühlte, wie der Franzose neben sie trat. Er beugte sich vor sie, um sich ein Glas Bier zu nehmen, und stieß dabei gegen ihren Arm.

»Oh, Entschuldigung!«, sagte er mit gespielter Überraschung.

Anna lächelte, beeindruckt von seiner lässigen Anmache. Er passte in das Bild, das sie sich von einem Franzosen machte.

»Ich heiße Laurent. Studierst du hier in Shanghai?«, plauderte er munter drauflos.

»Anna. Ich studiere chinesische Malerei an der Akademie der Bildenden Künste.«

»Oh!«, sagte er und tat so, als sei er wahnsinnig fasziniert. »Du bist eine Künstlerin!«

»Ich hoffe, dass ich es eines Tages sein werde.«

»Ich kenne die Akademie. Sie liegt auf der anderen Seite des Flusses, gegenüber der Universität. Ich studiere Mandarin. Du solltest mal zu uns kommen und uns besuchen.« Er deutete auf die anderen Studenten, die mit ihm angekommen waren. »Wir veranstalten tolle Partys!«

»Vielleicht«, erwiderte Anna unverbindlich und schaute wieder zum Eingangstor. Entweder hatte sich Chenxi erheblich verspätet, oder er kam nicht.

Laurent bemerkte ihren Blick. »Wartest du auf jemanden?«

»Mmm«, nickte sie. »Auf jemanden aus der Akademie.«

»Männlich oder weiblich?«, fragte er weiter mit einem verschmitzten Lächeln.

Anna gestand sich ein, dass Chenxi nicht kommen würde. Und es war schon eine Weile her, seit sie dieses Spiel gespielt hatte. Es war ein Spiel, das sie kannte. Bei Chenxi dagegen wusste sie nie, woran sie war.

»Spielt das eine Rolle?«, gab sie zurück.

Laurent grinste und griff den Faden auf. »Das kommt darauf an.«

Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche seines Hemdes und bot ihr eine an. Anna war sich bewusst, dass Rauchen mehr war, als nur eine Zigarette abzubrennen. Es war ein Ritual, ein Eisbrecher, der Eintritt in einen intimen kleinen Club. Chinesen schlossen nie einen Handel ab, ohne dass dabei Zigaretten den Besitzer wechselten. Wenn man das Rauchen aufgab, war es nicht der Verlust der Zigaretten, der am meisten schmerzte. Menschen, die niemals geraucht hatten, konnten das nicht begreifen.

»Rauchst du?«

»Ich habe damit aufgehört«, sagte Anna bedauernd.

»Wie schade«, sagte Laurent. Er strich ein Streichholz an und hielt es an die Zigarette, die in seinem Mundwinkel hing. Seine Schultern waren nach vorn gezogen und seine Augen leicht zusammengekniffen. Die Flamme erzeugte einen kleinen goldenen Lichtkreis, der sein attraktives Gesicht einrahmte. Er wusste ganz genau, wie gut er aussah.

Laurent inhalierte, schüttelte das Streichholz, sodass die Flamme erlosch, und stieß den Rauch aus, ehe er Anna tief in die Augen blickte. »Was ist mit Haschisch?«

»Nun … es gibt eigentlich kaum etwas, das ich nicht ausprobieren würde«, erwiderte Anna in der Hoffnung, unbekümmert zu klingen.

Laurent lächelte erfreut und klopfte sich auf die Hosentaschen. »Wollen wir einen Spaziergang machen?«

»Ich sage nur schnell meinem Vater Bescheid, dass ich mir ein bisschen die Beine vertreten will. Wir treffen uns am Tor«, sagte Anna. Laurent schien es nichts auszumachen, seine Begleiter hier zurückzulassen.

Anna erklärte ihrem Vater, dass sie allein nach Hause gehen würde. Er warf ein zustimmendes Lächeln in Richtung Laurent und drückte ihr ein paar Geldscheine in die Hand.

»Okay, Liebling. Du hast doch den Ersatzschlüssel, nicht wahr? Viel Spaß!«

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Als Anna und Laurent ans Tor kamen, wurden sie Zeugen eines ziemlichen Aufruhrs: laute, wütende Stimmen, von denen Anna eine erkannte. Chenxi! Sie schob sich durch die Menschenmenge und sah, wie er heftig mit dem Wachmann des Konsulats stritt. Hin und wieder wurde Chenxi von einem Zuschauer unterbrochen, der ebenfalls seine Meinung sagen wollte. Der Wachmann schüttelte den Kopf.

»Chenxi!«, rief Anna. »Was ist hier los?«

Chenxi hörte einen Moment lang auf zu schreien und schaute zu Anna hinüber. Die Zuschauer taten das Gleiche. Dann wandte sich Chenxi wieder dem Wachmann zu, deutete auf Anna und schrie noch lauter als zuvor.

»Ist das dein Freund?« Laurent hob die Augenbrauen.

»Ja«, antwortete Anna.

»Er benimmt sich nicht wie ein Chinese.«

»Was meinst du denn damit?«

»Nun, für einen Chinesen hat er ein ziemlich loses Mundwerk. Er sollte aufpassen. Diese Art von Reden könnte ihm ziemlichen Ärger einbringen.«

Chenxi kam zu ihnen. »Er mich nicht hineinlassen. Er sagen, kein Chinese erlaubt, aber ich ihm sagen, du mich einladen«, sagte er zu Anna. »Scheiße!«

»Wir wollten sowieso gerade gehen«, sagte Anna. »Kommst du mit? Das hier ist übrigens Laurent.«

Laurent gab Chenxi einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und sagte etwas auf Chinesisch, das lang und kompliziert klang. Beide lachten.

»Ja, ich kommen«, sagte Chenxi.

Zu dritt drängten sie sich durch die Menschen, die immer noch miteinander stritten, und gingen die Straße entlang.

Laurent und Chenxi unterhielten sich auf Chinesisch, während sie durch die Pfützen aus gelbem Licht auf dem Asphalt schlenderten. Anna folgte ihnen und tat so, als würde es ihr nichts ausmachen, dass sie kein Wort verstand.

Chenxi erwärmte sich sichtlich für Laurent, und wieder einmal wünschte sich Anna, dass sie Chinesisch sprechen könnte. Wenn es eine Möglichkeit gab, ihn zu erreichen, dann gewiss durch seine Muttersprache. Aber wir haben doch eine gemeinsame Sprache, dachte Anna. Unsere Kunst. Er musste doch fühlen, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab. Die Sprache der Kunst überwand doch wohl alle Grenzen.

Laurent blieb stehen und lehnte sich in dem Schatten zwischen zwei Straßenlaternen gegen eine hohe Backsteinmauer. Er nahm eine kleine Filmdose und eine Packung Zigarettenpapier aus seiner Gesäßtasche.

Anna schaute sich um. Die Straße war alles andere als menschenleer. Ein schmollmundiges Mädchen und ihr Freund drehten sich um und gafften die Ausländer an.

Laurent brach ein Stück des klebrigen Haschischs ab und vermischte es mit geübten Fingern mit dem Tabak, den er auf ein Zigarettenpapier aufgestreut hatte. Dann befeuchtete er den Rand des Papiers mit der Zunge und rollte einen ordentlichen Joint. Anna sah, dass Laurents Hände zwar sauber geschrubbt waren, dass sich aber seine Fingerkuppen von dem regelmäßigen Gebrauch des Haschischs verfärbt hatten.

»Du willst das Ding doch wohl nicht hier anzünden!«, sagte Anna entgeistert. Ein junger Mann fuhr schwankend auf seinem Fahrrad an ihnen vorbei und lallte leise vor sich hin. Eine alte Frau beugte sich aus dem Fenster über ihnen und schloss dann die Läden, sperrte die Nacht aus. Die Straßen waren ruhig im Bezirk der Konsulate, wo die alten, europäisch anmutenden Gebäude und ehrwürdige Platanen, die die Straße säumten, entfernt an Frankreich erinnerten.

»Die Leute wissen nicht, was das ist«, versicherte ihr Laurent. »Sie denken, es ist nur eine merkwürdige ausländische Zigarette.«

Anna hatte das ungute Gefühl, dass Laurent angab. Ihretwegen.

Laurent zündete den Joint an und nahm einen tiefen Zug. Er blinzelte durch den Rauch und reichte den Joint an Anna weiter. Sie nahm ihn und zog zunächst zögernd daran, schmeckte das süßliche, leicht staubige Aroma. Es war viel stärker als Gras. Sie gab Laurent den Joint zurück und wartete auf die Wirkung.

Laurent bot Chenxi den Joint an, der leicht lächelte und den Kopf schüttelte. »Ich zwar Chinese, aber ich wissen, was das ist. Ich war in Xinjiang.«

Laurent zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Zug.

Anna wurde plötzlich schwindelig. Als Laurent ihr den Joint gab, zog sie wieder daran. Diesmal fester.

Die Geräusche der Straße klangen mit einem Mal verzerrt, wie durch Sirup. Die Lichter wurden weich und verschwammen. Anna merkte, dass sie wie eine Schwachsinnige grinste.

Sie standen zwischen zwei Straßenlaternen an die Backsteinmauer gelehnt.

Anna hörte Laurent sagen: »He, wollen wir in eine Bar gehen?« Seine Stimme drang wie durch Watte zu ihr.

Sie hörte sich selbst antworten: »Klar.«

»Hast du dein Fahrrad dabei?«

Anna musste einen Moment lang nachdenken. »Nein.«

»Ich nehmen sie auf Rad mit. Es stehen vor Konsulat.«

Sie gingen die Straße zurück bis zum Eingangstor. Anna wartete an der Ecke, aus Angst, dass ihr Vater auftauchen könnte. Sie war sich nicht sicher, ob sie in der Lage sein würde, normal mit ihm zu reden. Würde er sie überhaupt erkennen? Sie hatte das Gefühl, plötzlich ganz anders auszusehen. Wie sah sie eigentlich aus?

Nach einer halben Ewigkeit kehrten Chenxi und Laurent auf ihren Rädern zurück. Anna wollte ihnen sagen, was sie davon hielt, dass sie sie so lange hatten warten lassen, aber sie fand nicht die richtigen Worte. Ihre Stimme schien ebenfalls in Watte eingewickelt zu sein, genau wie die von Laurent.

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Hinten auf Chenxis Fahrrad sitzend, sah Anna die Erde unter sich dahinsausen. Viel zu schnell. Wenn Anna nach oben schaute, machte sie der sternenlose Himmel, der sich auf sie niederzusenken schien, schwindelig. Und so konzentrierte sie ihren Blick auf Chenxis Rücken.

Sie legte ihre Wange leicht gegen Chenxis Rücken und zuckte dann plötzlich zurück, weil sie nicht mehr sicher war, ob sie mit Chenxi fuhr oder mit Laurent. Sie betrachtete den Arm und versuchte anhand der Hautfarbe zu bestimmen, auf wessen Fahrrad sie saß, aber die Farbe schien sich im Licht der Straßenlaternen ständig zu verändern. Sie fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Und als es so weit war, kam es ihr so vor, als wäre sie eben erst auf das Fahrrad gestiegen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wo sie überhaupt hinwollten. Sie hätte sich am liebsten einfach nur hingelegt.

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Chenxi grinste leicht, als er denselben bulligen Mann in dem schwarzen Anzug am Eingang der Bar stehen sah. Auch seine Pose war die gleiche wie beim ersten Mal: Breitbeinig stand er da, mit vor der Brust verschränkten Armen. Es war, als hätte er sich seitdem keinen Millimeter bewegt. Wenn ihn der Mann erkannte, so gab er es durch nichts zu erkennen. Chenxi ging geradewegs durch die Eingangstür, flankiert von zwei Ausländern. In meinem Land sind meine Landsleute die schlimmsten Rassisten, dachte er bitter.