Missmutig drückte er seinen widerspenstig ruckelnden Einkaufswagen über das grobe Kopfsteinpflaster und stieß gemurmelte Verwünschungen aus. Sein Kopf dröhnte. Ein Amboss, auf den in unregelmäßigen Abständen ein schwerer Hammer niederfuhr, so klang das da drinnen. Es schmerzte jedes Mal tierisch, bis auch der Widerhall endlich nachließ. Der billige Wodka aus dem Aldi brannte in seinem leeren Magen. Der schmeckte heute sonderbar, und er sah auch irgendwie anders aus als sonst. Er fraß sich in seine Schleimhäute und stieg brodelnd wieder auf. Alle schienen sie sich abgesprochen und die heutige Nacht ausgewählt zu haben, um sich gegen ihn zu verschwören. »Ihr könnt mich alle mal kreuzweise! Lumpenpack!« Er brüllte seinen Zorn in die Nacht und spuckte angewidert aus. Dann zog er schimpfend weiter.
Die Glocken im Dom erklangen zuerst hell und dann dreimal dunkler. Er überlegte, wie lange er denn nun eigentlich geschlafen hatte. Zu einem abschließenden Ergebnis kam er nicht. Wirklich weg gewesen, im Reich der Träume, war er nicht. In einem Dämmerzustand hatte er dagelegen. Aber was spielte das noch für eine Rolle? Es war passiert, und er hatte jetzt den Salat.
Umständlich zerrte er an dem groben Strick, der ihm seit dem Sommer als Gürtel diente. Das Leder hatte sich damals nach vielen Jahren verabschiedet. Es war zuerst brüchig geworden und ein paar Wochen später an mehreren Stellen gleichzeitig gerissen. Das spröde Material ließ sich unmöglich flicken, und er hatte es daher schweren Herzens gegen die dicke Kordel ausgetauscht, die jetzt verhinderte, dass ihm die Hose auf halb acht hing.
Ächzend drückte er den Rücken durch und starrte in die Sterne am Himmel über ihm. Der Rhein platschte gegen die groben Brocken der Uferböschung. Im trüben Mondlicht sah es aus, als ob der Fluss Trauer trüge. Das passte gut zu seiner Stimmung. Und das Geräusch half ihm beim Wasserlassen. Zumindest juckte es da unten nicht mehr. Der Arzt, der mit seinem Behandlungsbus zu ihnen kam, war ein guter Mensch. Seine Salbe half, auch wenn er keine Möglichkeit oder oft schlicht keine Lust hatte, die Notunterkunft zum Duschen aufzusuchen. Die Idioten dort brauchte er nämlich noch viel weniger als Sodbrennen, Magenschmerzen und den Hammer im Kopf. Der Doktor wollte ehrlich wissen, wie es einem ging. Von ihm erhielt man Hilfe und keine guten Ratschläge, wie man sein Leben in den Begriff bekam. Er hatte sein Leben nämlich im Griff, wenn sie ihn einfach nur in Frieden ließen. Wenn sie ihn nicht blöde anquatschten, nicht beklauten und schikanierten oder Schlimmeres mit ihm anstellten.
Er atmete tief durch und lauschte dem erleichternden Plätschern, das sich nun endlich einstellte. Es tat so gut, dass dort wieder alles funktionierte und es nicht mehr so barbarisch brannte. Er kostete den Moment aus und blieb reglos noch eine Weile stehen, obwohl eigentlich nichts mehr kam. Nur noch ein paar letzte Tropfen, die er abschüttelte.
Jetzt hatten ihn seine Probleme wieder. Stramm zog er den Strick zusammen und verschnürte ihn so fest, dass er zur Not auch würde rennen können, wenn das notwendig erschien. Den Einkaufswagen, den er vor zwei Jahren aus dem Wasser gezogen hatte, ließ er nur ungern allein, weil darin alles verstaut war, was er für sein Leben auf der Straße benötigte. Aber manchmal gab es keine andere Möglichkeit, um sein Eigentum zurückzubekommen.
Es war immer dieselbe Leier mit diesen besoffenen Arschlöchern, die nachts in der Stadt unterwegs waren und sich sogar bis hierher ans Wasser verirrten. Deswegen zog es ihn an den Rhein, weil man hier eigentlich meistens seine Ruhe hatte und ungestört schlafen konnte. Am Flussufer waren die Bänke noch nicht so konstruiert wie am Bahnhof und vielen anderen Ecken der Stadt, wo man sich nicht einmal mehr hinlegen konnte. Das machten die absichtlich. Er spuckte noch einmal verächtlich aus. Schlaue Köpfe wurden dafür bezahlt, dass sie sich Sitzgelegenheiten ausdachten, die für Obdachlose möglichst unbequem waren. Kantige Armlehnen, die Sitzbänke unterteilten. Oder reine Flächen ganz ohne Rücken- und Seitenlehnen, um einem das Gefühl zu geben, vollkommen ungeschützt dazuliegen. Auch die Stacheln auf den niedrigen Fensterbänken an einigen Häusern in der Altstadt, die verhinderten, dass man sich daraufsetzte, gehörten dazu. Defensive oder sogar feindliche Architektur nannten sie das. Mit dem Doktor hatte er darüber geredet, weil der sich dafür einsetzte, dass die Zäune um Lüftungsschächte wieder verschwanden. Aus einem dieser Vertreibungszäune, der an der Bibliothek bei den Bonifazius-Türmen neu errichtet worden war, hatte der Doktor einen Gabenzaun gemacht. Dort fand man in kleinen Beuteln, wie bei einem Adventskalender, hilfreiche Kleinigkeiten für das Überleben auf der Straße.
Morgen früh würde er sich dort eine Tube Zahnpasta holen. Aber jetzt musste er sich erst einmal darum kümmern, dass er seine Decke wiederbekam. Entschlossen schob er seinen störrischen Wagen weiter über den unebenen Untergrund. Seine Gedanken verfingen sich wieder in den Ereignissen, die er nur im Dämmerzustand mitbekommen hatte und die noch gar nicht so lange zurückliegen konnten. Herumkrakeelt hatten sie zuerst und sich dann in die Haare bekommen. So musste es gewesen sein. Er nickte bestätigend. Er hatte deutlich hören können, wie sie aneinander zerrten. Stoff war gerissen, und gleich darauf hatten sie beide wieder geschrien. Es wunderte ihn, dass er trotzdem irgendwann eingeschlummert war. Aber er dämmerte ja auch dann weg, wenn eine Bank weiter ein Pärchen lautstark herummachte, was hier am Rhein viel häufiger vorkam als eine Schlägerei zwischen Besoffenen.
Klappernd zog er weiter und ließ den Blick schweifen, ob er seine neue Bundeswehrdecke irgendwo sah. Das war ihm nicht zum ersten Mal passiert, daher hätte er eigentlich aufmerksamer sein müssen. Bei den milden Temperaturen in diesem schönen Oktober hatte er sie im Schlaf wohl einfach weggestrampelt. Aber war das ein Grund, ihn zu bestehlen? Zuerst schlugen sie sich, und dann herrschte schlagartig Ruhe, weil sie voneinander abließen und sich wortlos darauf verständigten, dass es ja ein paar Meter weiter ein besseres und dazu noch wehrloses Opfer für einen kleinen Spaß gab. Mehrmals schon war er aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt, weil irgendwelche Typen auf ihn pissten und sich dabei kaputtlachten. Zum Glück hatte er noch nicht erleben müssen, dass sie sich mit einem Feuerzeug an ihm zu schaffen machten. Das kannte er aus Erzählungen von anderen, die wie er auf der Straße lebten. Stattdessen hatten die Idioten ihm diesmal nur die Decke geklaut. Der Doktor hatte sie ihm geschenkt, weil die Gruppe Jugendlicher, die ihn am Johannisfest heimgesucht hatte, erst dann zufrieden von dannen gezogen war, als seine alte Decke im Rhein davontrieb. Die meisten anderen Witzbolde mit derselben Idee zogen sie nur ein Stück weit hinter sich her und ließen sie dann einfach fallen. Für ihn war das nichts Neues. Auf der Straße zu leben bedeutete aus der Sicht einiger Zeitgenossen, Freiwild zu sein, an dem man sich gerne aus Jux straffrei vergreifen durfte.
Abrupt blieb er stehen. Da lag er auf der Bank, der Dieb, mit dem Rücken zu ihm, und schien sich mit seiner Decke gemütlich eingerichtet zu haben. Er hatte nichts sonst dabei, was ihm Auskunft darüber gegeben hätte, um wen es sich handelte. Manchmal liehen Bekannte etwas aus, um später zu versichern, dass man im Halbschlaf zugestimmt habe. Vorsichtig sah er sich um und schlich sich dann an ihn heran. Der Kerl schlief tief und fest. Er kannte ihn nicht. Zwar konnte er jetzt einen Bart erkennen, der war aber so gepflegt, dass er zu keinem von der Straße passte.
Er griff nach dem Zipfel der dunkelbraunen Decke, der frei herabhing. Zur Sicherheit tastete er nach dem Pfefferspray, das er vor längerer Zeit mal aus einem Mülleimer geangelt hatte. Darin befand sich noch ein Restchen, mit dem er den Typen zur Not auf Abstand halten konnte. So weggetreten, wie der wirkte, würde er das Spray aber wohl nicht benötigen. Wahrscheinlich rührte der sich nicht einmal, wenn er ihm jetzt vorsichtig die Decke wegzog.
Tatsächlich klappte das leidlich gut, aber er bekam sie nicht vollständig zu fassen. Sie schien sich verhakt zu haben. Oder der Kerl lag mit seinem massigen Körper auf dem letzten Stückchen, das nicht unter ihm hervorgleiten wollte.
Mit voller Kraft riss er an seinem Eigentum. Fast fiel er rückwärts, als seine Decke endlich nachgab. Der Besoffene hielt sich nicht auf der Bank. Er landete im Dreck und kam ihm schwungvoll entgegengerollt. Erschrocken starrte er ihn dabei an und blieb mit dem Rücken zu ihm liegen. Die Decke unter den Arm geklemmt, riss er hektisch die Spraydose aus der Jackentasche und streckte sie dem Typen entgegen. Seine Hand zitterte. Der Bärtige rührte sich nicht. Der musste wirklich ordentlich getankt haben, wenn er jetzt direkt wieder einschlief. Zur Sicherheit blieb er abwehrbereit und ging ein paar Schritte rückwärts. Der Typ machte keine Anstalten, sich zu erheben, um wegen der Decke und dem Sturz von der Bank einen Streit vom Zaun zu brechen. Der lag einfach da und pennte weiter.
Kurz überlegte er, ob er sich revanchieren sollte. Das geschähe dem Kerl recht. Schließlich hatte er ja angefangen. Da brauchte er sich hinterher nicht zu beschweren, wenn die Retourkutsche auf dem Fuß folgte. Es stand aber leider kein Beutel oder Rucksack neben der Bank. Das Risiko, den Schlafenden abzutasten, mochte er nicht eingehen. Der sah recht muskulös und gut durchtrainiert aus. Eine Rangelei mit so einem wegen einer Schachtel geklauter Kippen oder einer letzten Pfütze im Flachmann brauchte er nicht.
Leise drehte er sich weg und schlich zu seinem Einkaufswagen zurück. Die Decke stopfte er hastig zwischen die Plastiktüten, in denen sich die gesammelten Pfandflaschen des gestrigen Tages befanden. Es war ausreichend Material für das Frühstücksgeld. Jetzt musste er aber erst einmal weg von hier und woanders eine Mütze Schlaf bekommen.
Der Wagen fabrizierte auf dem groben Kopfsteinpflaster erneut einen Höllenlärm. Das ließ sich nicht vermeiden. Er blickte sich daher immer wieder um, nicht dass die Sache doch noch gefährlich für ihn wurde.