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Der Aufzug endete im lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Die Glasfront des Penthouse gab den Blick frei auf den Yachthafen und den Rhein. In der beginnenden Dämmerung leuchteten die ersten Lampen auf der Gegenseite des Flusses auf. Nach rechts schlossen sich die niedrigen Hallen des Rudervereins, das Bootshaus mit dem Restaurant und die Tennisplätze an. Eine Konstellation, die kaum Wünsche offenließ, solange man über das nötige Kleingeld verfügte.

»Schöne Studentenbude.« Ravi trat als Erster aus dem Aufzug und auf Rajko Cvetkovic zu, der sie bereits erwartete. Er hatte die Ärmel seines hellblauen Hemdes umgeschlagen. Die Haut auf seinen Unterarmen war gut gebräunt. Ravi versuchte, nicht zu offensichtlich dorthin zu starren und nach den Kratzern zu suchen, doch Rajko folgte seinem Blick. Er lächelte überlegen. Auf seinen hohen Wangenknochen zeichnete sich eine leichte Rötung ab. Sein Seitenscheitel war gerade. Er trug eine hellbeige Hose, die über den Knöcheln endete. Mit nackten Füßen stand er auf den dunklen Holzdielen. Die Szenerie vermittelte den Eindruck, als wären sie an Deck einer mondänen Yacht zum Sundowner zusammengekommen. Auf einem Barhocker neben dem Küchenblock saß eine weitere Person. Der Mann hatte schwarze Haare. Nur kurz blickte er von dem Laptop hoch, der vor ihm auf dem Tresen stand.

»Axel Berlepsch.« Rajko deutete eine knappe Bewegung an. »Ein guter Freund aus dem Studium. Ich gehe davon aus, dass es kein Problem darstellt, wenn er hier bei uns bleibt.« Eine Antwort darauf schien er nicht abwarten zu wollen. Er eilte ihnen voran auf die Glasfront zu, vor der mehrere Sessel mit weißem Lederbezug um einen niedrigen Tisch angeordnet standen. »Ja, wir ziehen das Leben hier in Mainz dem Studentenwohnheim im Rheingau eindeutig vor.« Er grinste und drehte sich im Laufen kurz zu ihnen um. »Da wollen Sie nicht leben. Oestrich-Winkel, der Name sagt alles. Da ist nichts mit abwechslungsreicher Clubszene und Party von Donnerstag bis Sonntag. Wer die Zeit ein wenig genießen möchte, der wohnt in Mainz, Wiesbaden oder Frankfurt. Außer beim Trainingslager für die Erstsemester geht da nicht viel. Und das war vor ein paar Jahren auch noch besser. Bis einige es übertrieben und sich dabei so bescheuert angestellt haben, dass sie von Rettungssanitätern aus den Weinbergen geholt werden mussten, um auf der Intensivstation auszunüchtern.«

Ravi war das Geplänkel jetzt schon zuwider. Er hätte ihn am liebsten gepackt und so lange geschüttelt, bis alles aus ihm heraus war. Je länger er ihn bearbeitete, desto mehr Wahrheiten sollten aus ihm herauspurzeln.

Eine kreisrunde Dome-Kamera hing neben der silbern glänzenden, mächtigen Dunstabzugshaube an der Decke. Es würde ihn nicht wundern, wenn ihre Unterhaltung in einem separaten Raum aufmerksam verfolgt würde, um einschreiten zu können, falls sie die falschen Fragen stellten oder der Junior Antworten gab, die nicht zur Verteidigungstaktik passten, für die Harro die nötigen Informationen lieferte. Saß der nebenan mit dabei und pfiff sie mit einem Anruf zurück, falls sie zu forsch vorgingen? Der Gedanke nahm in seiner Vorstellung sogleich Gestalt an: Der Chef, zusammen mit dem alten Cvetkovic und dem erfahrenen Anwalt der Familie, begleitete ihren Auftritt hier oben über den Dächern von Mainz. Ganz entspannt und in den Sesseln zurückgelehnt saßen sie bei einem leichten Grauen Burgunder und warteten auf die beiden jungen Ermittler. Nur zu gerne hätte er diese Vermutung mit bohrenden Fragen und übermütigen Blicken in Richtung des Kameraauges zu belegen versucht. Aber damit hätte er sich nur noch lächerlicher gemacht als ohnehin schon. Wenn der Chef bis vor Kurzem noch hier gewesen wäre, hätte er das außerdem gerochen. Dieser Gedanke amüsierte ihn, wenn auch nur kurz. Harro hinterließ eine Duftmarke, für die man keinen Mantrailer benötigte.

»Darf ich Ihnen beiden einen Gin Tonic anbieten? Von der Uhrzeit passt das, oder steht bei Ihnen kein Feierabend an? Haben Sie noch weitere Termine?« Er langte bereits nach einem der bereitstehenden Gläser und zog aus der reichhaltigen Auswahl auf dem Beistellwagen zielsicher eine Flasche heraus. »Ich habe hier einen regional produzierten Gin, ein Winzer auf der anderen Rheinseite stellt ihn her. Er nutzt unter anderem Traubenblüten aus seinen Weinbergen als Botanicals. Ich finde ihn wirklich sehr gelungen«, sagte er und nickte kennerhaft.

Ravi war es jetzt eindeutig zu viel. Da Tobias keinerlei Anstalten machte einzuschreiten, lag es wohl an ihm, das Palaver zu beenden.

»Nein, wir möchten es uns hier nicht gemütlich machen und auch keinen Drink. Es wird schnell gehen. Sie wissen, warum wir hier sind?«, begann Ravi schroff. Er widerstand dem Drang, erneut in die Kamera zu starren.

»Ja, es tut mir sehr leid. Der Tod unseres Mitarbeiters ist ein schwerer Verlust, vor allem für meinen Vater, der viele Jahre vertrauensvoll mit ihm zusammengearbeitet hat, aber auch für mich. Unser Mitgefühl in dieser schweren Stunde gilt Roccos Familie.«

Amen. Gerne hätte er sich jetzt demonstrativ bekreuzigt und den Blick zur Schweigeminute gesenkt. Die Zurückhaltung kostete viel Kraft. Der dunkelhaarige Kommilitone blickte kurz von seinem Bildschirm auf. Er versuchte, nicht sonderlich interessiert zu wirken. Ravi fühlte, wie Hitze und Zorn kontinuierlich weiter in ihm aufstiegen. Er wollte das hier schnellstens hinter sich bringen.

»Sie haben sicherlich eine ganz einfache und plausible Erklärung für uns, warum wir Hautschuppen von Ihnen unter den Fingernägeln von Rocco Werner finden konnten.« Er starrte Rajko Cvetkovic in die Augen. Er hegte einen Rest Hoffnung, dass sich dort eine Regung zeigen würde, die ihm bewies, dass er mit allen seinen Vermutungen richtiglag. Doch der Sohn des Paten von Mainz ließ sich nicht aus der Reserve locken. Er blieb ruhig und souverän. Seinen rechten Arm drehte er jetzt lässig ganz bewusst so, dass Ravi den knapp zehn Zentimeter langen Striemen auf der Innenseite des Unterarms erkennen konnte. Dann erst redete er mit entspannter Miene weiter.

»Das wundert mich nicht. Wir waren gestern Abend zusammen in der Riesling-Bar am Rheinufer.«

»Dafür gibt es sicherlich Zeugen?«

»Axel war auch mit dabei.« Rajko Cvetkovic hielt kurz inne und wartete, bis sein Freund pflichtschuldig nickte. »Es war intensiv.« Er lachte vielsagend auf. »Ich habe mein Weinglas umgestoßen. Rocco und ich haben gleichzeitig danach gegriffen. Ganz taufrisch waren wir da beide schon nicht mehr. Dabei muss er mir den Kratzer an meinem Arm verpasst haben. Eine ordentliche Schramme, die das Glas auch nicht gerettet hat.« Er lächelte zufrieden. »Bemerkt habe ich das erst heute Morgen. Gegen zehn haben wir alle zusammen die Bar verlassen. Axel und ich sind dann hierher und haben noch einen Absacker auf meiner Terrasse getrunken. Rocco wollte nach Hause. Was ihn dann zum Rheinufer getrieben hat, das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich habe mir selbst schon den Kopf darüber zerbrochen.«

»Wie lange saßen Sie beide hier noch zusammen?« Ravi lächelte süffisant. »Die ganze Nacht wird es ja nicht gewesen sein.« Herausfordernd starrte er jetzt in die Kamera an der Decke. Sie sollten ruhig sehen, dass er das Ganze für ein Theater hielt.

»Die ersten Vögel haben schon gezwitschert, und es wurde langsam hell. Es war ja eine ganz milde, fast föhnige Nacht. Da nutzt man die Terrasse mit dem Blick auf den Rhein gerne aus. Wir haben den Gin fast ganz geleert und den neuen Tag am Ende mit einem torfigen Whiskey begrüßt.« Rajko Cvetkovic ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Na, dann sind ja alle Unklarheiten beseitigt. Im Zuge unserer Ermittlungen werden sicherlich noch mehr Fragen auftauchen. Es kann also gut sein, dass wir uns noch mal begegnen werden.« Ravi lächelte.

»Der Besitzer der Bar, direkt am Wasser, nicht weit vom Hilton, ist ein guter Bekannter. Er wird Ihnen gerne alles bestätigen. Ich habe Ihnen seinen Namen und die Anschrift schon notiert.« Er nahm einen Zettel vom Beistelltisch und reichte ihn Ravi unverhohlen grinsend. »Wenn Sie keine weiteren Fragen an mich haben und auch keinen Gin Tonic mit uns trinken möchten, dann würde ich Sie jetzt zum Aufzug begleiten. Kommen Sie gerne wieder, wenn es noch etwas zu klären gibt oder Sie die Aussicht hier oben bei einem Drink genießen möchten.«

Ravi war froh, als sich die Aufzugtür endlich schloss und er Cvetkovics überhebliches Grinsen nicht mehr sehen musste. Er kämpfte mit sich und seinen aufgestauten Emotionen, die nach außen drängten. Zu gerne hätte er den gläsernen Innenraum der Kabine in Schutt und Asche gelegt. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, und er bebte vor Zorn. Schweigend fuhren sie hinunter ins Erdgeschoss und liefen die wenigen Meter bis zum Wagen. Erst dann begann Tobias, gedämpft zu reden.

»Der war gut vorbereitet.«

Ravi nickte. Er knirschte mit den Zähnen. »Ja, das konnte man nicht übersehen«, entgegnete er verbissen.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass Harro Informationen durchsticht.« Tobias schüttelte enttäuscht den Kopf.

Ravi seufzte. Er konnte die Finger wieder bewegen. Die frische Luft tat gut. »Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch glauben soll. Am liebsten wäre es mir, wenn ich das alles nur geträumt hätte. Wenn ich ihn in der Schlange an der Tankstelle zwar gesehen, aber einfach die falschen Schlüsse daraus gezogen hätte. Sie sind sich zufällig begegnet, Harro und Cvetkovic kennen sich nicht. Es war schlicht ein Gespräch über den milden Oktober und die schwankenden Spritpreise.«

Sie hatten das Auto erreicht.

»Sollen wir zurück ins Präsidium oder lieber noch ein Glas Wein im Holztor trinken?« Tobias zog sein Handy heraus, das kurz aufsummte, und kontrollierte rasch die Nachrichten. »Harro hat vor ein paar Minuten geschrieben. Feierabend.« Er blickte auf. »Das ist die erste Woche bei der Kripo, die ich erlebe, wo nach Mordfällen trotzdem pünktlich Schluss gemacht wird. Allein das muss einen nachdenklich stimmen.«

Ravi suchte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Tobias redete weiter. »Wollen wir Harro mit dazunehmen?«

»Ich glaube, ich möchte heute einfach nur nach Hause. Auf den Chef habe ich keine Lust. Am Ende hat er schon Standgas, bis wir uns dort treffen, und mit zwei Promille kann er sowieso kein sinnvolles Gespräch mehr führen.« Er klang resigniert.

Tobias stimmte kaum merklich nickend zu.