Er wollte nicht nach Hause, obwohl der Morgen schon graute. Etwas hielt Tobias davon ab. Das kam nur sehr selten vor. Sonst drängte ihn die Angst um sie zur Eile. Oft trieb ihn schlichte Panik auf dem Heimweg dazu, die Geschwindigkeitsvorschriften zu missachten, weil er fürchtete, sie könnte sich wieder im Keller verschanzt haben und diesmal die Klinge tiefer in die Haut fahren lassen. Heute klang Sara verändert. Tobias hatte alles richtig gemacht. Auch wenn er das Haus auf dem Lerchenberg noch nicht von innen gesehen hatte, wusste er jetzt schon, dass es zu ihnen passen würde. Aus diesem Grund schaltete er den Blinker im letzten Moment wieder aus und blieb doch auf der Landstraße. Knapp zwanzig Minuten verschaffte ihm der Umweg. Er brauchte diese Zeit allein. Sie tat gut, diese kleine Gnadenfrist. Sie ermöglichte es ihm, in die weich gezeichnete Phantasiewelt nach dem Umzug einzutauchen, bevor er die traurige Tristesse der Neubausiedlung wieder ertragen musste, die er mittlerweile genauso sehr hasste, wie seine Frau es tat. Heute war er ihrer Zukunft einen großen Schritt nähergekommen.
Ravi lag richtig. Ihm war das vorher nie so deutlich aufgefallen. Erst durch seinen Hinweis konnte er die eigenen Beobachtungen in das Puzzle einfügen. Davor hatte er sie arglos beiseitegeschoben, weil er für sie keinen passenden Ansatzpunkt entdecken konnte. Jetzt ergab alles einen Sinn, und ihm öffneten sich die Augen. Das Team war aus den Fugen geraten. Es bröckelte nicht mehr nur. Dieser Zustand war längst vergangen. Große Brocken stürzten herab, und man musste sich in Acht nehmen, nicht getroffen und unter ihnen begraben zu werden. Er wollte nicht erschlagen werden. Sein Weg war richtig, auch wenn er noch vor Kurzem geschwankt hatte. Er war dabei, alles wieder zurechtzurücken, Sara und sich aus der Sackgasse herauszuführen, in die sie sich so naiv hineinmanövriert hatten. Davon brachte ihn niemand mehr ab. Er würde die zweite Chance für sie beide und die Kinder nutzen. Das war seine verdammte Pflicht. Nur er besaß die Kraft dazu.
Ganz langsam steuerte er den Wagen durch den riesigen Kreisel, auf dem eine übergroße stilisierte Schneeflocke aus glänzendem Edelstahl von Bodenstrahlern beleuchtet wurde. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er annehmen, dass ein ortsansässiger Hersteller von Tiefkühlkost sich hier ein Denkmal gesetzt und dem Stahlbauer aus der Nachbarschaft zu einem unverhofften Geldsegen verholfen hatte. Doch das Denkmal erinnerte an die Entdeckung des Eisweins im Winter 1829/30, die sich die Gemeinde Dromersheim zuschrieb. Sara liebte das ölig-süße Getränk, das aufgrund des Klimawandels immer seltener auf den Angebotslisten der Weingüter zu finden war. Sein Großvater hatte noch fast in jedem Jahr an einem Weinberg die Trauben hängen gelassen, um den tiefen Nachtfrost im November oder Dezember abzuwarten und dann die ganze Familie zum Einsatz in den frühen Morgenstunden zusammenzutrommeln. Minus acht Grad brauchte es, damit die Beeren so weit gefroren, dass nur noch ein kleiner, süßer flüssiger Zuckerkern im Innern übrig blieb, der später als konzentriertes Aroma von der Kelter in die Saftwanne tropfte.
Tobias ließ die Erinnerung an blau gefrorene Nasen und taube Füße hinter sich. Das lag alles schon so lange zurück. Er spürte die keimende Zuversicht, die sich schnell in ihm ausbreitete. Er hätte viel früher die Initiative ergreifen sollen. Er selbst war es gewesen, der jeder Veränderung zu lange im Weg gestanden hatte. Jetzt fühlte er sich endlich stark genug und entschlossen, die Sache anzugehen.