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»Du hast dich also erfolgreich durch alle Etagen dieses Mehrfamilienhauses gefressen? Vom Erdgeschoss bis unter das Dach?« Ravi grinste Tobias an, um im gleichen Ton fortzufahren: »Unsere Raupe Nimmersatt. Frischer Kaffee, belegte Brötchen, Schwarzwälder Kirsch und lauwarmer Apfelstreusel mit frisch geschlagener Sahne. Jetzt frage ich mich nur, wann du anfängst, dich zu verpuppen, um in ein paar Wochen als wunderschöner bunter Schmetterling durchs Präsidium zu schweben.« Er warf seinem Kollegen einen herausfordernden Blick zu und richtete sein Augenmerk dann schnell wieder auf die Fahrbahn. Dichter Verkehr begleitete sie seit dem Moment, da sie das Wohngebiet in Laubenheim verlassen hatten, auch auf der B 9 und dem kurzen Abschnitt des Mainzer Rings, den sie gleich wieder verlassen würden, um an der Pyramide in das Hechtsheimer Gewerbegebiet abzubiegen.

Das gläserne Gebäude beherbergte eine Disco, in die es ihn bisher noch nicht gezogen hatte. Er bevorzugte die Clubs in der Innenstadt und die Kneipen in der Neustadt um den Gartenfeldplatz, die es einem ermöglichten, je nach Stimmungslage einfach und schnell von der einen zur anderen Lokalität zu wechseln. Sandra schwärmte von den Neunziger-Jahre-Discos in der Pyramide, die sich im ganzen Rhein-Main-Gebiet größter Beliebtheit erfreuten.

»Nach der Schimmelkultur auf der dottergelben Kondensmilch hätte selbst ich die Schwarzwälder Kirschtorte und auch jedes andere Nahrungsmittel ausgeschlagen. Komplett skurril: Die Wohnung war überhitzt und der Kaffee eiskalt. Dafür habe ich Lebensweisheiten serviert bekommen und Einblicke in die Einsamkeit des Alters erhalten. Und nebenbei gab es noch einen ersten Tatverdächtigen als Zugabe.«

Ravi konnte erkennen, dass sich Tobias nicht ohne Stolz reckte, um sich dann durch die luftigen Haare zu fahren. Sein Kollege hatte gerade eben wieder einen seiner Kontrollanrufe getätigt und wirkte dadurch sichtlich erleichtert. Ravi kannte das mittlerweile und glaubte zu spüren, wann Tobias die wenigen Minuten ganz besonders dringend brauchte, um zu überprüfen, ob daheim auch alles in Ordnung war. Wüsste er nicht, dass Saras depressive Tiefpunkte kaum vorhersehbar waren und sie sich schon mehrmals selbst verletzt hatte, würde er die wiederkehrende Nervosität des Kollegen, die nur mit einem Anruf zu beseitigen war, für eine ausgewachsene Form ehelichen Kontrollwahns halten.

Das Stakkato des Fragenkatalogs kannte er. Tobias schien kaum abzuwarten, bis sie ihm geantwortet hatte. Wo bist du gerade? Was machst du? Geht es dir gut? Wer ist bei dir? Wo sind unsere Kinder? Hast du schon etwas gegessen? Warst du heute schon mal vor der Tür? Hast du denn wenigstens die Rollläden hochgezogen? Wie eine liebevolle Unterhaltung zwischen erwachsenen Menschen, die sich abends in den Arm nahmen, um morgens nebeneinander aufzuwachen, klang das nie. Doch Tobias’ Stimme hatte stets einen weichen Ton. Sonst hätten ihn die Gespräche sofort an die inquisitorischen Befragungen seiner Mutter nach der Schule am Esstisch erinnert. Alltägliche Erkundigungen nach den Ergebnissen der letzten Klassenarbeiten, gefolgt von wiederholten Ermahnungen, bloß brav im Unterricht mitzuarbeiten.

Tobias’ Verhalten ließ sich erklären und nachvollziehen, aber zum Dauerzustand durfte es nicht werden. Er litt sichtlich unter der Situation, die ihn in einer permanenten Anspannung hielt, sobald er das Haus verließ. Manchmal vermittelte Tobias den Eindruck, abwesend und in Gedanken so weit entfernt zu sein, dass seine Aufmerksamkeit litt. Er hörte dann gar nicht richtig zu und stellte Nachfragen, die nicht in den Zusammenhang passten. Irgendwann würden ihm Fehler unterlaufen.

»Sara ist gerade beim Kaffeeklatsch mit anderen Müttern aus dem Dorf. Eine der Frauen kennt sie schon, weil die Kinder in derselben Gruppe im Kindergarten sind. Das wird ihr guttun.« Er atmete durch.

Die Bürde des Nachmittags schien von Tobias’ Schultern genommen, was gut war. Sie mussten hellwach sein bei dem, was sie gleich zu tun hatten. Erst später, wenn sich der heutige Arbeitstag erwartungsgemäß in die Länge zog, würde ihn die Anspannung wieder einholen.

Ravi wusste nicht, ob er sich unter diesen Umständen wirklich wünschen sollte, dass sie erst nach Mitternacht aus dem Präsidium kamen. Auch wenn ihm das wieder einmal die Möglichkeit verschaffte, die Verabredung mit seiner Mutter kurzfristig ohne schlechtes Gewissen abzusagen. Der Stolz, den sie versprühte, wenn sie ihren Nachbarinnen am Gartentor berichten durfte, dass ihr Sohn die Ermittlungen in diesem Fall führte, der es sogar in den überregionalen Teil der Tageszeitung geschafft hatte, entschädigte ausreichend für die Enttäuschung. Spätestens nächsten Sonntag wäre er aber dran. Mit Sandra zusammen käme er sicherlich nicht unter fünf Stunden Anwesenheit aus Otterbach wieder heraus. Ihm graute jetzt schon bei diesem Gedanken.

Er war froh, als in diesem Moment sein Handy einen knappen Signalton von sich gab und das Display kurz aufleuchtete. Tobias griff danach, weil er erkannt hatte, dass die Nachricht von Harro stammte.

»Bingo! Das ist unser Mann.« Tobias legte das Handy wieder zurück in die Ablage der Mittelkonsole. »Schulden, Druck, Drogen. Kilian Oberländer scheint wirklich zum Haupttatverdächtigen zu werden. Harro ist auch auf dem Weg hierher. Wir sollen vor der Werkstatt auf ihn warten.« Tobias schüttelte den Kopf. »Wo er das wieder herhat? Welcher Mainzer Dealer hat ihm da noch einen Gefallen geschuldet?«

Ravi glaubte, aus Tobias’ Worten Bewunderung für Harros mitunter reichlich unkonventionelle Ermittlungsmethoden heraushören zu können. Als der Kollege noch in Bretzenheim lebte und sie häufiger nach dem Dienst zusammen in der urigen Weinkneipe am Holztor versackt waren, hatte der Chef nach dem sechsten Riesling nicht selten mit seinen prächtigen Kontakten in die Unterwelt geprahlt. Mindestens die Hälfte der Mainzer Dealer kenne er persönlich, und bei einem nicht unbedeutenden Teil habe er noch einen gut. Der kräftige Wirt, der seine Stammgäste und ihr Jägerlatein zur Genüge kannte, servierte dem Chef nach diesen vollmundigen Behauptungen bis zum Ende des Abends stets nur noch dünne Riesling-Schorlen. »Sonst quatscht der noch mehr Mist und verschreckt mir die Kundschaft.«

Der Verkehr lichtete sich langsam, und die Ausfahrt ins Gewerbegebiet kam in Sicht. Ravi betätigte den Blinker. Das Bild von Harro im Wohnzimmer der Tatortwohnung flackerte vor ihm auf, als er die enge Kurve der Autobahnabfahrt nahm.

»Harro hat es heute wieder getan.«

Der Satz war einfach so über seine Lippen gekommen, ohne dass er sich Gedanken darüber gemacht hätte. Tobias starrte ihn fragend an und brauchte einen Augenblick, um sich zu sortieren. Mehr als ein einfaches Fragewort brachte er trotzdem nicht heraus.

»Was?«

»Er hat am Tatort eine Flasche Schnaps mitgehen lassen. Ich habe gesehen, wie er sie aus der Bar in der Schrankwand genommen und in seine Jackentasche gesteckt hat.« Ravi beschleunigte auf der Geraden, die am Rand des Gewerbegebietes entlangführte. Die Ampel vor ihnen sprang schon auf Grün um. Weit hatten sie es nicht mehr.

Er konnte Tobias neben sich schlucken hören. Seine Antwort klang trotzdem so, als ob ihn etwas beim Reden behinderte. »Irgendwann langt er richtig zu.«

Ravi wusste, dass er nicht noch mehr erzählen durfte, weil dann alles kaputtginge.