Seine Zeit lief ab. Er gab sich keiner Illusion hin. Das Atmen fiel ihm schwerer. Der Durst brannte in ihm. Seine Zunge klebte immer wieder in seinem Mundraum fest. Er zwang sich dazu, einen gleichmäßigen Rhythmus einzuhalten, zumindest in den Phasen, in denen er wach in der Finsternis lag. Auch dann irrten seine Gedanken wirr umher. Es tauchten Bilder auf, die er nicht zuordnen konnte. Abgehackte Erinnerungen, die grell aufblitzten, um dann sofort wieder zu verschwinden, noch bevor er Genaues erkennen konnte. Sie drückten ihn zurück in einen Dämmerzustand, von dem er immer mehr annahm, dass es schon der nahe Tod sein musste. Ein Schritt fehlte noch, den er mittlerweile sogar herbeisehnte. Gerne würde er ihn tun, wenn er Erlösung bedeutete.
Harro wusste mittlerweile, wo er sich befand. Sie hatten ihn in ein ausrangiertes riesiges Weinfass aus Kunststoff geworfen. Das war sein Gefängnis, so lange, bis es auch sein Grab werden würde. Vorhin hatte er sich, von dem quälenden Durst und der Übelkeit in seinem krampfenden Magen getrieben, um die eigene Achse gedreht und weiter um sich getastet, bis er auf Widerstand stieß. Er war mühsam an den Wänden entlanggekrochen. Ein Tier in seinem viel zu engen Gehege, das nicht mehr wusste, wie sich Freiheit anfühlte. Dabei hatte er das ovale Einstiegsloch gefunden. Es war vorschriftsmäßig verschlossen mit eingelegtem Dichtring, als ob sie schon bald mit dem Befüllen beginnen würden.
Ihm graute nicht mehr bei diesem Gedanken, würde es das Ende doch nur beschleunigen. Er hatte auf dieser Welt, die sich schon seit Jahren gegen ihn wandte, nichts mehr verloren.
Trotzdem stimmte er immer wieder ein Klagen an, das inzwischen kaum mehr als ein schwaches Wimmern war, um sich zu bestätigen, dass es noch nicht vorbei war. Alles klang dumpf hier drinnen. Auch dafür hatte er mittlerweile eine Erklärung gefunden. Das riesige Fass, in dem er lag und Qualen litt, stand schief. Diese Erkenntnis hatte ihn zur Lösung des Rätsels geführt. Er brauchte daher seine letzten Kräfte nicht in sinnlose Schreie nach Rettung zu investieren. Hier unten hörte ihn sowieso niemand. Das Fass steckte in der Erde. Sie hatten es eingegraben, und es würde ihn nicht wundern, wenn selbst die Kuppel des Tanks unter einer dicken Erdschicht steckte, die verhinderte, dass man ihn jemals wiederfand.
Das Flimmern vor seinen Augen kehrte zurück. Das gleißende Licht blendete ihn. Er drückte seine Lider noch fester zu. Die Erlösung war nah, sie rückte näher mit jeder Minute. Irgendetwas hielt ihn aber noch immer hier drinnen fest und verhinderte den Aufbruch zum letzten Gang. Er versuchte wieder erfolglos, die Bilder zu steuern, die in sein Bewusstsein drangen. Sie gehorchten ihm nicht. Seine Gedanken hetzten voran und waren ihm immer einen Schritt voraus. Er konnte einfach nicht Schritt halten. War Cvetkovic für all das verantwortlich? Er hatte seinem Sohn die Flucht ermöglicht. Der in die frischen Fugen getretene Manschettenknopf bewies Rajkos Anwesenheit am Tatort. Jetzt brachten sie den Jungen fort und suchten jemanden, der die Schuld auf sich nahm. Das Spiel kannte er, sie hatten es schon einmal gespielt, und es würde auch jetzt wieder funktionieren. Aber dazu brauchten sie ihn doch. Warum lag er dann hier in diesem Fass auf dem krümeligen Weinstein?
Starinski wollte vielleicht sichergehen, dass mit ihm auch alles Wissen verschwand. Fürchtete er ernsthaft, Harro könnte unter dem Druck einer internen Ermittlung auspacken? Das lag zwar nahe, aber dann würde er jetzt schon nicht mehr leben und triebe im Rhein in Richtung Holland. Es bräuchte doch gar nicht viel, um sein Ableben wie den Selbstmord eines verzweifelten Kripobeamten aussehen zu lassen, der am Tatort Geld mitgehen ließ. Zwischen Spielsucht und Alkohol erschien der Gang in den Fluss so manchem als letzter Ausweg.
Hielten sie ihn also hier in diesem Tank fest, weil der richtige Moment noch nicht gekommen war? Die Suche nach ihm band Kräfte, war das ihre Absicht? Das war eine absurde Vorstellung. Lebendig und im Dienst war er ungleich wertvoller für sie. Noch konnte man ihm nichts nachweisen. Aber wer blieb dann übrig?
Die Dunkelheit und die sie begleitende dumpfe Stille hüllten ihn ein. Seinen sich verlangsamenden Herzschlag konnte er spüren. Er atmete mühsam. Christian Schweickharts Worte klangen auf einmal in seinen Ohren, ohne dass er an ihn gedacht hatte. Die Spuren am Mantel des toten Rotbart. Eine Bundeswehrdecke, die nicht zu finden gewesen war. Die Kontamination durch Fasern, die sie wahrscheinlich selbst vom einen zum anderen Tatort transportiert hatten. Nachlässigkeiten in den Ermittlungen, die einfach nicht passieren durften, weil sie von den wichtigen Informationen ablenkten und unnötig viel Zeit kosteten.
Der Kriminaltechniker redete weiter auf ihn ein. Der schien es sich dort bequem eingerichtet zu haben. »Und gib deinem Kollegen einen kleinen Hinweis, dass auch er seinen Schutzanzug beim nächsten Mal richtig zuziehen soll. Dann kann ich mir nämlich die sinnlose Arbeit sparen, die Fusseln von seinem Pullunder mit den Fasermustern abzugleichen, die sich über die Jahre bei mir angesammelt haben.« So oder so ähnlich hatte er sich ausgedrückt. Oder trieb sein unterversorgtes Hirn schon Spielchen mit ihm? Phantasierte Erinnerungen konnten das sein, die nur wenig oder gar nichts mehr mit der Realität zu tun hatten. Er wusste nicht, ob es so war. Die Stimmen in seinem Kopf redeten weiter. Ihr Klang veränderte sich. Es waren mehrere, die sich dort oben tummelten, die einzelne Satzfetzen wiederholten und so wild durcheinanderquatschten, dass es ihm nicht mehr gelingen wollte, sie auseinanderzuhalten. »Das Fass, es hätte etwas Schlimmes passieren können, wenn er hineingestürzt wäre.« Er zitterte bei dem Gedanken. Kälte breitete sich in ihm aus. Sie kroch seinen Nacken entlang und von dort weiter bis in seine Fußspitzen.
Ihm fehlte die Kraft, das alles aufzulösen. Seine Erinnerung an die Ereignisse der letzten Tage war wie eine dicke, zähflüssige Suppe, die einzelnen Bestandteile kaum noch voneinander unterscheidbar. Das Nachdenken darüber schien ihn gleich einem Strudel mit in die Tiefe zu ziehen. Das war gut so. Er empfand Glück. Eine wärmende Euphorie flutete seinen Körper. Er brauchte nicht zu wissen, welcher Fehler ihn nun das Leben kostete. Es war besser, sich in diesen letzten Momenten mit den schönen Erinnerungen zu beschäftigen. Er dachte an seine Tochter und wünschte sich, dass sie ihn niemals finden würden. Heike sollte nicht erfahren, welches Ende ihn ereilt hatte. Die Wahrheit würde sich mit ihm auflösen. Besser ein verschollener Vater als einer, der sich hatte kaufen lassen, weil er nicht mit dem Leben, der Arbeit und dem Alleinsein zurechtgekommen war.
Tränen rannen ihm über die Wangen. Er zitterte immer mehr. Sein ganzer Körper bebte jetzt. Ungelenke Zuckungen schüttelten ihn. Er rang weiter krampfhaft nach Luft, obwohl er doch längst bereit war, endlich im Tod Erlösung zu finden.