Der Tag löste sich im Abend auf. Die Farben des Sonnenuntergangs überzogen den dunstig-grauen Himmel mit einem zarten Rosa. Männer in Anzügen mit gefälschten Designer-Labels an den Ärmelaufschlägen hockten in Hauseingängen und rauchten. Ein Nudelverkäufer räumte seinen Stand auf, um Platz für die Konkurrenz zu machen. Leute, die um diese Zeit etwas aßen, hatten keinen Appetit auf Nudeln. Ein spätes Abendessen war die Zeit der Ausländer, die Zeit der Geschäftemacher, die Zeit, um Zigaretten und einen Handschlag auszutauschen. Um Geld auszugeben, um Geld zu verdienen. All das ging den alten Mann nichts an. Er hatte genug verdient, um mit seiner Nudelsuppe und den Essensmarken zurechtzukommen. Das große Geld überließ er den jungen Leuten. Es war an ihnen, reich zu werden und nach Amerika zu gehen. Er schätzte sich schon glücklich, die Schrecken der Vergangenheit überlebt zu haben.
Er fegte den Asphalt vor seinem Laden sauber. Nudeln, Speichelklumpen und Kakerlaken wirbelten in den Rinnstein. Die Nacht senkte sich nieder und eine Brise fuhr durch die feuchte Hitze des Tages. Der alte Mann wischte sich mit der Hand über die fettige Stirn. »Macht schon, ihr zwei«, sagte er zu den beiden jungen Männern, die in der hintersten Ecke saßen. »Ich will nach Hause.«
Die zwei jungen Männer schauten von ihrem Gespräch auf und merkten überrascht, dass die Dunkelheit an sie herangekrochen war. Chenxi zog an seiner Zigarette, wobei das orangefarbene Glühen sein Gesicht beleuchtete; dann schnickte er den Stummel hinaus auf die Straße. »Entschuldige, Großvater. Wir gehen, wir gehen ja schon.«
Sein Freund Lao Li zog ungelenk die langen, schlaksigen Beine unter dem schmutzigen Plastiktisch hervor und stand auf. Auf dem Weg zur Tür duckte er sich unter der schwankenden Glühbirne, die von der Decke hing.
»Hier, Großvater«, sagte Chenxi und legte dem alten Mann den Arm um die Schulter. Er zwinkerte und steckte ihm einen Geldschein in die faltige Hand. »Für deine Reise nach Amerika!«
Die beiden jungen Männer kicherten, während sie sich auf die rostigen Fahrräder schwangen, die an dem Laden lehnten.
Der alte Mann schaute auf den funkelnagelneuen Devisenschein in seiner Hand. Er schaute den beiden Jugendlichen nach, die die mittlerweile verlassene Straße entlangradelten, und schüttelte den Kopf. Was hatten die beiden jetzt bloß wieder ausgeheckt?
»He, gehen wir in eine Bar!«, sagte Chenxi. Seine Wangen waren gerötet und er fühlte sich beschwingt von dem Reiswein, den er mit seinem Freund getrunken hatte. Er fuhr voraus und beschrieb mit dem Fahrrad eine Acht, bis Lao Li ihn eingeholt hatte. »Was meinst du? Der Nobelschuppen auf der Huai Hai Lu?«
Lao Li grinste und sagte mit schleppender Stimme: »Da kommst du nicht rein. Der ist nur für Ausländer.«
Chenxi klopfte auf das Bündel Devisenscheine in seiner Tasche. »Ich bin Japaner und du kommst aus Taiwan.«
Lao Li lachte. »Das nehmen die uns nie ab.«
»Komm schon, Mann. Geld regiert die Welt. Und ausländisches Geld erst recht.«
Lao Li schüttelte den Kopf. Aber er wusste, dass er seinem verrückten Freund folgen würde. Das tat er immer.
Kichernd und schnaubend versteckten Chenxi und Lao Li ihre Fahrräder in dem Gebüsch in der Nähe des Eingangs zur Bar. Chenxi knöpfte sein Hemd bis zum Hals zu, um sein zerschlissenes Unterhemd zu verstecken, und Lao Li strich sich die langen Fransen seines Ponys aus der Stirn. Sie schauten einander mit ernsten Gesichtern an und brachen dann erneut in Gelächter aus.
Ein üppig geschminktes einheimisches Mädchen mit einem kurzen Rock und hochhackigen Pumps stolzierte am Arm eines gut gekleideten Ausländers vorbei. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf Chenxis hübsches Gesicht. Der Ausländer hielt ihr die schwere Glastür auf und sie verschwand in dem rauch- und musikgeschwängerten Inneren der Bar.
»Okay«, flüsterte Chenxi. »Auf geht’s.«
An der Tür stand ein Chinese im Abendanzug mit steinernem Gesicht und vor der Brust verschränkten Armen. Als Chenxi und Lao Li näher traten, runzelte der Mann die Stirn und senkte leicht den Kopf.
»Hi!«, sagte Chenxi auf Englisch. »Wir hier treffen Freunde.«
Der Mann starrte weiterhin auf das Gebüsch.
Chenxi versuchte es mit einer anderen Taktik. Er wechselte zu Mandarin und flehte: »Ach komm schon, Mann. Meinem Freund geht es nicht gut. Wir müssen ihn da reinbringen. Er braucht was zum Trinken.«
Wie auf Kommando griff sich Lao Li mit der Hand an die Kehle, keuchte auf und nickte.
Keine Reaktion.
»Hier«, sagte Chenxi, diesmal im Dialekt der Shanghailesen. »Ich könnte dir hiervon etwas abgeben, für deine Mühe.« Er zog das Bündel Devisenscheine hervor und fächerte sich damit Luft zu. Der Mann starrte stur geradeaus. Chenxi zog einen Geldschein heraus und steckte ihn dem Mann in die Brusttasche, so wie er es in amerikanischen Filmen gesehen hatte. Der Mann zuckte nicht mit der Wimper. Chenxi streckte die Hand nach der Tür aus. Da schoss die fette Pranke des Mannes hervor und packte Chenxis Handgelenk mit einer eisernen Umklammerung. Diesmal schaute er Chenxi geradewegs in die Augen. So standen sie etliche Herzschläge lang, bis Lao Li seinem Freund die Hand auf die Schulter legte.
»Komm schon, Chenxi. Lass uns gehen.«
»Auf keinen Fall!«, murmelte Chenxi, der immer noch in das regungslose Gesicht des Türstehers starrte. »Ich gehe da rein.«
Die schwere Glastür schwang auf. Ein kleiner Chinese mit einer haarigen Warze auf der Wange trat aus dem Rauch und der Musik. Er beendete sein Gespräch mit einem zweiten Mann, der in der Bar zurückblieb, und wandte sich dann lächelnd zu Chenxi.
»Also, wo liegt das Problem?«, fragte er Chenxi.
Chenxi versuchte, sich daran zu erinnern, wer behauptet hatte, er sähe aus wie ein Japaner. Ihm war klar, dass er niemanden zum Narren halten konnte.
»Es gibt kein Problem.« Chenxi erwiderte das Lächeln. »Ich möchte nur hineingehen und etwas trinken.«
»Du weißt doch, dass das nicht geht«, sagte der Mann und wedelte mit einem Finger, an dessen Spitze ein langer Nagel saß, vor Chenxis Gesicht herum. Zwei große Chinesen tauchten rechts und links von ihm auf. Beide trugen schicke graue Anzüge und blickten drohend drein.
»Komm schon, Chenxi«, flüsterte Lao Li.
»Ich habe Devisen«, sagte Chenxi, wobei er jede einzelne Silbe des Wortes »Devisen« betonte, als ob dies das geheime Passwort sei, das ihm den Eintritt ermöglichte. Das Passwort, das alle Türen öffnete.
»Wie schön«, sagte der Mann liebenswürdig. »Du kannst sie von mir aus gerne in Amerika ausgeben.« Und damit wandte er sich zur Tür.
Chenxi trat vor. Die beiden großen Männer in den grauen Anzügen machten ebenfalls einen Schritt vorwärts und versperrten den Eingang zur Bar. Einer von beiden schnaubte, als würde er Chenxi herausfordern, es nur zu versuchen. Chenxi hob die Hand – eine schwache Geste seiner friedlichen Absicht –, doch aus dem Nirgendwo kam eine Faust angeschossen und traf ihn an der Schulter. Wie in Zeitlupe stürzte er die Treppe hinunter. Sein Schädel prallte mit einem dumpfen Knall auf den Asphalt.
Der kleine Chinese schüttelte den Kopf und kehrte in die Bar zurück, die zwei Männer in seinem Fahrwasser. Chenxi lag still und wartete, bis er wieder klar sehen konnte, bis der Zorn, der in ihm hochkochte, wieder verraucht war. Lao Li kauerte sich neben ihn. Chenxi setzte sich auf und betastete mit den Fingerspitzen seinen Hinterkopf, fühlte klebriges Blut. Der Mann an der Tür starrte zu ihm hinunter.
»Jetzt komm«, drängte Lao Li. »Machen wir, dass wir wegkommen!«
Eine Sekunde lang überlegte Chenxi, ob er sich wehren sollte. Noch mehr Blut würde fließen, aber der Gedanke, die blütenweißen Hemden und die makellosen Anzüge zu verschmutzen, war sehr verlockend. Doch neben ihm hockte Lao Li und beschwor ihn, nachzugeben.
Chenxi stand auf und spuckte aus. »Euren beschissenen ausländischen Wein will ich sowieso nicht trinken.«