»Ich haben etwas für dich«, flüsterte Chenxi Anna zu, als er an ihrem Arbeitstisch vorbeikam. Überrascht schaute Anna zu ihm hoch. Sie hatte sich so auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie gar nicht gehört hatte, wie er hereingekommen war. Es war Montagmorgen. Anna hatte sich das ganze Wochenende über Sorgen um ihn gemacht. Abgesehen von einem blauen Auge war Chenxis Gesicht fast vollständig geheilt. Allerdings hatte er sich das Haar in die Stirn gekämmt, um den Verband zu verstecken. Anna verspürte eine Woge voller Zärtlichkeit für ihn.
»Ich dich vor deinem Apartment treffen, nach Unterricht«, sagte er.
Anna nickte.
Der Morgen floss nur zäh dahin. Anna warf Chenxi einige Male einen Blick zu und hoffte auf einen heimlichen Augenkontakt, aber wie üblich – und als ob nichts zwischen ihnen gewesen wäre – sprach er nur mit ihr, um etwas, das der Lehrer sagte, zu übersetzen.
Irgendwann erwischte Lao Li Anna dabei, wie sie Chenxi betrachtete. Er starrte sie an. Anna senkte den Kopf und versuchte, sich wieder auf ihr Bild zu konzentrieren. Sie arbeitete an einer anderen Kopie eines Fächers auf Seide, diesmal mit einem Vogel und Blumenranken, aber irgendwie mangelte es dem Motiv an der inneren Kraft der Landschaft, die sie davor auf Seide gebannt hatte.
In der Mittagspause aßen sie wie immer gemeinsam mit Lao Li Nudeln. Als Chenxis Bein das von Anna unter dem Tisch streifte, schaute sie ihn an, ob die Berührung irgendein Zeichen gewesen war, aber sein Kopf blieb über die Schüssel mit Nudelsuppe gebeugt.
Am Nachmittag kam wieder ein Modell in den Unterricht. Diesmal war es ein alter Mann in einem Lendenschurz. Egal, wie sehr sich Anna auch bemühte, sie konnte sein schlaffes Gesicht nicht einfangen. Normalerweise wäre das für sie ein Leichtes gewesen, aber Chenxis Anwesenheit lenkte sie zu sehr ab.
Endlich war der Unterricht vorbei. Anna schlenderte vor Chenxi aus dem Zimmer, während er noch seine Pinsel einpackte. Sie trafen sich am Fahrradständer. Doch auch, als er sein Fahrradschloss öffnete, schaute er nur flüchtig zu Anna und winkte und rief den anderen Studenten Grußworte zu, während sie aufstiegen und heimwärts fuhren.
Anna folgte Chenxi zum Tor hinaus. Eine Sekunde lang hielt sie den Atem an und wartete, ob er links abbiegen würde, in Richtung ihres Apartments, oder rechts, wo seine eigene Wohnung lag. Die heimliche Botschaft, die er ihr heute Morgen zugeflüstert hatte, kam ihr mittlerweile wie ein Traum vor. Er bog nach links ein und sie beeilte sich, um zu ihm aufzuschließen.
Chenxi fuhr schnell, wie immer. Anna gab sich alle Mühe, mit ihm mitzuhalten. Erst als sie am Konservatorium vorbeigefahren und um die Ecke in die Sackgasse gebogen waren, wo Anna wohnte, verlangsamte Chenxi sein Tempo und erlaubte Anna, atemlos und verschwitzt, neben ihn zu rollen.
Sie stellte ihr Fahrrad neben dem von Chenxi ab, nachdem sie durch das hohe Tor am Eingang des Apartmenthauses gefahren waren. Die Falkenaugen des Torwächters folgten ihnen.
»Hier«, sagte Chenxi, als sie auf dem elfenbeinfarbenen Seidensofa von Annas Vater saßen. »Etwas von mir, das du mit nach Hause nehmen können, nach Australien.« Aus seinem fadenscheinigen Rucksack zog er eine Rolle Zeitungspapier und reichte sie Anna. Anna setzte sich im Schneidersitz hin und rollte vorsichtig das Papier auf.
Im Innern befand sich, kunstvoll gemalt auf einem langen Stück Seide, eine Frau auf einem goldenen Thron. Die Hände lagen in ihrem Schoß. Ihr Gewand, smaragdgrün und safirblau, fiel in unzähligen Falten über ihre Knie und in die Landschaft hinein. Der Stoff des Gewandes selbst war mit Berggipfeln verziert, mit wirbelnden Wolken und Tälern; es war unmöglich zu sagen, wo der Körper der Frau endete und wo die Landschaft begann. Sie trug einen aufwändigen Kopfschmuck, wie eine chinesische Kaiserin. Aber das Haar, das darunter hervorfiel, war hell und lockig. Als Anna das Gesicht unter dem weißen Puder und dem Lippenrot betrachtete, erkannte sie es. Sie sah sich selbst, spiegelte sich in den strahlend blauen Augen wider. Das Gesicht war ihr eigenes.
Sie rollte die Seidenmalerei wieder in das Zeitungspapier ein, stand auf und legte die Rolle auf den Couchtisch. Dann wandte sie sich wieder zu Chenxi. Sie kniete sich vor ihm auf den Teppich und schaute ihm in die Augen. Sie küsste sie, diese ausdruckslosen Augen, die ihr so oft schlaflose Nächte bereitet hatten. Chenxi rührte sich nicht. Anna küsste seinen Nasenrücken und wartete. Sie fing an zu zittern. Die Augen schließend, schob sie ihre Lippen ganz nah an seinen Mund heran, ohne ihn zu berühren. Dort wartete sie, atmete dieselbe Luft wie er, bis Chenxi sie küsste.
Er schmeckte warm und säuerlich, duftete nach Zimt, und seine Haut war weicher, als sie es sich hatte vorstellen könnten, anders als alles, was sie je berührt hatte. Er schien darauf zu warten, dass sie die Initiative ergriff, und so nahm sie seine Hand und legte die Handfläche auf ihre Rippen, unter ihrem T-Shirt. Von dort glitt sie nach oben, und sie erschauerte, als er ihre Brüste erkundete, überlegte, wie fremd sie ihm wohl erscheinen mochten. Er löste sich von ihr und spielte verwundert mit einer ihrer langen Locken, während sie ihre Hände durch sein langes schwarzes Haar zog und sich wunderte, wie rau es sich anfühlte nach der Weichheit seiner Haut.
Anna wusste, dass sie einen Punkt erreicht hatte, wo zu Hause in Melbourne ein stockendes Gespräch über das Thema Verhütung stattfinden würde. Aber sie wollte den Augenblick nicht verderben, und so zählte sie insgeheim die Tage, die seit ihrer letzten Periode verstrichen waren, und entschloss sich, das Risiko einzugehen. Sie war schon früher Risiken eingegangen. Chenxi zuckte zurück, als Anna nach seiner Gürtelschnalle griff, und sie fragte sich, ob die chinesischen Mädchen nicht so schamlos waren wie sie, aber dann küssten sie sich wieder, und mit einem Mal war es ganz einfach, die Kleider abzustreifen. Sein Körper war lang und schlank, weich und haarlos. Genauso, wie sie sich ihn vorgestellt hatte.
Es schien ihm zu gefallen, dass sie die Führung übernahm. Beide atmeten jetzt schwer. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie zog ihn auf sich und er küsste ihren Nacken, dann die Stelle zwischen ihren Brüsten. Sie strich mit den Händen über seinen Rücken bis zu der Mulde am Ende und erschauerte, als er in sie eindrang. Sie drückte den Rücken durch, kam ihm entgegen.
Sie hatte von diesem Augenblick so lange geträumt, und jetzt, da er zwischen ihren Schenkeln lag, war er für sie wieder ein Fremder. Er bewegte sich drängend, schien aber abwesend. Seine Augen waren geschlossen. Sein Atem wurde schneller, und durch den Nebel ihres Verlangens dachte sie noch daran, ihn zu bitten, sich zurückzuziehen, um ganz sicher zu sein. Aber dann war es vorbei. Es war zu schnell gewesen, viel zu kurz. Anna versuchte, ihre Enttäuschung zu unterdrücken.
Er rollte sich von ihrem Körper, und beide lagen nebeneinander auf dem Teppich, starrten hoch zur Decke. Die Luft schien vor Unsicherheit und Verlangen zu vibrieren. Anna stützte sich auf die Ellbogen und schaute in Chenxis Gesicht. Seine Haut dort war glatt und faltenlos. Die Muskeln um seine Augen waren zumeist untätig, selbst wenn er lächelte. Aber als sie genau hinschaute, sah Anna ein Feuer glimmen. Dann war es verschwunden.
»Ich müssen gehen!« Seine Stimme war rau, und noch ehe sie protestieren konnte, war er schon dabei, sich anzuziehen.
»Bleib!«
»Bitte mich nicht darum.«
»Dann lass uns im Park spazieren gehen.« Sie wollte jetzt noch nicht von ihm getrennt sein.
Am Eingang zum Fuxing-Park hockte der alte Wahrsager. Anna hatte oft zugeschaut, wenn er Leuten aus der Hand las und in ihren Gesichtern forschte, ob sie mit den Prophezeiungen zufrieden waren. Manchmal hatte er sie dabei ertappt und ihr zugerufen: »Ich sagen deine Zukunft. Sagen deine Zukunft, kleine Miss Wai guo ren. Ich sprechen gut Englisch. Ich dir sagen, wen heiraten!« Aber Anna hatte sich nie getraut.
Heute, mit Chenxi an ihrer Seite und dem Nachhall seiner Haut auf ihrer, fühlte sie sich wagemutig und zog ihn zum Stand des Wahrsagers. Das Gesicht des Mannes leuchtete auf.
»Na komm!«, bat Anna kokett, aber Chenxi schob die Hände in die Hosentaschen. »Nur aus Spaß!«
»Ich nicht glauben diese Quatsch!«
»Ach, komm schon!« Anna kicherte und streckte dem alten Mann ihre Handfläche entgegen. Er nahm sie in seine wettergegerbten Hände und runzelte die Augenbrauen, während er mit einem gelben Fingernagel die Linien auf ihrer Handfläche entlangstrich.
»Du haben langes Leben …«, murmelte er. »Du haben viel Geld und viel Erfolg …« Anna lächelte vor sich hin. Es war immer das Gleiche.
Die Augenbrauen des alten Mannes zuckten nach oben. »Du haben viele Kinder!«, quietschte er. »Mit ihm!« Er deutete auf Chenxi. Anna zog ihre Hand weg, als hätte sie sich verbrannt.
»Ach Unsinn!«, lachte sie.
»Es stimmt! Es stimmt! Du diesen Mann heiraten!«
»Komm mit«, sagte Chenxi grob. »Lass uns gehen.« Er fischte eine Münze aus seiner Hosentasche, aber der alte Mann packte Chenxis Hand und warf einen Blick auf seine Handfläche.
Die Augen des Wahrsagers weiteten sich entsetzt. »Und du, mein Sohn«, krähte er, »werden folgen dem Pfad deines Vaters.«
Chenxi zog Anna am Arm in den Park, während der Wahrsager hinter ihnen kreischend auflachte.
»Keine Sorge«, sagte Anna, »ich glaube auch nicht an diesen Unfug. Es ist nur aus Spaß. Er sagt doch allen Leuten das Gleiche.«
»Wir alle wählen Weg, den wir gehen«, murmelte Chenxi und starrte voraus. Anna folgte ihm mit kleinen, verspielten Sprüngen.
Im Schutz eines kleinen Steingartens fanden Chenxi und Anna eine Bank, wo sie vor neugierigen Augen geschützt waren. Zu ihren Füßen wanden sich Goldfische mit glänzenden Schuppen in einem Teich und wirbelten im Hochschwimmen das Wasser auf, als Chenxi sich räusperte und in den Teich spuckte. Anna starrte auf die großen Glubschaugen der Fische und überlegte, wo sie anfangen sollte.
»Chenxi, ich habe lange darüber nachgedacht.« Ihr Herz hämmerte. Sie hatte vor, ihm ihre wahren Gefühle für ihn zu offenbaren, und sie konnte den Gedanken an eine Zurückweisung nicht ertragen. Aber wenn sie jetzt nicht sprach, dann würde sie es nie genau wissen. Nach dem heutigen Tage war sie sich allerdings sicher, dass er sie auch liebte.
»Ich glaube, ich weiß, wie ich dir helfen kann«, sagte sie.
Chenxi zündete sich eine Zigarette an.
Anna holte tief Atem. »Ich kann dich mit nach Melbourne nehmen. Dort bist du in Sicherheit. Wir könnten wegen der Papiere natürlich heiraten, aber das Wichtigste ist, dass du China verlassen kannst.«
Chenxi betrachtete die Spitze seiner Zigarette und blies sanft darauf. »Ich nicht wollen verlassen China. Warum du denken, ich wollen weg aus China?«
»Ach, Chenxi. Du bist bloß durcheinander wegen dem, was der alte Mann gesagt hat. Er hat dich erschreckt, das ist alles. Ich weiß, was mit deinem Vater passiert ist. Ich weiß, wie du über Ausländer denkst, aber das ist doch lächerlich! Ich biete dir die Möglichkeit, mit mir nach Australien zu kommen! China zu verlassen! Du bist nicht sicher in China. In Australien wirst du sicher sein.«
»Ich nicht wollen verlassen China.«
»Du willst China nicht verlassen?« Anna war fassungslos. »Aber alle Studenten wollen weg aus China!« Anna stockte. Das hatte sie nicht erwartet.
»Aber, Anna, ich nicht bin ›alle Studenten‹.« Sein Lächeln wirkte gezwungen.
Anna starrte ihn an. Dann wandte sie sich ab und starrte in den Fischteich. »Du bist ja verrückt!« Sie war gekränkt und sie wollte auch ihn kränken. »Wenn du hier bleibst, bist du erledigt!«
»Ja«, sagte Chenxi, der jetzt breit grinste. »Ich bin verrückt. Das sagen meine Mutter, das sagen die in Akademie, das sagen Regierung …« Sein Grinsen verzog sich zu einer Miene der Verachtung. »Sie alle sagen, wie du, Künstler sein ist verrückt. Wenn du das denken, dann ich bin verrückt. Was ich sollen in Australien tun? Chinesisches Restaurant eröffnen, wie alle von meiner Familie in Amerika?«
»Ach, Chenxi! Du kannst ein Künstler sein! Du kannst frei sein!«
»In Australien mir nichts nützen, Künstler zu sein. Dort ich haben nichts zu sagen. Ich bin Künstler für China. China ist mein Land, das ich hassen und lieben, aber China ist ich. In Australien ich bin nichts. In Australien es nichts bedeuten, frei zu sein!« Chenxi trat den Zigarettenstummel mit der Ferse aus. Er schob sein Gesicht ganz nah an das von Anna. »Du verstehen?«, flüsterte er. »Nicht alle Chinesen wollen in dein tolles Australien gehen!«
Dann stand er auf und ging weg.
Die Schulkinder packten ihre Jojos ein und gingen nach Hause. Die Pärchen, die Hand in Hand herumgewandert waren, zogen sich in den Schatten der Bäume zurück, und der Fuxing-Park wurde in ein seidig-dunkles, geheimnisvolles Licht gehüllt. In vollkommenem Gleichklang erwachten die Lampen flackernd zum Leben und schienen dann hell. Unter einer von ihnen taumelte eine verwirrte Motte, unter einer anderen saß Anna. Als ihre Beine taub und ihre Arme in der abendlichen Kühle steif wurden, stand sie auf, durchquerte den Park und ging nach Hause.