Vier Tage zuvor, 15:24 Uhr
»Gut, dass Sie anrufen!« Sie atmete schnell. »Herr Spangenberg?« Sie klang so abgehetzt, als hätte sie gerade die Ziellinie des Mainz Marathons an der Rheingoldhalle erreicht und würde mit einem Mikrofon vor der Nase von einem Reporter über die Erlebnisse auf der Strecke befragt werden. Ihm gefielen der Gedanke und der Vergleich, obwohl dieser bei einer alten Frau, die kaum aus dem Haus kam, weil sie ihren bettlägerigen Mann versorgte, recht abwegig erschien.
»Ja, Frau Oberländer. Wir überlegen gerade, ob wir den Einsatz abblasen. Ich denke, die Bande ist mit der Ausbeute in Weisenau zufrieden und für heute über alle Berge.«
»Nein, nein.« Sie verhaspelte sich, sodass ihre nächsten Worte für ihn nicht zu verstehen waren, auch wenn er längst wusste, was sie ihm sagen wollte.
»Beruhigen Sie sich. Ich habe Sie nicht verstehen können.«
»Er steht gegenüber«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Am Feldrand unter den Bäumen. Ich habe das Licht ausgemacht, damit er mich nicht sehen kann.«
»Das ist wahrscheinlich nur ein Spaziergänger. Beschreiben Sie ihn mir.«
»Sein Gesicht kann ich nicht sehen. Er trägt eine schwarze Schirmmütze. Schlank, enge Jacke, dunkelbraunes Leder. Ich will nicht näher ans Fenster, sonst wird er mich vielleicht bemerken.«
»Das reicht schon aus. Es ist der Kundschafter. So hat es in Weisenau auch angefangen.« Er schlug aufs Lenkrad. »Verdammt, was macht der bei Ihnen vor der Tür?« Er schnaufte ärgerlich. Er überlegte, ob er noch ein paar Ermahnungen nachschieben sollte. Es machte allerdings nicht den Eindruck, als ob sie jetzt noch groß nachdachte. Sie war so weit. »Ich melde mich gleich wieder.«
Noch bevor sie antworten konnte, legte er auf. Er fuhr sich zufrieden durch die Haare und atmete tief ein.
15:28 Uhr
Die Minuten waren quälend langsam vergangen. Er hatte sich trotzdem gezwungen, die Zeit nicht abzukürzen. Weirich saß wieder neben ihm. Er hatte die Klamotten schon gewechselt. Noch bevor der Rufton erklang, war sie bereits in der Leitung.
»Frau Oberländer, wir müssen improvisieren. Ein Teil der Mannschaft ist auf Order von oben bereits auf dem Rückweg, weil wir davon ausgingen, dass heute nichts mehr zu erwarten ist. Nach dem, was Sie mir gerade geschildert haben, sieht das nun ganz anders aus.« Er hielt inne und räusperte sich. »Steht er immer noch bei Ihnen vor dem Haus?«
»Nein, er ist gerade gegangen. Ich denke, in Richtung Kiliansgraben oder die Straße hoch. Da geht es zum Sportplatz.«
»Dann müssen wir uns beeilen. Das ist kein gutes Zeichen.« Er grinste. »Sind Sie bereit?«
»Ja.« Sie klang nervös und kurzatmig. Vielleicht sollte er es nicht übertreiben, so knapp vor dem Ziel.
»Bitte setzen Sie sich und hören Sie mir gut zu.« Er wartete so lange, wie er glaubte, ihre Schritte zu vernehmen. Sie seufzte, als sie sich auf einen Stuhl oder die Couch sinken ließ. Er konnte weitermachen. Sie brauchte Anweisungen, die sie gleich wie ferngesteuert ausführen würde. »Packen Sie alles Bargeld, Schmuck und Uhren in einen Beutel. Überlegen Sie genau, damit Sie nichts vergessen, was Sie hinterher bereuen würden.« Er überlegte, ob er das noch einmal langsamer wiederholen sollte, entschied sich aber dagegen. »Ich melde mich gleich wieder.«
15:39 Uhr
»Sind Sie so weit?«
»Ja, alles ist im Beutel.« Sie wirkte ruhiger als zuvor. Aktiv zu werden und seine Anweisungen zu befolgen, half. Sie schien zu spüren, dass der entscheidende Moment nahte und der Druck dann nachlassen würde. Jetzt wollte sie nur noch, dass alles so schnell wie möglich vorbeiging. Er würde ihr dabei behilflich sein. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Er lächelte zufrieden und reckte sich in seiner grünen Uniformjacke in die Höhe. Es war das erste Mal, dass er so etwas durchzog, und er empfand Stolz. Sie standen kurz vor dem Ziel.
»Denken Sie noch mal in aller Ruhe nach, ob Sie auch nichts vergessen haben, was Ihnen wichtig ist: Bargeld, Schmuck, Uhren.«
»Es ist alles verstaut.« Sie stockte. Er konnte es förmlich hören, das Misstrauen, das in ihr aufstieg. Zerbrach nun alles, was er so mühevoll aufgebaut hatte? »Sie wollen das aber doch nicht mitnehmen? Ich möchte die Sachen nicht aus der Hand geben.«
Er schluckte und schloss die Augen. Behutsam sprach er weiter. »So etwas werden Sie bei der Polizei nie erleben. Wir bleiben bei Ihnen und schauen zusammen, wo wir alles verstecken können, damit es nicht zur Beute der Einbrecher wird.« Er schlug die Augen wieder auf. Vielleicht würde es doch nicht so problemlos vonstattengehen, wie er eben noch geglaubt hatte. Er ballte die Hände zu Fäusten und zwang sich, ruhig zu bleiben. Er würde sich holen, was ihm zustand, egal wie.
»Wir sollten uns jetzt beeilen, damit wir noch rechtzeitig vor denen bei Ihnen sind. Ich rufe wieder an, sobald wir vor Ort sind.«
15:44 Uhr
»Frau Oberländer, wir kommen jetzt zu Ihnen hoch.«