Snoop-ID: ANON101
Hört: offline
Snoopscriber: 1
Als ich wach werde, ist es kalt. Das fällt mir als Erstes auf. Was für ein Kontrast zu gestern, als ich mit trockenem Mund aufgewacht bin und mich gefühlt habe, als hätte ich die Nacht in einem zu warmen Zimmer verbracht.
Ich greife nach dem Glas auf meinem Nachttisch. Das Wasser ist so kalt, als käme es aus dem Kühlschrank.
Unter der zusätzlichen Daunendecke, die Erin mir gebracht hat, fühle ich mich noch relativ wohl, freue mich allerdings nicht gerade aufs Anziehen. Irgendwann greife ich nach dem Frotteebademantel, der über dem Fußende hängt, und hole ihn zu mir unter die Decke, um ihn anzuwärmen. Das erinnert mich an früher, als ich in meinem Kinderzimmer die Schuluniform unter der Bettdecke angezogen habe. Das Zimmer befand sich auf einem schlecht isolierten Dachboden und hatte im Winter fast Außentemperatur. Wenn ich morgens aufwachte und ausatmete, hing eine weiße Wolke in der Luft. Abends kondensierte die Feuchtigkeit an der Dachschräge und gefror in der Nacht. Morgens zogen sich dann kleine Eisrinnsale über die Wände. Ganz so schlimm ist es hier nicht. Schließlich befinde ich mich nicht in einem viktorianischen Reihenhaus in Crawley, sondern in einem luxuriösen Chalet. Dennoch ist es unangenehm kühl.
Ich schaue auf mein Handy. 7:19 Uhr. Nur noch 15 Prozent Akku, aber bevor ich mir deswegen Gedanken machen kann, werde ich abgelenkt.
Ich habe eine Mitteilung.
Irgendwann in der Nacht muss sich mein Handy mit dem Internet verbunden haben. Jetzt ist der Empfang wieder weg, alle Balken sind grau, aber die Mitteilung beweist, dass es wenigstens für einen kurzen Moment eine Verbindung gegeben hat.
Und es gibt noch eine Überraschung: Die Mitteilung kommt von Snoop. Ich erhalte nie Mitteilungen von Snoop. Die bekommt man nur, wenn man einen neuen Follower hat, und das passiert bei mir nicht.
Bis jetzt jedenfalls. Irgendwann in der Nacht hat mich jemand gesnoopt. Ich bin mir nicht sicher, wie das sein kann, da ich keine Musik gehört habe. Ich hatte keine Ahnung, dass so was möglich ist. Vielleicht wurde mein Stream irgendwie neu gestartet, als sich das Handy kurz mit dem WLAN verbunden hat?
Sehr eigenartig. Ich habe keine Ahnung, wer es sein könnte – man sieht nur in Echtzeit, wer einen snoopt; sobald sich die Leute ausloggen, ist die Verbindung unterbrochen. Ich verdränge mein Unbehagen. Vermutlich war es ein Bot oder ein Serverfehler, oder jemand hat versehentlich die falsche ID eingegeben.
Unten ist es still, aber deutlich wärmer, und neben dem Holzofen in der Lobby entdecke ich einen Berg Croissants, vermutlich von gestern, und zwei große Thermoskannen.
Ich nehme mir ein Croissant und wärme mir im Wohnzimmer die Hände am Kaminfeuer, während ich esse – allein, denke ich. Doch als ich mich umdrehe, bemerke ich Elliot, der sich in einem Sessel über seinen Laptop beugt. Das überrascht mich aus zwei Gründen: Zum einen ist der Laptop eingeschaltet. Zum anderen verlässt Elliot sein Zimmer normalerweise nur zum Essen. Als ich bei Snoop gearbeitet habe, tat er nicht einmal das. Er überredete den jeweiligen Praktikanten, ihm etwas zu besorgen, und zwar jeden Mittag das Gleiche, schwarzen Kaffee und drei Käse-Speck-Croissants von Pret, und aß im Büro. Es muss für ihn sehr lästig gewesen sein, als sie die Croissants irgendwann nur noch zum Frühstück anboten. Was er wohl gemacht hat? Etwas anderes gegessen? Das kann ich mir kaum vorstellen. Vielleicht hat er den Praktikanten schon um zehn Uhr losgeschickt.
Normalerweise rede ich nicht mit Elliot. Es ist sehr anstrengend, sich mit ihm zu unterhalten, wobei das womöglich nicht an mir liegt. Eva hat mal erzählt, dass er Frauen in zwei Kategorien einteilt: die, mit denen er schlafen möchte, und die, die ihn nicht interessieren. Ich falle eindeutig in die zweite Rubrik. Jetzt aber nehme ich all meinen Mut zusammen.
»Hi, Elliot.«
»Hallo, Liz.« Er klingt völlig ausdruckslos, aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Stimme nichts darüber aussagt, ob er sich freut oder nicht. So begrüßt er jeden, selbst Topher, der vermutlich sein Lieblingsmensch ist.
»Wie kommt es, dass dein Laptop funktioniert?«
»Ich habe immer eine Powerbank dabei.« Er hält sie hoch, ein ziegelsteingroßes Ding, an das er seinen Laptop angeschlossen hat. Typisch Elliot, er überlässt nichts dem Zufall.
»Aber du hast kein Internet, oder?«
»Nein. Aber das brauche ich auch nicht zum Programmieren.«
»Woran arbeitest du?«
»Am GeoSnoop-Update.« Sein sonst blasses Gesicht rötet sich vor Eifer, und er setzt zu einer langen Erklärung an, der ich nicht ganz folgen kann. Es geht um Geotracking, Anzeigenwerbung, Datenspeicherung und die Herausforderung, das Ganze mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen und dem Interface von Snoop in Einklang zu bringen. Ich nicke und gebe mich interessierter, als ich bin. Ich finde eigentlich nur spannend, dass er mit dieser Technik Eva gefunden hat. Irgendwie ist das geradezu ergreifend – dass ihre eigene App dazu beitragen könnte, ihre Leiche zu bergen.
»Ich verstehe«, sage ich, als Elliot fertig ist. »Das klingt sehr … aufregend.« Eigentlich muss ich mich gar nicht darum bemühen, das glaubhaft klingen zu lassen. Schließlich zeigt Elliot auch selten seine Gefühle.
»Falls es dir nichts ausmacht … ich muss jetzt weiterarbeiten«, sagt er in seiner befremdlichen Direktheit.
»Entschuldigung. Ich dachte, du wärst runtergekommen, um Gesellschaft zu haben.«
»Ich bin runtergekommen, weil es in meinem Zimmer zu kalt zum Tippen ist.« Er setzt die Kopfhörer auf, und seine Finger zucken weiter über die Tastatur.
Erstaunlicherweise bin ich nicht beleidigt. Seine Direktheit kann an Grobheit grenzen, doch in diesem Moment finde ich sie beruhigend. Bei Elliot gibt es keine geheimen Codes, die man entschlüsseln muss, keine versteckte Bedeutung, keine Erwartungshaltung. Wenn er einem etwas mitteilen will, sagt er es. Wenn man etwas tun soll, ebenfalls. Und das hat gerade jetzt etwas Tröstliches, es ist ein angenehmer Kontrast zur Welt von Topher und Eva, die voller Blendwerk ist und in der man nie genau weiß, woran man ist. In meiner ersten Zeit bei Snoop erinnerten sie mich an meine Eltern – wenn Besucher kamen, waren sie reizend und unbekümmert, doch sobald die Gäste gegangen waren, gab es Geschrei und Drohungen. Wenn Elliot einen fragt: »Hast du ein Problem damit?«, will er eine ehrliche Antwort hören.
Wenn mein Vater das fragte, durfte man nur eine Antwort geben: Nein, Daddy. Und musste sich dann so schnell wie möglich verziehen, bevor es knallte.
Ich knabbere am Croissant und starre in die Flammen, als hinter mir ein Geräusch ertönt. Ich zucke zusammen und lasse das Croissant fallen, hebe es auf und drehe mich um. Rik und Miranda kommen herein. Er sieht aus, als hätte er kein Auge zugemacht.
»Wie geht es dir?«, fragt er unvermittelt und setzt sich neben mich. Ich bin verblüfft. Deutlicher könnte der Unterschied zwischen Rik und Elliot nicht sein. Würde Elliot mich das fragen, wüsste ich genau, was dahintersteckt – nur würde er es gar nicht tun, weil er weiß, dass sich diese Frage unmöglich beantworten lässt. Doch wenn Rik sie stellt, wird sie zu einer Botschaft, die ich entschlüsseln muss. Was meint er damit? Will er wissen, was ich angesichts von Evas Tod empfinde? Wie soll ich das in eine einfache Antwort verpacken? Oder ist es nur eine dieser bedeutungslosen Fragen, auf die man immer mit Danke, gut antworten muss?
»Mir geht es … okay«, sage ich zurückhaltend. »Den Umständen entsprechend.«
»Echt?« Rik sieht mich überrascht an. »Dann bist du ein besserer Mensch als ich.« Er senkt die Stimme, obwohl Elliot seine gewaltigen Kopfhörer trägt und vermutlich gar nichts hören kann. »Wenn einem so viel Geld vor die Nase gehalten und dann wieder weggeschnappt wird …«
Da begreife ich, dass er über Topher reden will und wie sich die Machtverschiebung auf die Übernahme auswirken könnte.
»Ich … darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« Und das ist die Wahrheit … gewissermaßen. Natürlich habe ich überlegt, was es bedeutet, wenn Topher die Firma allein leitet. Doch das Geld war mir nie wirklich real erschienen. Ich hatte nicht den Eindruck, ich hätte es verdient. Es fühlt sich nicht an, als hätte man mir etwas weggenommen – eher, als wäre ich aus einem sonderbaren Traum erwacht. Andererseits fühlt sich das hier – die Lawine, Evas Tod – auch nicht real an. Eher so, als würde ein Traum in einen Albtraum übergehen.
»Hattest du denn keine Pläne gemacht? Mit dem Geld gerechnet?«
»Eigentlich nicht«, sage ich bedächtig. »Ehrlich gesagt, habe ich das Ganze noch gar nicht richtig begriffen.«
»Himmel«, sagte Rik genervt. Ich habe offenbar etwas Falsches gesagt. Ich gerate in Panik. Genau wie bei meinem Vater. Immer diese Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Und dass er es dann an meiner Mutter auslässt. »Könntest du mal mit der Mutter-Teresa-Nummer aufhören, Liz? Wir haben alles verloren. Kapierst du das nicht?«
»Wir haben doch bestimmt nicht alles verloren, oder? Wir haben doch noch die Anteile.«
»Die Anteile!« Rik gibt ein kurzes, bellendes Lachen von sich. »Liz, hast du gestern nicht zugehört, als ich die Gewinn-und-Verlust-Rechnung präsentiert habe? Wenn Topher so weitermacht, können wir von Glück sagen, wenn es Snoop am Jahresende noch gibt. Und dass Eva jetzt nicht mehr da ist, um die Investoren zu beruhigen, macht es noch schlimmer.«
»Und was ist mit dem Update?« Ich versuche, nach einem Strohhalm zu greifen. »Elliots GeoSnoop – dabei geht es doch darum, Snoop profitabler zu machen, oder?«
»Das ist schon in die Gewinnerwartung eingepreist, die Information haben wir schon seit dem letzten Jahr, als wir die Benutzerrechte geändert haben. Wie Elliot GeoSnoop in die App integriert, dürfte sich auf das Nutzungserlebnis auswirken, aber die Zufriedenheit der User war noch nie ein Problem für uns. Es ging immer nur darum, wie wir Geld damit machen können. Aus Sicht der Investoren bedeutet der Roll-out des GeoSnoop-Updates kaum einen Unterschied – der Mehrwert ist bereits vorhanden. Übrigens« – er wirft einen raschen Blick zu Elliot, der weiter vor sich hin tippt – »habe ich Bedenken bei diesem Update. Ich glaube, die Leute ahnen gar nicht, wie viele Informationen Snoop über sie sammelt. Wenn das Update das ganze Ausmaß des Trackings sichtbar macht, könnte es zum Bumerang werden.«
»Eines der Alleinstellungsmerkmale von Snoop war immer, das wir so unkompliziert sind«, sagt Miranda, die mit einer Tasse Kaffee aus der Lobby kommt. Sie trinkt einen Schluck und verzieht das Gesicht. Ich weiß nicht, ob es am Geschmack des Kaffees oder an ihrer Meinung zum Update liegt. »Den Leuten gefällt es, dass sie weitgehend anonym bleiben können, darum bleiben auch die Promis dabei. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Leute die Änderung bei der Berechtigung bemerkt und begriffen haben, was das bedeutet, da sich für die User erst mal nichts geändert hat. Aber das Update wird es ans Licht bringen. Den Leuten wird klar werden, wie genau Snoop ihr Bewegungsprofil kennt. Ich habe Topher und Elliot damals schon gesagt, dass es ein großes PR-Risiko ist, aber sie waren so auf die coole Technik fixiert –«
Sie hält inne und schaut zu Elliot. Er sitzt immer noch mit gesenktem Kopf da. »Ach, egal. Das ist vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt für diese Diskussion. Es ist noch … zu früh.« Sie setzt sich neben mich und Rik und trinkt noch einen Schluck Kaffee. Dann stellt sie die Tasse weg. »Wie geht es dir denn?«, fragt sie mich. Am liebsten würde ich die Augen verdrehen. Eigentlich wollen sie doch nur wissen, was ich denke.
Elliot rettet mich, indem er unerwartet aufsteht, den Laptop zuklappt und die Kopfhörer abnimmt. Er wirkt angespannt. Das ist höchst ungewöhnlich.
»Alles okay, Elliot?«, fragt Miranda munter. Sie macht sich wahrscheinlich Gedanken, ob Elliot etwas von unserem Gespräch mitbekommen hat. »Wenn du magst, Erin hat Kaffee in die Lobby gestellt.«
Er übergeht ihren Hinweis. »Wisst ihr, wo Toph steckt? Ich muss mit ihm reden.«
»Er scheint noch in seinem Zimmer zu sein«, erwidert Rik stirnrunzelnd. Ich vermute, er geht unser Gespräch im Kopf durch und fragt sich, ob er etwas Verfängliches gesagt hat, das Elliot womöglich gehört hat und brühwarm an Topher weitergeben will. »Warte mal«, sagt er, als Elliot entschlossen zur Treppe marschiert. »Ich würde da jetzt nicht reinplatzen. Er hat wohl … Gesellschaft.«
Aber es ist zu spät. Entweder hat Elliot ihn nicht gehört oder es ist ihm egal. Jedenfalls reagiert er nicht. Wir hören nur noch seine schweren Schritte auf der Wendeltreppe.