Nach drei oder vier Minuten kam eine Schwester und rief Anna auf. Anna gab ihr den Plastikchip. Alle im Warteraum wussten, dass Anna – als Ausländerin – als Erste an die Reihe kam. Niemand beschwerte sich.
»Würdest du mitkommen?«, bat sie Laurent. »Um zu übersetzen?« Sie wollte nicht zugeben, dass sie seine Anwesenheit beruhigend empfand.
Laurent fragte die Schwester, ob er Anna begleiten dürfe. Sie errötete und meinte, sie müsse die Ärztin fragen. Normalerweise sei das eine Frauenangelegenheit. »Ich muss so tun, als sei ich dein Ehemann«, erklärte Laurent Anna.
Die Ärztin kam und führte Laurent und Anna in ein kleines, leeres Büro. Sie setzte sich hinter einen Tisch mit einer Glasplatte und wies den beiden Ausländern zwei Stühle auf der anderen Seite des Tischs zu.
»Also«, sagte sie in fast akzentfreiem Englisch, während sie etwas auf Chinesisch an den oberen Rand eines Formulars schrieb. »Wollen Sie es oder nicht?«
»Wir wollen es«, sagte Laurent.
Anna errötete.
Die Ärztin runzelte die Stirn und wandte sich an Anna. »Wie alt sind Sie?«
»Achtzehn.«
»Hmm …« Sie füllte das entsprechende Kästchen aus und schob ihren Stift dann zur nächsten Frage. »Wann war ihre Periode fällig?«
»Vor zwei Wochen.«
»Oh. Kommt Ihre Periode normalerweise regelmäßig?«
»Ja, sehr regelmäßig«, antwortete Anna.
»Sind Sie verheiratet?«, fragte die Ärztin weiter.
»Ja«, log sie und vermied es, Laurent anzuschauen. Sie wusste, dass eine Heirat in China eine große Sache war.
»Haben Sie irgendwelche Beschwerden? Schmerzen?«
»Nein. Aber ich habe gestern etwas Blut in meiner Unterhose entdeckt.«
Laurent schaute Anna an.
»Mmm … Das könnte eine leichte Monatsblutung gewesen sein, obwohl es auch in einer Schwangerschaft nicht ungewöhnlich ist. Wir sollten auch überprüfen, ob Ihnen eine Fehlgeburt droht.«
Anna gab keine Antwort.
»Wir müssen Sie untersuchen und einige Tests machen. Sie müssen in das Zimmer auf der anderen Seite des Flurs gehen, aber ich fürchte, Ihr Mann kann Sie nicht begleiten. Dort dürfen nur Frauen hinein.«
Die Ärztin führte Anna durch das Wartezimmer und zeigte ihr, wohin sie gehen sollte. Laurent setzte sich und wartete.
Im Untersuchungszimmer standen vier schmale Liegen mit schmutzig weißen Tüchern darauf, die faltig und schief auf den grünen Plastikmatratzen lagen. In einer Ecke standen zwei Schreibtische, und es waren eine Menge Frauen da. Einige trugen weiße Kittel und Gummihandschuhe, andere normale Straßenkleidung.
Anna wurde zu einer der mittleren Liegen geführt. Die restlichen drei Liegen wurden Chinesinnen zugewiesen. Anna stemmte sich auf der Matratze hoch und legte sich dann hin.
Eine Schwester kam zu ihr und wies sie an, ihre Jeans und die Unterhose auszuziehen und ihre Füße in die Steigbügel zu legen, die über der Liege hingen.
Peinlich berührt zog sie sich aus, während die Schwester wartete. Dann schob sie ein Papiertuch unter Annas Hinterbacken.
Alle im Raum schienen sie anzustarren. Sie schloss die Augen und versuchte, die Beschämung beiseitezuschieben. Die Schwester berührte Anna am Kopf. »Sehr schönes Haar.«
Eine Ärztin kam mit einem Tupfer und ein paar Papiertüchern herbei. Sie zog sich Gummihandschuhe an und führte zwei Finger in Annas Scheide ein. Anna zuckte zusammen. Sie hatte gehofft, sie müsste nur in einen Plastikbecher pinkeln.
Dann tat die Ärztin mit dem Tupfer das Gleiche. Als sie den Tupfer herauszog, starrten alle Anwesenden – außer Anna – fasziniert auf den kleinen, rosa gefärbten Wattebausch. Die Schwester gab Anna ein Papiertuch, mit dem sie sich säubern konnte, und bedeutete ihr dann, sich wieder anzuziehen. Die nächste Patientin stand schon neben der Liege und wartete ungeduldig, dass sie an die Reihe kam.
Bevor sie das Untersuchungszimmer verließ, gab man Anna einen rosa verschmierten, gläsernen Objektträger. Draußen eilte Laurent ihr entgegen.
»Alles klar?«, fragte er. »Du bist so blass.«
»Ich bin es nicht gewohnt, vor einem Haufen Fremder untersucht zu werden.«
»Die Chinesen haben keinen Sinn für Privatsphäre« sagte Laurent. »Was jetzt?«, fragte er und schaute auf den Objektträger in Annas Hand. Anna zuckte mit den Schultern. Laurent nahm sie am Arm und führte sie die Treppe hinunter, wohin all die anderen Frauen gingen, die aus dem Untersuchungszimmer kamen.
Ein Stockwerk tiefer folgte Anna einer Gruppe Frauen, die ebenfalls Objektträger in den Händen hielten, zu einer plappernden Menge, die einen kleinen Tisch umringten.
Sie hielt sich etwas abseits und wartete, bis sie an der Reihe war. Eine Frau hinter ihr stieß gegen ihren Rücken und eine andere versuchte, sich vorzudrängeln. Die Frauen stritten sich, wer als Nächste dran war. Der Tisch wurde von etwa zwanzig Frauen belagert, die alle um Aufmerksamkeit buhlten. Die Schwester hinter dem Tisch ließ sich Zeit, beschrieb in aller Ruhe die Etiketten für die Objektträger, während die Frauen sich gegenseitig schubsten und drängelten.
Als Anna wieder angestoßen wurde, fluchte sie und hätte beinahe ihren kostbaren Objektträger fallen gelassen. Fest umklammerte sie das Glas und hoffte, dass es unter ihrem Griff nicht zerbrach. Man könnte glauben, wir seien Vieh, keine Menschen, dachte sie bitter.
»Also?«, fragte Laurent, als Anna schließlich ohne den Objektträger wieder auftauchte.
»Keine Ahnung.«
»Was haben die Ärzte gesagt?«
»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern.« Sie war den Tränen nahe.
»Was?«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich verstehe überhaupt nichts von dem, was sie sagen!«, brach es aus Anna heraus.
»Oh Mann! Du bist ja zu gar nichts zu gebrauchen! Komm, wir suchen diese Ärztin.«
Eilig stieg Laurent die Treppe wieder hinauf und Anna folgte ihm, dankbar, dass er wieder das Ruder übernommen hatte.
In dem kleinen Büro saß die Ärztin und aß ihr Mittagessen. Sie war gar nicht glücklich, die beiden Ausländer wiederzusehen. Sie funkelte sie über den Rand ihrer Schüssel an, während sie Reis in ihren Mund schaufelte.
»Was ist?«
»Nun, wir haben noch kein Ergebnis«, sagte Laurent.
»Kommen Sie morgen wieder.« Mit den Essstäbchen machte sie eine Bewegung, als wollte sie die beiden verscheuchen.
»Wir wollen es heute wissen!«
»Das ist nicht möglich. Außer Sie lassen einen Ultraschall machen.«
»Dann wollen wir einen Ultraschall.«
»Das ist nicht möglich.«
»Warum?«
»Es ist sehr teuer.«
»Wir werden es bezahlen.«
»Es ist nicht möglich! Nein, nein! Sie muss den ganzen Tag lang Wasser trinken und darf nicht auf die Toilette gehen. Ihre Blase muss voll sein, um etwas sehen zu können. Ansonsten ist es sinnlos. Dann kann man gar nichts sehen.«
»Können wir es versuchen?«
»Ich sage doch, es ist sinnlos. … Kommen Sie nach der Mittagspause wieder. Um vier Uhr, okay? Es ist im sechsten Stock. Nach der Mittagspause. Oder morgen.« Sie wandte sich wieder ihrer Schüssel mit Reis zu. Laurent schob Anna aus dem Büro. Sie wusste schon, wohin sie gehen würden.
In dem Flur vor dem Zimmer, in dem die Ultraschall-Untersuchung gemacht wurde, stand eine große Teemaschine. Anna kauerte sich mit einem Krug kochenden Wassers daneben und blies auf die Oberfläche, um es abzukühlen, ehe sie die heiße Flüssigkeit schluckte.
Laurent ging währenddessen im Flur auf und ab. Durch die geschlossenen Türen drang das Klicken von Essstäbchen und das Geplapper der Schwestern. Nach fünf Krügen fragte er. »Bist du jetzt voll?«
»Ich habe mir den Mund verbrannt.«
»Bist du voll?«
»Ja.«
»Na komm. Noch einen.«
Anna schmollte, aber sie tat, wie geheißen. Dann klopfte Laurent an die Tür.
Die Schwester funkelte die Ausländer an. »Wo ist Ihr Chip?«, fragte sie.
»Sie hat ihn verloren.«
»Mmm … War sie heute schon auf der Toilette?«
»Nein.«
»Hat sie viel Wasser getrunken?«
»Ja.«
»Mmm … Tut mir leid. Ohne Chip können wir nichts machen. Kommen Sie morgen wieder.«
»Bitte lassen Sie sie rein«, flehte Laurent. »Meiner Frau geht es nicht gut. Wir können morgen nicht wiederkommen. Es ist zu anstrengend für sie. Wir wohnen weit weg.«
»Woher kommen Sie?«, wollte die Schwester wissen, die noch nicht überzeugt war.
»Aus Albanien«, erwiderte Laurent.
»Oh«, sagte sie. »Dann kommen Sie rein.«
Laurent wartete draußen.
Anna wurde wieder zu einer Liege gebracht. Wieder legte sie sich hin. In diesem Zimmer befanden sich nur zwei Schwestern, die sie anlächelten. Eine flüsterte der anderen zu: »Sie kommt aus Albanien«, und strich Anna mit kühlen Händen über die Stirn. Während die andere die Geräte vorbereitete, spielte sie mit Annas Haar. Anna schloss die Augen und stellte sich vor, sie läge auf einem sauberen Bett in einem Krankenhaus in Melbourne.
Die zweite Schwester kehrte mit einer Tube Gel zurück, von dem sie etwas auf Annas Unterleib auftrug. Dann schob sie den Ultraschallstab darüber hinweg.
»Da ist es«, sagte sie.
Angstvoll riss Anna die Augen auf. Sie hatte es mit ihren Wünschen und ihrer Willenskraft also doch nicht wegzaubern können. Auf dem flackernden Bildschirm pulsierte ein kleiner weißer Punkt in einem Meer aus Grün.
»Was ist das?«, fragte Anna.
»Das Baby«, sagte die Schwester.
Annas Herz lief über.