Snoop-ID: LITTLEMY
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Die Nachricht von Evas Tod ist wie ein Kieselstein, der in einen Teich fällt. Nein, kein Kieselstein – ein Felsbrocken. Zuerst der grauenhafte, markerschütternde Aufschlag und dann die Kreise, die er zieht, die von der ursprünglichen Katastrophe ausstrahlen, immer weiter, größer werden und einander schließlich auslöschen.
Als Danny und ich bei Kerzenschein die Suppe servieren, beobachte ich unwillkürlich die Gäste. Jeder versucht auf seine Weise, mit Evas Verschwinden umzugehen.
Nicht jeder will es wahrhaben. Inigo beispielsweise weigert sich, den GPS-Daten Glauben zu schenken. »Sie könnte trotzdem unten in Saint-Antoine sein«, sagt er immer wieder. »Das GPS irrt sich ständig, und außerdem, selbst wenn ihr Handy irgendwo ist – was beweist das schon?«
Andere sind angesichts der Tragödie verstummt. Tiger bringt nichts herunter. Sie sitzt nur da, den Kopf über ihren unberührten Teller mit Suppe gebeugt, als wären die anderen gar nicht da.
Einige sind wie betäubt. Ani scheint kaum zu merken, was um sie herum geschieht. Sie zerpflückt ihr Brot und murmelt vor sich hin. Liz ist blass und erschüttert und macht den Mund kaum auf.
Elliot wiederum wirkt überhaupt nicht betroffen. Er löffelt voller Genuss die Suppe und trägt ein Pokergesicht zur Schau, als hätte sich nicht gerade eine Tragödie ereignet. Seine Gleichgültigkeit ist geradezu verstörend, doch als es aus Ani herausplatzt und sie »Elliot, macht es dir denn gar nichts aus?« ruft, scheint er aufrichtig überrascht.
»Natürlich macht es mir etwas aus. Aber essen muss ich trotzdem.«
Mein Blick wandert immer wieder zu Topher. Topher, der seine Partnerin verloren und eine Firma gewonnen hat.
Denn er leitet Snoop jetzt allein, das ist ziemlich offensichtlich. Trotz seiner wilden Schmerzbekundung vorhin in der Küche scheint ihn die Tatsache, dass er jetzt Mehrheitseigner einer milliardenschweren Firma ist, nicht sonderlich zu betrüben. Er hat es offenbar schon weggesteckt, scheint förmlich Kraft daraus zu schöpfen, als wäre seine Persönlichkeit größer geworden, um die Lücke zu füllen, die Eva hinterlassen hat. Als ich die Suppenteller abräume und Wein nachschenke, nimmt er sein Glas, kippt es hinunter und lacht unbändig. Er hat eine Menge getrunken, während er die schweigsame Tiger mit Geschichten über Heldentaten aus der Anfangszeit der Firma unterhalten hat. Ich erkenne jetzt deutlich, weshalb sie diesen Mann zum Geschäftsführer gemacht haben. Er hat das Selbstvertrauen, das man braucht, um eine verrückte und absurde Idee auf einem bereits überfüllten Markt durchzusetzen und daraus ein milliardenschweres Unternehmen zu formen. Ich habe nie verstanden, wie jemand solche Chuzpe haben und so etwas noch vor seinem dreißigsten Geburtstag schaffen kann – bis jetzt.
Rik hingegen scheint kleiner geworden zu sein. Er wirkt vollkommen verwirrt, wie ein Mann, der alles verloren hat, was in gewisser Weise wohl auch stimmt. Wenn Topher allein das Sagen hat, dürfte sich die milliardenschwere Übernahme in Luft auflösen, und ihm bleibt dann nur … was? Anteile an einer Firma, die er gegen den Willen des Gründers verkaufen wollte? Arbeiten unter einem Chef, dem er nicht vertraut? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seinen Job noch lange behalten wird, wenn sie wieder in England sind, Freundschaft hin oder her. Topher ist kein Mann, der einen Putsch verzeiht, wie ihn Rik und Eva geplant hatten.
Allerdings beeindruckt es mich, dass Carl und Miranda, die locker hätten die Seite wechseln können, als sich der Wind drehte, fest zu Rik stehen. Ob sie glauben, dass Snoop ohne Eva zum Untergang verurteilt ist? Jedenfalls stehen sie nicht auf Tophers Seite, so viel ist klar. Sie flankieren Rik wie Schachfiguren, die ihren König bewachen.
Aber das Spiel scheint vorbei zu sein. Sie haben ihre Königin verloren. Am Tisch klafft wieder eine Lücke. Diesmal fehlt nicht Topher, sondern Eva, und der leere Stuhl ist eine beständige, schmerzhafte Mahnung an das, was geschehen ist.
Im Chalet ist es trotz Stromausfall und Temperatursturz relativ warm. Dank der Wärmeisolierung und Dreifachverglasung hat sich die Wärme gehalten. In den Schlafzimmern dürfte es erträglich sein, und die beiden Holzöfen heizen Wohn- und Esszimmer.
Trotzdem teile ich zur Schlafenszeit zusätzliche Decken und Federbetten aus, die wir immer für Notfälle bereithalten. Ich klemme mir eine Taschenlampe unter den Arm und hinke von Tür zu Tür, die Arme voller Bettzeug. Außerdem habe ich Thermoskannen mit heißem Kakao dabei.
Ich will gerade an die vorletzte Tür klopfen, als Danny, der mir mit einem Stapel Decken folgt, plötzlich warnend sagt: »Erin –«
Ich halte inne. Es ist die Tür zu Evas Zimmer.
Das ist wie ein Schlag in die Magengrube, und sofort sind mir die Geschehnisse des Tages wieder präsent. Eine Lawine. Ein Todesfall. Wird sich Perce-Neige jemals von dieser doppelten Katastrophe erholen? Es ist kaum vorstellbar, dass jemand in seiner Sonntagszeitung darüber liest und umgehend seinen Urlaub hier bucht. Andererseits ist Saint-Antoine nicht der erste Skiort in den Alpen, der eine Lawinentragödie erlebt hat. Das kommt fast jedes Jahr vor. Tatsächlich gab es ganz in der Nähe zu Saisonbeginn einen ähnlichen Lawinenabgang.
»Schätzchen?«, fragt Danny, und ich merke, dass ich reglos stehen geblieben bin und mich in meinen Gedanken verloren habe.
»Tut mir leid. Ich – ich habe nicht –«
»Alles klar bei dir?« Es klingt unbehaglich. »Du solltest dich mal hinsetzen. Es gefällt mir nicht, dass du mit diesem Knöchel herumläufst.«
»Mir geht’s gut«, sage ich schroff. In Wahrheit tut mein Knöchel weh. Sehr sogar. Danny hat vermutlich recht, ich sollte ihn nicht belasten. Andererseits kann ich es nicht ertragen, allein im stillen, dunklen Personalbereich zu sitzen, den Schmerz zu spüren und über das nachzudenken, was geschehen ist und was noch geschehen könnte. Wenn ich arbeite, geht es mir besser; die endlosen Aufgaben halten meine Gedanken in Schach. Außerdem gibt es noch einen praktischen Aspekt: Der professionelle Umgang mit den Gästen ist nicht gerade Dannys Stärke. Sie haben ihm seine Taktlosigkeit von vorhin, nach dem Lawinenabgang, verziehen – das hoffe ich jedenfalls –, aber nun sind wir wieder in unsere alten Rollen geschlüpft. Wir müssen gute Gastgeber sein, höflich bleiben, selbst unter diesen Umständen. Vielleicht sogar gerade unter diesen Umständen. Es kommt mir vor, als würde um uns herum alles zerfallen – und unsere klar definierten Funktionen sind das Einzige, an das wir uns klammern können. Danny und ich müssen unbedingt das Heft in der Hand behalten. Wenn wir die Kontrolle verlieren, wenn wir Topher das Ruder überlassen – dann möchte ich nicht wissen, wie sich sich das alles hier entwickelt.
Jetzt fehlt nur noch ein Zimmer. Tophers. Ich umklammere die Decken fester, bevor ich klopfe.
Er ist betrunken, das sieht man auf den ersten Blick. Sein Bademantel klafft trotz der Kälte bis zur Taille auf, er hat eine Flasche in der Hand. Und er ist nicht allein. In der Dunkelheit kann ich nicht erkennen, wer bei ihm ist, befürchte aber, es könnte die kleine Ani sein. Sie hat nämlich nicht aufgemacht, als ich bei ihr geklopft habe. Ich würde ihr gern sagen, dass die Lösung für ihren Kummer nicht in Tophers Bett liegt, aber das geht nicht. Es geht mich nichts an. Sie ist so alt wie ich, ein Gast, keine Freundin, und es steht mir nicht zu, ihr zu sagen, was sie tun soll, selbst wenn ich fürchte, dass sie einen riesengroßen Fehler macht.
»Ellen«, lallt er. »Aber hallo. Was treibt Sie denn um diese späte Stunde in mein Zimmer? Es ist ein bisschen spät, um die Leute ins Bett zu bringen.«
»Zusätzliche Decken«, sage ich mit meinem freundlichsten Lächeln. »Nur für den Fall, dass die Temperatur über Nacht fällt. Ich kann Sie doch nicht alle einfach so erfrieren lassen.«
»Ich verrate Ihnen mal ein Geheimnis …« Topher beugt sich vertraulich vor, sein offen stehender Bademantel gibt den Blick frei auf seine behaarte Brust. »Nichts hilft besser beim Überleben als eine nackte Frau.«
Das hat mir noch gefehlt.
Mein Lächeln erstirbt.
»Das ist leider nicht im Service inbegriffen.«
»Ich hab mich schon selbst darum gekümmert.« Trotzdem greift er nach den Decken, die ich ihm hinhalte, er schwankt dabei ein bisschen.
Ich will gerade kehrtmachen, als er aus heiterem Himmel fragt: »Kennen wir uns nicht?«
»Ich glaube nicht«, sage ich mit fester Stimme.
»Doch. Ich habe Sie schon mal gesehen. Haben Sie in London gekellnert?«
»Leider nicht.«
»Doch, doch«, beharrt er. »Ich kenne Sie. Das ist mir gleich bei der Ankunft aufgefallen.«
»Kumpel, sie sagt, sie kennt Sie nicht. Und Sie sind besoffen.« Danny tritt schützend vor mich. Topher macht auch einen Schritt nach vorn, und sein Gesicht wird schneller zur Fratze, als ich Oh, Scheiße denken kann.
Danny ballt die Hände zu Fäusten, die Sehnen an seinem Hals treten wie Schnüre hervor, und einen Augenblick lang stehen sich die beiden Männer dicht gegenüber. Mein Herz hämmert. Danny darf Topher nicht schlagen. Dann wird er gefeuert.
Doch Topher weiß genau, wann er sich auf dünnem Eis bewegt. Er weicht zurück und bringt ein Lachen zustande, das gerade noch als freundlich durchgehen kann.
»Mein Fehler. Kumpel.«
Dann schließt er die Tür. Danny und ich stehen da, schauen einander an und fragen uns, wie lange es noch dauert, bis das Eis nicht mehr trägt.