Kapitel 12

Als Anna am Montag in der Akademie ankam, war kein Mensch da. Verärgert darüber, dass man sie nicht über einen offenkundigen Feiertag informiert hatte, wollte sie schon wieder wegfahren, als sie die Sekretärin des Direktors aus der Kantine kommen und auf das Hauptgebäude zugehen sah. Anna fuhr ihr hinterher. Die Sekretärin drehte sich um, aber als sie Anna erkannte, legte sich ein gereizter Ausdruck auf ihr Gesicht.

»Miss Anna!«

»Wo sind denn die anderen?«

»Kein Kurs«, sagte die Sekretärin kurz angebunden. »Wie du sagen? Naturstudien. Alle Studenten abreisen morgen für zwei Wochen. Was wollen tun? Wollen Privatlehrer zu Hause?«

»Nun, ich wäre lieber mit den anderen gefahren«, schmollte Anna. »Immerhin bin ich eine Studentin dieser Akademie, oder etwa nicht?«

Die Sekretärin holte tief Atem. »Kommen mit.«

Anna kettete ihr Fahrrad an den leeren Fahrradständer und folgte ihr in das Büro des Direktors.

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Der Direktor war noch weniger erfreut als seine Sekretärin, die ausländische Studentin zu sehen. Anna konnte förmlich sehen, wie er überlegte, ob die außerordentlich hohen Studiengebühren, die ihr Vater bezahlte, die Umstände, die sie machte, auch wirklich wert waren.

Seine Sekretärin erklärte die Situation und sie redeten eine Weile miteinander, deuteten dabei auf Karten und Kalender. Irgendwann fiel auch Chenxis Name, und obwohl es ihr leidtat, ihn in ihre Probleme mit hineinzuziehen, war Anna froh, dass er sich weiterhin um sie kümmern durfte. Sie hätte den Gedanken nicht ertragen, zwei Wochen in Shanghai zu sitzen, ohne ihn zu sehen.

Der Direktor hob den Telefonhörer ab und fragte nach Chenxi. Er wartete ziemlich lange, klopfte mit seinem Stift ungeduldig auf die Tischplatte, aber als Chenxi endlich in der Leitung war, fiel das Gespräch äußerst kurz aus.

Der Direktor legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Sekretärin nahm Annas Hand und sagte: »Chenxi kommen.«

Anna entspannte sich. Ein Ausflug mit Chenxi! Zu dritt saßen sie schweigend da und wichen den Blicken der jeweils anderen aus, bis Chenxi zehn Minuten später eintraf.

»Hallo«, sagte Anna unsicher.

Chenxi warf ihr ein dünnes Lächeln zu, schaute ihr aber nicht in die Augen.

Der Direktor bellte ein paar Befehle und Chenxi nickte.

»Du gehen mit Chenxi«, sagte die Sekretärin. Sie und der Direktor standen auf und warteten, bis Chenxi und Anna das Zimmer verlassen hatten.

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Draußen versuchte Anna, über ihr Fahrrad hinweg ein Gespräch mit Chenxi anzufangen. Er schloss die Kette seines Fahrrads auf und wollte sie immer noch nicht anschauen. »Wohin fahren wir?«, fragte sie mit honigsüßer Stimme.

Chenxi schwang sein Bein über seinen alten braunen Drahtesel und trat in die Pedale. Anna folgte ihm auf ihrem bonbonfarbenen Rad. Gemeinsam fuhren sie aus dem Tor.

»Ich nicht wissen«, brummte Chenxi schließlich.

»Was meinst du damit?«, fragte Anna. »Machen wir nicht mit den anderen einen Ausflug?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht für Ausländer.«

»Was?«

»Morgen die anderen fahren nach Süden zu andere Volksgruppe, zum Malen. Gebiet für Ausländer nicht erlaubt. Wir müssen an anderen Ort.«

»Nicht für Ausländer erlaubt?«

Er nickte. »Für Ausländer verboten.«

»Aber das ist doch verrückt!«, protestierte Anna. Sie hatte gehört, dass Chinesen der Zutritt zu einigen Orten verwehrt war, wo ausschließlich Ausländer verkehrten, aber sie hatte noch nie gehört, dass es Orte gab, wohin Ausländer nicht gehen durften. Anna war fassungslos. »Aber warum?«

Chenxi zuckte mit den Schultern. »Regierung nicht wollen, dass Ausländer alles sehen. Regierung wollen, dass Ausländer nur schöne Orte sehen, Orte ohne Probleme. Dann gehen Ausländer nach Hause und sagen allen, wie schön und friedlich China ist.«

Chenxi fuhr schneller, um einen Bus zu überholen, der seine Fahrt verlangsamte. Anna blieb zurück und wurde umgehend von einem jungen Mann mit dicken Brillengläsern angesprochen, der zu ihr aufschloss. »Hallo! Hallo!«, rief er. Sie trat fester in die Pedale.

Als Anna Chenxi schließlich einholte, war sie außer Atem. Sie ärgerte sich darüber, dass er immer so schnell fuhr. »Hör zu, es tut mir leid. Ich wusste das nicht«, keuchte sie. Sie hatte Chenxi schon wieder Ärger gemacht. »Ich bleibe einfach zwei Wochen zu Hause. Das ist okay. Du darfst den Ausflug nicht verpassen. Fahr mit. Ich bleibe zu Hause. Die Sekretärin sagte, sie könnte mir einen Privatlehrer besorgen. Mach dir keine Sorgen um mich.«

Chenxi drehte sich immer noch nicht zu ihr um. Er schüttelte den Kopf. »Direktor sagen, ich mich um dich kümmern.«

»Keine Sorge, ich werde ihm nichts sagen. Er wird es nicht erfahren. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß, stimmt’s?«

»Oh, sie erfahren es. Sie erfahren alles. Du müssen mit mir kommen. Ich schon wissen, wohin wir gehen. Wir besuchen Schwester. Sie leben in Shendong, bei Xian. Sie haben zwei Söhne. Ich sie nicht sehen lange Zeit.«

Anna merkte, dass sie in Richtung ihrer Wohnung fuhren. »Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal und kaute auf ihrer Unterlippe.

Chenxi antwortete nicht.

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Seite an Seite fuhren sie die Huai Hai Lu entlang, die Straße, die Anna mittlerweile fast so vertraut war wie die Straßen in Melbourne. Sie kannte alle Geschäfte. Die Boutiquen mit den staubigen Blusen im Schaufenster, die Gemüsehändler und die Apotheken mit den fremdartigen getrockneten Kräutern und Körperteilen von Tieren. Sie war seit einer Woche in Shanghai. Manchmal kam es ihr zwar vor, als wäre sie erst gestern angekommen, aber meistens fühlte sie sich hier schon fast wie zu Hause.

Manchmal konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, was für ein Leben sie geführt hatte, bevor sie Chenxi kennengelernt hatte. Er war immer in ihren Gedanken. Melbourne und ihr Alltag dort lagen auf einem anderen Planeten. Die wenigen Male, die sie mit ihren Freundinnen oder Schwestern telefoniert hatte, waren von den gleichen banalen Themen geprägt gewesen, die auch schon ihr Leben zu Hause bestimmt hatten. Es fiel ihr schwer, sich darauf einzulassen. Sie fühlte sich anders. Verändert. Chenxi war ihr köstliches Geheimnis. Sie glaubte nicht, dass irgendjemand zu Hause ihre Leidenschaft begreifen würde. Sie verstand sich ja selbst kaum.

Abgesehen von diesem einen erleuchteten Moment, als sie über sein Gemälde gesprochen hatten, war Anna Chenxi immer noch keinen Schritt näher gekommen. Es schien ihr so, als ob sie ihn weniger kennen würde, je mehr Zeit sie mit ihm verbrachte. Und je distanzierter und gleichgültiger er sich ihr gegenüber benahm, desto verzweifelter wollte sie ihn verstehen. Sie wollte wenigstens wissen, ob sie ihm etwas bedeuten könnte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er möglicherweise nichts für sie empfand. Vielleicht würde die Zeit im Kreise seiner Familie ihr die Chance eröffnen, die sie brauchte.

Sie bogen in ihre Straße ein. Zu Annas großer Überraschung akzeptierte Chenxi ihre Einladung, gemeinsam in ihrem Apartment den Ausflug zu besprechen.

Der Torwächter spähte misstrauisch aus seinem Häuschen, als Chenxi vorbeiradelte.

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»Möchtest du Tee? Setz dich doch«, sagte Anna. Chenxi stand am Fenster im Wohnzimmer, von wo aus man das Eingangstor sehen konnte.

Aus seinen Gedanken gerissen, drehte er sich um. »Ja. Okay. Tee. Grüner Tee?«

»Nein, ich habe nur schwarzen Tee«, sagte Anna. »Tut mir leid.«

Sie ging in die Küche und legte gezuckerte Kekse auf einen Teller. »Was hast du am Wochenende gemacht?«, rief sie ins Wohnzimmer, verzweifelt bemüht, das Gespräch nicht einschlafen zu lassen. War das eine Frage, die ein Chinese stellen würde?

»Ich gehen in Akademie zum Malen«, erwiderte Chenxi.

»Ehrlich?« Anna kam ins Wohnzimmer und stellte die Kekse auf den Sofatisch. Chenxi nahm sich drei davon. »Du malst am Wochenende?«

»Jedes Wochenende«, murmelte Chenxi mit vollem Mund. Er nahm noch einen Keks, drehte ihn um und betrachtete ihn. »Das guter Geschmack.«

»Nimm dir noch einen«, sagte Anna und schob ihm den Teller zu. »Was malst du? Arbeitest du immer noch an demselben Bild?«

Chenxi wischte sich den Zucker von den Händen und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Er holte ein zerknülltes Päckchen Zigaretten aus seiner Brusttasche. »Nein. Das Bild fertig.« Er warf Anna einen Blick zu und lächelte. »Ich malen Schatten auf Vordergrund, wie du sagen. Jetzt viel besser. Vielen Dank.« Er zog eine Zigarette aus der Schachtel und klopfte sie ein paar Mal auf den Sofatisch.

Anna ging zum Fenster und öffnete es. »Es ist immer leichter, über die Arbeit eines anderen zu reden als über seine eigene.«

»Ja. Aber niemand reden über meine Arbeit. Niemand hier verstehen meine Arbeit.«

»Wirklich nicht?« Anna war schockiert. Sie setzte sich neben Chenxi. »Man sollte meinen, dass sie für sich selbst spricht. Für mich ist deine Arbeit sehr klar und verständlich.«

»Ja. Aber du sehen, was wir malen in Akademie. Das ist Stil von Malerei, den China wollen. Was ich malen, ist anders. Du denken, in Australien sie verstehen meine Bild?«

»Aber natürlich! Es ist fantastisch! Ich kenne ein paar Galerien, die deine Arbeit sofort ausstellen würden!«, prahlte Anna. »Na ja, zumindest eine. Der Galerist ist ein Freund meiner Familie. Ich habe dort schon eine Ausstellung gehabt. Nun, ein Bild in einer Ausstellung.«

»Wirklich?« Jetzt hatte Anna Chenxis volle Aufmerksamkeit. »Du es verkaufen?«

»Ich habe es nicht ausgestellt, um es zu verkaufen. Aber du könntest deine Bilder verkaufen.«

»Wirklich? Wie viel?«

»Oh, ich weiß nicht … Tausend Dollar oder mehr für das große … Ich weiß wirklich nicht.«

»Amerikanische Dollar? Tausend amerikanische Dollar?«

»Ich bin nicht sicher, Chenxi. Ich stelle nur Vermutungen an.« Anna rutschte unbehaglich hin und her. Der Kessel pfiff und sie stand auf, erleichtert, dass sie sich aus dieser unerwarteten Bedrängnis lösen konnte. Chenxi lehnte sich zurück und zündete seine Zigarette an.

In der Küche goss Anna das kochende Wasser in die Kanne. Sie war unruhig. Die Fragen, die Chenxi gestellt hatte, waren nachvollziehbar, aber sie hatte gehofft, er wäre nicht an Geld interessiert wie alle anderen auch. In ihren Augen war es ein Sakrileg, Kunst und Geld in einem Atemzug zu nennen. Aber möglicherweise war ihre Einstellung wirklichkeitsfremd. Vielleicht konnte sie sich den Luxus, nicht über Geld reden zu müssen, nur deshalb leisten, weil sie immer genügend zur Verfügung gehabt hatte.

Anna brachte das Tablett ins Wohnzimmer. »Ich habe eine Karte von China«, sagte sie, um das Thema zu wechseln. »Zeigst du mir, wo wir hinfahren?«

Chenxi hatte die Füße auf den Couchtisch gelegt und starrte nachdenklich in den blauen Rauch, der über seinen Kopf hinwegzog.

»Chenxi?«, versuchte es Anna erneut. »Zeigst du mir bitte, wo deine Familie lebt?« Sie breitete die Karte auf dem Couchtisch aus. Chenxi stellte seine Füße auf den Boden und betrachtete die chinesischen Schriftzeichen.

»Hier«, sagte er. »Du sehen? Hier wohnen Familie. Shendong. Bei Xian.«

»Kommen deine Eltern von dort?«

»Nur Mutter«, sagte Chenxi. »Sie ziehen nach Shanghai wenn fertig mit Schule.«

»Und was ist mit deinem Vater?«, wollte Anna wissen. »Was tut er? Ist er auch ein Künstler?«

»Ich haben keinen Vater«, sagte Chenxi.

»Oh, das tut mir leid. Ist er tot?«, fragte Anna, verlegen, aber neugierig.

»Ich haben keinen Vater wie du haben keine Mutter.«

»Aber ich habe eine Mutter. Sie ist in Melbourne, bei meinen Schwestern. Meine Eltern leben nicht mehr zusammen. Sie haben sich getrennt. Ist es bei deinen Eltern auch so? Sind sie geschieden?«

»Scheidung ist für Ausländer«, sagte Chenxi. »Nicht für Chinesen.« Er stand auf und ging zum Fenster als Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war.

Anna goss sich noch eine Tasse Tee ein. Sie suchte in ihrem Geist nach etwas, das Chenxi wieder für sie öffnen würde. Sie schien immer das Falsche zu sagen. Zu viele Fragen zu stellen. Sie würde lernen müssen, vorsichtiger zu sein.