Snoop-ID: LITTLEMY
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»Oh, hi, Erin.«
Ich stelle gerade eine weitere Thermoskanne mit Kaffee hin, als Ani lächelnd ins Esszimmer schlendert. Sie sieht aus, als hätte sie nicht viel geschlafen. Ich hoffe, du weißt, was du tust, würde ich am liebsten sagen, lasse es aber bleiben.
»Guten Morgen, Ani. Möchten Sie Kaffee? Die Espressomaschine funktioniert leider nicht. Aber Danny hat einen Wasserkessel auf den Ofen gestellt, also können wir jedenfalls French-Press-Kaffee machen.«
»Oh, ja, bitte«, sagt Ani. »Könnten Sie Topher auch eine Tasse hochbringen?«
»Sicher.«
»Oh, ich meine, außer natürlich … was macht Ihr Knöchel?«, fügt sie hinzu und scheint verwirrt, weil sie so schnell wieder in den Gast-und-Angestellte-Modus verfallen ist. »Ich kann ihn auch raufbringen, falls Sie nicht –«
Sie verstummt. Die Lawine hat uns in eine sonderbare Lage versetzt. Sind wir alle Überlebende oder immer noch Gäste und Personal? Ich weiß es selbst nicht so genau, glaube aber, dass es für alle einfacher ist, bei der bisherigen Rollenverteilung zu bleiben. Jemand muss die Verantwortung haben, und ehrlich gesagt ist es mir lieber, wenn ich das bin und nicht Topher.
»Es geht schon viel besser«, lüge ich. »Die Treppe ist kein Problem.«
»Sie sollten das nicht tun«, verkündet Ani. »Ich bringe ihn rauf.«
»Ganz sicher?«
»Absolut. Und ich nehme auch eine Tasse für Elliot mit. Er dürfte sich da oben einen abfrieren.«
Sie gießt drei Tassen ein und trägt sie vorsichtig die Wendeltreppe hinauf.
Um zehn sind alle wach. Danny und ich beschließen, die Gäste in die Lobby zu bestellen. Es gibt zwar keine echten Neuigkeiten, und das Wetter ist immer noch zu unberechenbar, als dass ein Hubschrauber auf unserem schmalen Plateau landen könnte, aber der Lokalsender berichtet über Bergungsaktionen und dass EDF daran arbeite, die abgelegenen Weiler wieder mit Strom zu versorgen. Offenbar sitzen wir nicht als Einzige ohne Strom fest und sind im Grunde ganz gut dran. Dennoch erscheint es mir ratsam, allen zu versichern, dass es vorwärtsgeht, und zu betonen, dass wir genügend Lebensmittel und Getränke haben, um über die Runden zu kommen, bis die Standseilbahn wieder fährt oder ein Hubschrauber uns ausfliegen kann.
Außerdem müssen wir über den Elefanten im Raum sprechen: Evas Tod. Obwohl sich das Gerücht in der Gruppe verbreitet hat und alle von Elliots Schlussfolgerungen wissen dürften, haben weder Danny noch ich den Sachverhalt angesprochen. Ich habe es vor mir hergeschoben, weil ich der Realität nicht ins Auge sehen mochte. Nun aber ist es höchste Zeit, alle auf den gleichen Kenntnisstand zu bringen. Die Leute müssen wissen, dass wir uns bemühen, Verbindung mit den Behörden aufzunehmen und durchzugeben, was passiert ist. Gleichzeitig möchte ich ihnen die Illusion nehmen, dass Eva jeden Augenblick in unser Blickfeld humpeln könnte.
Danny schlägt den Gong in der Lobby, dessen ohrenbetäubendes Crescendo zwischen den Dachbalken vibriert. Als sich alle versammelt haben, klopfe ich mit einem Löffel an eine Kaffeetasse und warte, bis es still wird.
»Hi, ähm, hi zusammen. Es tut mir leid, dass ich Sie aus Ihren Zimmern geholt habe, aber Danny und ich möchten Sie alle auf denselben Informationsstand bringen. Er war heute Morgen bei den beiden nächstgelegenen Chalets, die derzeit offenbar unbewohnt sind. Eins wurde schwer beschädigt, aber es scheint niemand drinnen gewesen zu sein, als die Lawine abging. Das andere steht in sicherer Entfernung, aber auch dort hat er niemanden angetroffen. Wir hatten gehofft, jemanden mit einem Funkgerät oder Satellitentelefon zu finden, aber bisher sieht es nicht danach aus. Es gibt noch ein weiteres Chalet auf dieser Höhe, aber das liegt gut fünf Kilometer entfernt. Danny muss abwarten, bis es aufklart, bevor er dort nachsehen kann.«
»Konnten Sie die Bergwacht verständigen?«, fragt Rik.
»Ja und nein. Wie Sie wissen, hatte Inigo gestern Kontakt und hat sie über unsere Lage informiert, aber seitdem konnten wir keine Verbindung herstellen. Da wir kein Satellitentelefon haben, wird das auch noch dauern, wir brauchen erst wieder Strom. Durch den Stromausfall gibt es jetzt gar keinen Handyempfang mehr. Aber sie wissen, dass wir hier sind, das ist das Wichtigste. Von Inigo wissen wir, dass sie uns auf dem Schirm haben. Wir müssen uns nur gedulden, bis sie die kritischeren Fälle abgearbeitet haben.«
»Wissen die über Eva Bescheid?« Die Frage kommt von Tiger, deren Stimme noch heiserer als sonst klingt, als würde sie eine heftige Gemütsbewegung unterdrücken. Es wird ganz still, als ich antworte.
»Ja, Inigo hat ihnen gesagt, dass sie vermisst wird. Aber sie wissen noch nicht das Neueste. Es –«
Ich halte inne und schlucke. Ich wusste, dass es keine leichte Sache sein würde, aber es fällt mir geradezu lächerlich schwer. In Liz’ Augen schwimmen Tränen, ich sehe Tophers besorgten Gesichtsausdruck und Ani, die sich die Hand vor die Augen hält, um aufsteigende Tränen zu verbergen. Ich hole tief Luft, stütze mich auf eine Sessellehne, um meinen Knöchel zu entlasten, gebe mir genügend Zeit, um die richtigen Worte zu finden. Selbst wenn wir Elliots Information an die Bergwacht weitergeben, wird es nichts nützen. Eva ist tot und wahrscheinlich unter Tausenden Tonnen Schnee begraben. Es gibt keine Hoffnung, sie lebend zu retten, nicht einmal die Gewissheit, dass man ihre Leiche bergen wird. An manchen Stellen schmilzt der Schnee nie, auch nicht im Sommer. Sollte Eva in einer Schlucht begraben sein, dann war’s das. Kein Geld und keine Suchmannschaft der Welt könnten sie dort herausholen.
»Sie ist –« Ich unterbreche mich, schlucke erneut, doch bevor ich weitersprechen kann, meldet sich Carl zu Wort.
»Woher wollen wir wissen, dass sie tatsächlich dort ist?«, fragt er angriffslustig. »Der Handyempfang ist überall beschissen. Woher will Elliot wissen, dass die Koordinaten stimmen?«
Ich schaue mich suchend um. Wo ist Elliot?
»Ich gehe davon aus, dass das GPS-Signal nicht vom Handyempfang abhängt«, stottere ich und suche verzweifelt nach Elliots Gesicht, wünsche mir, dass er sich einmischt und die technischen Feinheiten des Geotrackings erklärt. Das ist nun wirklich nicht mein Fachgebiet. »Offenbar muss man die Koordinaten übertragen, es geht nicht ohne irgendeinen Informationsaustausch, aber das geschieht unabhängig von Mobilfunkmasten. Sie gehen über … Satellit, oder? Ist das richtig, Elliot?« Ich kann ihn nicht entdecken. »Wo ist Elliot?«
Jetzt schauen sich auch die anderen suchend um.
»Ich habe ihn zuletzt in seinem Zimmer gesehen«, sagt Ani stirnrunzelnd. »Er hat gearbeitet. Vermutlich hat er wegen der Kopfhörer den Gong nicht gehört. Ich gehe ihn holen.«
Sie dreht sich um und läuft leichtfüßig die Wendeltreppe hinauf. Wir hören ihre Schritte im Flur, dann das Klopfen an der Tür.
Keine Reaktion. Sie klopft noch einmal, diesmal lauter, und ruft: »Elliot?«
Stille. Ich stelle mir vor, wie sie vorsichtig die Tür öffnet, sich vorwagt und Elliot auf die Schulter tippt … Dann zerreißt ein lauter Schrei das Bild vor meinem inneren Auge. Er klingt nicht nach Verwunderung. Sondern nach purer Panik.
Mit meinem verletzten Knöchel bleibe ich hinter den anderen zurück. Topher, Rik, Danny und Miranda laufen vor mir, Liz und Carl überholen mich auf halber Höhe der Treppe. Als ich oben ankomme, höre ich Ani schluchzen: »O Gott, er ist tot, er ist tot!« Dann blafft Topher brüsk: »Werd bloß nicht hysterisch.«
Als ich schließlich am Flurende angekommen bin und mich in Elliots Zimmer dränge, sieht eigentlich alles völlig normal aus. Bis auf zwei Dinge.
Elliot hängt vornübergesunken auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster, das Gesicht in einer Kaffeelache. Die Tasse liegt umgekippt daneben.
Auf dem Fußboden neben dem Schreibtisch steht sein Laptop auf einem Handtuch. Jemand hat ihn zertrümmert.