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Die Straßenlaterne gab ihm Halt. Harro lehnte sich an das schwarze Metall und drückte gleich darauf auch seinen dröhnenden Schädel dagegen. Er hoffte auf Kühlung, stattdessen übertrug das Eisen ein monotones elektrisches Surren über seine Stirn in den dumpf pochenden Innenraum dahinter. Schmerz empfand er nicht. Es herrschten Leere und eine Unwucht, die ihm alles erschwerte. Das Laufen, das Nachdenken und die Verdauung von dem, was er seinem Körper in den letzten Stunden kontinuierlich zugeführt hatte. Er atmete schwer und verharrte weiter in dieser Ruheposition, die ihm zumindest die schwierige Aufgabe, den wankenden Körper in der Senkrechten zu halten, abnahm.

Jetzt begann die Phase der Melancholie. Er kannte das zur Genüge. Sie kündigte sich immer auf die gleiche Weise an. Er bereute zunächst die Einzelentscheidungen des Abends. Wog ab, was er stattdessen alles hätte erleben und tun können, wenn er nicht an diesem oder jenem Ort gestrandet wäre. Hätte, hätte, Fahrradkette. Von wem war das noch gleich? Stromberg, in seiner Serie. Aber so richtig bekannt geworden war es erst vier Jahre später, als Peer Steinbrücks Wahlkampf gegen Angela Merkel schon reichlich ins Stottern geraten war und sein Slogan »Das Wir entscheidet« floppte. Der Spruch wurde bereits seit Jahren von einer südwestdeutschen Leiharbeitsfirma als Unternehmensmotto in der Werbung genutzt. Ein Umstand, den die TAZ damals mit der Überschrift »Zu blöd zum Googeln« betitelte und der Steinbrück im »Morgenmagazin« zu besagtem Ausspruch verleitete, der ihn medial überlebte.

Wenn der Alkohol seine Wahrnehmung sedierte, dann drangen Erinnerungen aus tieferen Schichten so klar nach oben, dass er sich manchmal selbst erstaunt die Augen reiben musste. Er hielt die Laterne weiter fest, damit sie nicht umfiel. Er kicherte wie ein krankes Legehuhn. Der Boden wankte unter seinen Füßen. Das Metall in seinen Armen bog und dehnte sich, woraufhin er es noch inniger umschlang, um die Katastrophe zu verhindern. In seinen Ohren fauchte ein Sturm. Das tiefe Horn eines Schiffs drang von fern bis in seinen Gehörgang. Zu viele Eindrücke, die alle gleichzeitig auf ihn niederprasselten. Würgend erbrach er sich auf das Pflaster der Malakoff-Terrasse. Ein platschendes Geräusch, das ihn daran erinnerte, wo er eigentlich hinwollte. Rheinkilometer 497. Er brauchte frische Luft, Bewegung und das monotone Geräusch der Wellen, die gegen die Uferbefestigung klatschten. Der Weg dorthin erschien ihm jetzt wie eine Tagesreise. Zu viele Feinde hatten sich gegen ihn verschworen. Nur auf allen vieren bestand eine realistische Aussicht, das Ziel unversehrt zu erreichen. Die Fallhöhe reduzierte er damit auf ein erträgliches Höchstmaß.

Noch einmal spuckte er aus. Viel kam aber nicht mehr. Sein Körper wollte den Rest vorerst bei sich behalten. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren und die Stationen der Nacht in die richtige Reihenfolge zu bringen. Wobei das eigentlich keine Rolle spielte. Er hatte in den Puff gewollt. Zu Cvetkovics Mädchen, die einen nicht über den Tisch zogen. Der Alte hatte sie doch wie ein Marktschreier angepriesen. Für all das, was er für ihn tun musste, konnte er ihn ruhig ein wenig entschädigen. Bei allen hatte er mehr als einen gut! Jetzt war es an der Zeit, auch mal etwas zurückzufordern. Er hatte brav und reichlich geliefert, gleich nachdem er sich auf den Weg gemacht hatte. Cvetkovic wusste jetzt, dass er sich schleunigst um seinen Sohn kümmern musste. Seinen Zufallsfund vom Tatort am Rheinufer behielt er vorerst. Das war seine Lebensversicherung. Die löste er erst auf, wenn Gras über die ganze Sache gewachsen war und sich der Alte an die Absprachen hielt.

Danach hatte er auf ein paar Runden in den Keller gewollt, so lange, wie das Geld dafür ausreichte und seine Glückssträhne andauerte. Die Italiener würden sich wundern, wenn er sie mit seinen Einsätzen vor sich hertrieb. Den Abschluss hätte er in der »Nachtschicht« gemacht, wo es morgens um fünf noch etwas Warmes zu essen gab und die Klamotten hinterher so wunderbar nach Rauch stanken, dass man darüber reichlich sentimental werden konnte.

Planung war alles. Warum er es dann aber nur bis zum Holztor geschafft und sich dort in hohem Tempo ohne eines der legendären Schnitzel kontinuierlich durch die Weinkarte getrunken hatte, konnte er schlicht nicht mehr sagen. Vielleicht war es die zarte Hoffnung gewesen, dort nicht allein zu bleiben. Während der ersten beiden Stunden hatte er jedes Mal, wenn die Glocke am Eingang erklang, den Kopf zur Tür gedreht. Warum hätten sie auch kommen sollen? Das wäre ein sonderbarer Zufall gewesen, den er mit jedem weiteren Glas, das er in wenigen Zügen leerte, für abwegiger erachtete. Dumpf hatte er auf die Tischplatte gestiert und sich rechtzeitig verzogen, als ihm sein Körper die nahende Kapitulation ankündigte.

Es war noch gar nicht so spät oder früh. Er unternahm keinen Versuch, den Eindruck mit einem Blick auf seine Armbanduhr oder das Handy zu verifizieren. Auf dem nicht ganz direkten Weg hierher war ihm eine wippende Straßenbahn begegnet. Es erschien ihm jetzt wie ein Traum, weichgezeichnet und schon fast vergessen, aber es war tatsächlich genau so passiert. Sie war im Schritttempo gefahren, weil sie drohte sonst aus den Gleisen zu springen. Durch die geschlossenen Türen war unaufhaltsam italienische Schlagermusik gedrungen. Sonderfahrt. Italienische Nacht. Adriano Celentano schien den Wohnort und den Beruf gewechselt zu haben: Er verdiente sich seinen Lambrusco jetzt als Fahrtkartenkontrolleur bei den Mainzer Verkehrsbetrieben. »Azzurro, il pomeriggio è troppo azzurro e lungo per me.« – »Blau, der Nachmittag ist viel zu blau und lang für mich.« Treffender konnte sein Zustand in diesem Moment auch nicht beschrieben werden.

An der Haltestelle öffneten sich die Türen der Bahn und entließen einen Lindwurm singender Menschen. Eine Polonaise, die ihn mitzog. Er wurde gepackt und an die nackten, aufgeheizten Schultern einer Frau gepresst, mit der er kaum Schritt halten konnte. Immer wieder rutschten seine Hände von ihrer schwitzenden Haut ab. Er stolperte hinter ihr her, an der Straßenbahn entlang und durch den Hintereingang wieder hinein. Dort drinnen dröhnte die Musik. Adriano Celentano gab alles. Der Kerl war viel zu jung, keine vierzig. Wer nicht eingereiht mitzog, der stand tanzend auf den Sitzen und reckte Weinflaschen in die Höhe. Grauer Burgunder, den sie ihm unter die Nase hielten, sodass er im Vorbeimarsch hastig einen Schluck nehmen konnte. Gierig wie ein Verdurstender unter sengender Sonne. Hoffentlich hatte er sich dabei nicht die Schneidezähne ramponiert. Er strich mit der Zunge darüber. Die Front fühlte sich intakt an. Mehrere Runden war das so weitergegangen, ohne dass es ihm gelungen wäre, auszuscheren. Urplötzlich schlossen sich die Türen, die Bahn fuhr an, und es herrschte wieder Stille. Er stand allein an der Haltestelle, und der Spuk war vorbei. Ein kurzes, sehr lautes Intermezzo, das so abrupt endete, wie es angefangen hatte. In seinen Ohren hallte der singende Italiener nach.

Vorsichtig hob Harro den schweren Kopf und prüfte, ob der Seegang an Land nachgelassen hatte. Der Mond stand rund und satt leuchtend am Himmel. Das schleifende Kreischen einer Eisenbahn auf der Südbrücke drang in seine Ohren. Er atmete tief ein und ließ seinen Halt los. Erstaunlich sicher fühlte er sich jetzt auf den Beinen, nachdem er einen Teil der Alkoholreserven seines Magens losgeworden war. Die Strecke bis Rheinkilometer 497 erweckte jetzt nicht mehr den Anschein einer Tagesreise mit ungewissem Ausgang.

Konzentriert setzte er sich in Bewegung. Ganz gerade kam er noch nicht voran. Er brauchte aber zu jeder Seite nicht mehr als einen guten Meter Schwankungserweiterung. Abstriche musste man in einem solchen Zustand eben machen. Immerhin hielt er sich tapfer auf den Füßen und krabbelte nicht auf allen vieren durch die Nacht. Seine Schritte klangen hohl auf den Bohlen der Fußgängerbrücke, unter der die Motorboote aus dem Winterhafen hindurchmussten. Der Biergarten auf der Mole war noch gut besucht. Fast jeder Tisch war besetzt. Es konnte daher noch nicht Mitternacht sein. Es wunderte ihn, dass aufgrund der dichten Bebauung mit Luxuswohnungen der Biergarten überhaupt noch eine Chance hatte, nach der Tagesschau um acht geöffnet zu bleiben.

Die ersten Bänke unter den Bäumen am Rhein belegten wie immer die knutschenden Pärchen, die sich bestimmt nicht ausgelassen freuten, wenn er sich neben sie setzte, um zwei Stunden in leichtem Dämmerschlaf so weit auszunüchtern, dass der Zustand der selbst und sehr frei definierten Fahrtüchtigkeit wieder erreicht wäre. An Liesel Mettens Arche Noah musste er also noch vorbei. Das von Kindern im Sommer reichlich bespielte Kunstwerk aus Bronze war früher oft ein Anlaufziel für ihn gewesen, wenn Heike über das Wochenende oder in den Ferien zu Besuch gekommen war. Bis sie mit acht die Nase über die kleinen Hosenscheißer rümpfte, die das Boot umringten, hatte sie immer darauf bestanden, hier zu klettern. Seither wusste er, dass sich keine hundert Meter weiter der Rheinkilometer 497 befand. Das war der Zielpunkt ihrer Spaziergänge gewesen. Bis dahin hatte sie immer durchhalten müssen. Da es keine Markierung gab, konnte er das Ende stets etwas dehnen, bis sie ihm auf die Schliche gekommen war und sich geweigert hatte, auch nur einen Schritt weiterzulaufen.

Harro spürte, dass ihn die Erinnerungen, die so weit zurücklagen, traurig machten. Er hatte sich zu wenig um sie gekümmert und kaum Zeit mit ihr verbracht. Es brauchte ihn daher wenig zu wundern, dass Heike ihm selten Beachtung schenkte. Schlurfend zog er weiter. Die Gedanken, die ihn während der nächsten Stunden begleiten würden, erschienen düster und schmeckten jetzt schon bitter. Das Bündel Geld in seiner Hosentasche war kaum dünner geworden, obwohl er der Bedienung ein fettes Trinkgeld aufgenötigt hatte, das sie erst nach mehrmaligem Ablehnen annahm. Er zerrte es heraus und hielt die Scheine in das Mondlicht. Es sah noch genauso aus wie vorhin, als er es bei seinem kurzen Aufenthalt daheim hastig gefaltet hatte. Mühsam verstaute er es wieder.

Die Bank konnte er schon erkennen. Hier war es menschenleer. Ab und an kam ein Fahrrad vorbei. Der nächste Zug, der sich vom Südbahnhof und dem notdürftig ausgegrabenen und seither verrottenden römischen Theater kommend kreischend auf die eiserne Brücke schob, durchschnitt die Stille. Die Aussicht, den Rhein überqueren zu müssen, schien ihm Schmerzen zu bereiten. Er schrie spitz und ausdauernd. Dann ging alles so schnell. Harro spürte den Schlag an seiner Schulter, der ihn herumschleuderte und einknicken ließ. Im Fallen schon umschlang ihn eine wohlige Wärme, die ihn behutsam aufnahm.