Kapitel 2

»Um traditionelle chinesische Malerei zu lernen, du müssen ›Vier Schätze‹ besitzen«, verkündete Chenxi. »Schatz Nr. 1 ist Pinsel.«

Anna nahm den leichten Bambuspinsel in die Hand und drehte ihn hin und her. Er war glatt und braun gefleckt, wie ein Vogelei, und die langen weißen Borsten verjüngten sich zu einer zarten Spitze. Sie schrieb ihren Namen damit in die Luft, ehe sie ihn wieder in das bestickte Seidenkästchen legte. Dann schaute sie Chenxi an.

Stirnrunzelnd betrachtete er die Pinsel in ihren aufwendig dekorierten Behältnissen. »Zu teuer!«

Anna seufzte und stellte die Kästchen wieder auf das staubige Regal.

Chenxi rief dem hageren jungen Mann, der an der Theke lehnte und in seinen Zähnen herumstocherte, etwas zu. Der Mann gähnte und öffnete dann eine Metallschublade hinter sich. Er holte eine Handvoll identischer Pinsel heraus und warf sie vor Chenxi auf die Theke. Dann nahm er wieder seine ursprüngliche Position ein und fuhr fort, in seinen Zähnen zu stochern.

Chenxi nahm einen Pinsel nach dem anderen in die Hand und prüfte sie. Zuerst schloss er die Augen und balancierte das Gewicht des Pinsels in seiner Handfläche. Dann nahm er die lange Plastikhülle ab und zupfte an den Borsten. An einem Pinsel lösten sich die Haare in Büscheln. Er schnaubte und schob den zerrupften Pinsel dem Verkäufer zu, der sich dadurch nicht von seinen Zähnen ablenken ließ. Dann hielt Chenxi jeden einzelnen Pinsel dicht vor sein eines Auge und spähte an dem Schaft entlang, ehe er sie unter seiner flachen Hand über die Theke rollte. Jeden Pinsel unterzog er dieser Prüfung, bis aus dem guten halben Dutzend nur ein Einziger übrig blieb.

Anna schaute fasziniert zu, als Chenxi von dem gelangweilten Verkäufer eine weitere Handvoll Pinsel verlangte, diesmal größer als die ersten, und genau die gleiche Prozedur vollzog. Dann wieder und wieder, bis zehn Minuten später sechs perfekte Pinsel unterschiedlicher Größe wie eine Panflöte nebeneinander vor ihnen lagen.

»Schatz Nr. 2 ist Papier«, sagte Chenxi.

Der Verkäufer rutschte von seinem Hocker und schlurfte zu einer Reihe von breiten Schubladen voller gefalteter Reispapierbögen. Er schob sich die Brille auf die Stirn und massierte sich den Nasenrücken, während er auf Chenxis Anordnungen wartete. Die Auswahl der zweiten Kostbarkeit schien eine leichtere Aufgabe zu sein. Chenxi gab dem Verkäufer genaue Anweisungen, der daraufhin eine Rolle aus einer Lade hievte und auf die Theke legte.

»Für Anfänger Xuan Zhi ist okay«, sagte Chenxi.

Er drückte seine Zunge gegen eine Ecke des Papiers. Als er sie wegzog, war das feuchte Papier durchscheinend. Chenxi nickte und half dem Verkäufer, lange Bögen von der Rolle abzuschälen.

»Dritter und vierter Schatz … Reibstein und Stangentusche.«

Anna hob die Augenbrauen. Chenxi kramte in einem zerschlissenen Pappkarton herum, der auf der Theke stand. Er wählte eine in Zellophan eingewickelte Stangentusche aus und reichte sie Anna. Sie betrachtete den langen schwarzen Stab in ihrer Hand. Er war nicht so reich verziert wie einige andere, die sie in der Auslage gesehen hatte – Chenxi war sparsam –, aber mit seinen verschlungenen goldenen und roten Drachen, den silbergeränderten Wolken und der eingeritzten Kalligrafie immer noch viel zu hübsch, um ihn zu benutzen. Während Anna sich fragte, wie man aus diesem festen Klumpen flüssige Tusche gewann, durchquerte Chenxi den Raum.

An einer anderen Theke hatte eine säuerlich wirkende Frau vier identische Reibsteine ausgelegt, alle glatt und so dunkel wie Kohlenstaub. Auf jedem lag ein flacher, runder Deckel aus Stein, den Chenxi jeweils auf seine Passgenauigkeit untersuchte. Er hielt die Reibsteine dicht an sein Ohr und lauschte dem hohlen Schaben, mit dem sich der Deckel drehte. Dann lehnte er alle vier ab. Die Frau stieß ein genervtes Grunzen aus und bückte sich hinter der Theke.

»Oh, der da sieht doch gut aus!«, widersprach Anna, die freundlich sein wollte, aber Chenxi funkelte sie an.

Als ob er Annas Unwissenheit unter Beweis stellen wollte, verwarf er auch die nächsten drei Reibsteine, und wieder machte sich die Verkäuferin unter der Theke auf die Suche. Stöhnend legte sie nacheinander die letzten fünf Steine auf die Theke, die sie auf Lager hatte, und trat dann mit vor der Brust verschränkten Armen und zusammengepressten Lippen zurück. Anna versuchte es mit einem mitfühlenden Lächeln, aber die Frau wandte den Blick ab.

Der letzte Reibstein bestand den Test, und Chenxi trug den vierten Schatz wieder zu einer anderen Theke, wo bereits die ersten drei lagen, eingepackt in braunes Papier und Schnur. Chenxi zog ein Bündel zerknitterter Geldscheine aus der Tasche und zählte sie für eine Verkäuferin ab, die in einer Kabine saß. Das ist komisch, dachte Anna. Mein Vater hat ihm doch neue Geldscheine gegeben.

Die Frau zählte das Geld nach. Nachdem sie etwas in ein großes Quittungsbuch geschrieben hatte, riss sie gelbe, weiße und rosafarbene Seiten heraus und heftete sie mit einer großen Flügelklammer zusammen. Diese befestigte sie an einer Schnur, die in der Kabine auf Höhe des Schreibtischs begann und schräg durch den Laden nach oben verlief.

Anna schaute zu, wie das Geld und die Quittungen die Schnur entlangwanderten, über ihren Kopf hinweg und schließlich in einem kleinen Loch kurz unterhalb der Decke auf der anderen Seite des Raums verschwanden. Ein paar Minuten später kam das Bündel wieder, diesmal ohne die Geldscheine und das rosafarbene Blatt, dafür aber mit einem kleinen Beutel voller Plastikmünzen.

Die Verkäuferin löste die beiden verbliebenen Blätter Papier, auf denen jetzt ein klebriger roter Stempel prangte, und reichte Chenxi das weiße Exemplar. Das gelbe Blatt legte sie in die Schublade und warf Chenxi ein paar Plastikmünzen aus dem Beutel auf die Theke. Er steckte sie ein und gab die Quittung an Anna weiter, die mit all den braunen Päckchen ihre liebe Mühe hatte. Und dann schlenderte er aus dem Geschäft.

Auf der Straße, das kühle Dämmerlicht des Geschäfts hinter sich lassend, fragte sich Anna, wie viel Zeit wohl vergangen war. Sie war erst einen Tag in Shanghai, und es war nicht schwer, sich in der dampfenden grauen Hitze zu verlieren, in den fremdartigen Gerüchen nach Fisch und ranzigem Sojaquark und in dem beständig fließenden Strom aus Menschen. Es war Ende April, mitten im Frühling in China, aber die Hitze hier war so ganz anders als die trockenen, sonnigen Frühlingstage, die sie von zu Hause her kannte. Außerdem hatte sich das Wetter in Melbourne bei ihrer Abreise bereits herbstlich abgekühlt, und der Unterschied machte es Anna schwer, sich zu akklimatisieren. Sie hoffte, dass sie sich bald an die Hitze gewöhnen würde. Schließlich blieben ihr nur vier Wochen, um einen Kurs an der Kunstakademie zu besuchen, und jetzt, da sie Chenxi kennengelernt hatte, wusste Anna, dass die Zeit viel zu schnell vorübergehen würde.

Chenxi winkte ein Taxi herbei. Als sie in den klimatisierten Innenraum einstiegen, fühlte Anna ein leichtes Schwindelgefühl. Lag es an der Hitze draußen oder daran, dass Chenxis glatter Arm nur Millimeter von ihrem eigenen – rosig und mit Sommersprossen gesprenkelt – entfernt lag?

Vom Rücksitz aus war es unmöglich, irgendetwas durch die dichte Wand aus Fahrrädern zu sehen. Der Taxifahrer hatte eine Hand auf dem Lenkrad und die andere auf der Hupe. Zentimeterweise bewegten sie sich vorwärts. Das Meer aus Radfahrern teilte sich vor ihnen und schloss sich wieder, nachdem sie vorbeigefahren waren. Gelegentlich spürte Anna, wie ein Fahrrad gegen die Karosserie stieß. Am Rückspiegel hing in einem roten, mit Quasten besetzten Rahmen das Bild eines lächelnden Mao. »Warum um alles in der Welt hat der Fahrer das Foto eines toten Staatsoberhaupts in seinem Wagen?« Anna lachte.

»Um zu beschützen«, lächelte Chenxi. »Vor ein paar Jahren, zwei Taxifahrer haben schlimmen Unfall, und nur ein Fahrer nicht sterben. Er haben Porträt von Mao in sein Wagen, und er sagen allen, er deshalb nicht sterben in schlimme Unfall. Jetzt viele Fahrer haben Mao in Taxi. Um zu beschützen. Altes China ist sehr abergläubisch.«

Er zwinkerte Anna zu, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie spürte, wie ihre Wangen sich unter Chenxis Blick röteten, und wandte sich dem Fenster auf ihrer Seite zu. Aus dem Radio drangen der Singsang und das klirrende Scheppern von Beckentellern, die zu der Pekingoper gehörten. Eine große Nescafé-Dose, deren Inhalt aussah wie warme Teichalgen, klemmte zwischen den Oberschenkeln des Fahrers. Hin und wieder hob er sie hoch, löste den Deckel geschickt mit einer Hand und schlürfte daran.

Chenxi unterhielt sich mit dem Fahrer, der immer wieder in den Rückspiegel schaute, um Anna zu betrachten. Er schien gefangen von ihrem blonden, ungebändigten Haar, das sich in der feuchten Hitze störrisch der Zähmung widersetzte. Sie saß da mit ihren Päckchen auf dem Schoß und starrte aus dem Fenster. Der abkühlende Schweiß auf ihrer Haut und der feine Flaum auf Chenxis Arm verursachten ihr eine Gänsehaut. Sie wünschte, sie wüsste etwas zu sagen, aber sie fühlte sich kindisch und schüchtern. Jetzt war die Gelegenheit, tadelte sie sich selbst und ging im Geiste ihr Repertoire an Konversationsmöglichkeiten durch.

An einer roten Ampel, gerade als Anna den Einstieg in ein Gespräch gefunden hatte, richtete sich Chenxi auf. Er kurbelte sein Fenster herunter und rief jemandem etwas zu. Anna versuchte zu erkennen, mit wem er sprach, aber etwa hundert gleich aussehende Gesichter starrten zu ihr herein.

Chenxi wandte sich lächelnd zu ihr um. »Er Schulfreund von mir. Du allein nach Hause fahren, okay? Fahrer wissen wo. Ich gehen mit Freund?«

Er berührte Anna leicht am Knie.

»Natürlich …« Und schon war er weg, bahnte sich pfeifend und lachend seinen Weg durch die Menge. Der leichte Druck seines Fingers kitzelte auf der Haut ihres Knies. Sie schaute auf und sah den Fahrer, der sie mit schmalen Augen anstarrte. Anna wandte sich wieder dem Fenster zu.

Die belebte Straße ging in eine Gasse über, in der Kinder herumliefen und die Wäsche über den Köpfen an Bambusstäben hing. In dunklen Hauseingängen saßen alte Frauen mit walnussfarbenen Gesichtern über gerupften Federn und Gemüseresten. Anna wusste sofort, dass dies nicht der Weg war, den sie mit Chenxi gekommen war. Sie biss sich auf die Innenseite ihrer Wange.

Das Taxi hielt an.

Erschrocken beugte sich Anna nach vorn. »Yangdang Apartments!«, rief sie und wedelte mit dem Zettel, den ihr Vater ihr gegeben hatte. »Yangdang Lu!«

»Okay, okay, okay!« Der Fahrer wischte ihre Hand weg. Er öffnete seine Tür und rutschte aus dem Wagen. Die Motorhaube dampfte und tickte in der feuchten Hitze. Sofort drückten sich kleine runde Nasen gegen die Fensterscheiben. Alle waren gekommen, um sie unter die Lupe zu nehmen. Das Dröhnen des Verkehrs klang weit entfernt. Anna lehnte sich zurück. Ihr Herz tanzte wie ein Fisch. Sie starrte stur geradeaus. Im Radio nahm die Oper jetzt Fahrt auf – es klang wie Katzengejaule und Bratpfannen, die scheppernd gegeneinandergeschlagen wurden. Der Vorsitzende Mao lächelte gütig auf sie herab.

Der Fahrer kehrte mit einer alten Frau an einem und einer Wassermelone im anderen Arm zurück. Um ihn herum hatte sich seine Familie versammelt. Alle starrten die bleiche, schwitzende Ausländerin an und riefen »Hallooo! Hallooo!« Die alte Frau hatte starre gelbe Augen und ein klebriges Lächeln. Sie streckte ihren Arm durch die offene Fahrertür und berührte Annas Kopf. Sie nickte und gurrte, während ihre Finger durch Annas Haare glitten.

Als endlich alle genug gestarrt hatten, stieg der Fahrer wieder ins Taxi, legte die Wassermelone auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Sie fuhren aus der Gasse hinaus, hinein in den dichten Verkehr. Annas Gesicht brannte vor Wut und Scham, weil der Taxifahrer sie wie eine Zirkusattraktion behandelt und weil Chenxi sie im Stich gelassen hatte. Sie schwor sich, dass sie sich nie wieder so einwickeln lassen würde. Chenxi bekam gutes Geld dafür, dass er auf sie aufpasste. Das nächste Mal würde sie nicht mehr auf seinen Charme hereinfallen.