Snoop-ID: LITTLEMY
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Es ist nach drei. Nachdem die anderen aufgebrochen sind, haben Liz und ich ein kärgliches Mittagessen aus lauwarmer Dosensuppe zu uns genommen. Das Brot war trocken, aber in die Suppe getunkt, ließ es sich gut kauen. Seitdem spielen wir Karten. Im Chalet ist es geradezu unheimlich still. Mir war nicht bewusst, wie erstickend Stille sein kann, was daran liegen mag, dass es in Perce-Neige bisher selten wirklich still war – gewöhnlich hört man Gäste umhergehen, in den Schulferien spielende Kinder, klappernde Skier, Danny, der in der Küche zugange ist. Selbst an den Tagen des Gästewechsels läuft das Radio, summt der Staubsauger. Als Topher und die anderen noch hier waren, hörte ständig jemand Musik, oder es wurde geredet.
Jetzt gibt es keine Musik. Unsere Handyakkus sind längst leer. Fernseher und Radio haben keinen Strom. Man hört nur das Knacken der Holzscheite im Ofen. Die Dreifachverglasung dämpft die Geräusche von draußen.
Alle paar Minuten werfe ich einen Blick zum Fenster. Toll ist das Wetter nicht gerade. Sinnlos, das beschönigen zu wollen. Gut, es ist auch nicht so schlimm, wie es hätte sein können. Immerhin hat sich der Wind gelegt. Aber es schneit noch immer. Die Wolken wälzen sich vom Berg herunter und hüllen das Chalet in einen dichten, grauen Eisnebel, in dem man nur ein, zwei Meter weit sehen kann. Ich bin ungemein erleichtert, dass Danny mit Miranda und Carl unterwegs ist und den Weg genau kennt. Dennoch frage ich mich allmählich, ob sie es vor Einbruch der Dunkelheit bis Haute Montagne und zurück schaffen können. Vielleicht müssen Liz und ich die Nacht hier allein verbringen. Bei dem Gedanken ist mir nicht ganz wohl.
Liz knackt mit den Fingergelenken, es klingt wie ein Echo meines eigenen Unbehagens, wie Schüsse in der Stille, und es geht mir durch Mark und Bein.
»Wie bist du eigentlich zu Snoop gekommen?« Ich spreche ein bisschen zu laut, weil ich das knackende Geräusch übertönen will. Liz rutscht im Sessel herum. Schwer zu sagen, ob es an ihrem schmerzenden Knie liegt oder ob ihr die Frage nicht behagt.
»Ich habe mich einfach um einen Job beworben. Sie waren damals noch ein Start-up – nur Topher, Eva, Elliot und Rik. Ich war ihre erste … Sekretärin. Oder persönliche Assistentin. Damals gab es diese komischen Stellenbezeichnungen noch nicht.«
Sie verstummt wieder, als hätte dieser ungewöhnlich lange Wortbeitrag sie erschöpft. Ich will ihr gerade noch eine Frage stellen, als sie zu meiner Überraschung weiterspricht.
»Ich vermisse es. Ich vermisse sie. Es hat Spaß gemacht … eine Zeit lang jedenfalls.«
»Warum hast du denn dann gekündigt?«, frage ich, worauf sie wieder dichtmacht. Ihre Miene wird ausdruckslos und undurchdringlich.
»Es gab keinen bestimmten Grund.« Sie schaut in ihre Karten. »Ich wollte einfach was anderes machen.«
Ich ziehe eine Karte und lege einen König ab. Liz nimmt ihn stirnrunzelnd auf. Ich muss in ein Fettnäpfchen getreten sein. Mir fällt Dannys Bemerkung über die quasi-inzestuösen Verhältnisse bei Snoop ein, dass Eva mit Inigo geschlafen hat und Topher mit Ani. Haben die schon mal was von MeToo gehört? Ob etwas zwischen Liz und Topher vorgefallen ist? Etwas, vor dem sie seither davonläuft? Andererseits scheint Liz sich von allen am besten mit Topher zu verstehen. Trotz seiner Fehler scheint er nicht der Typ Mann, der eine Mitarbeiterin sexuell bedrängt. Was immer zwischen ihm und Ani gelaufen ist, hat auf mich einvernehmlich gewirkt.
Aber Ani ist jetzt tot …
Diese Worte sind wie ein Flüstern in meinem Ohr, sie erinnern mich auf unangenehme Weise daran, dass Liz und ich nicht ganz allein im Haus sind – oben liegen zwei Leichen. Und irgendwo da draußen, in Schnee und Eis, liegt eine dritte Leiche und vielleicht noch eine vierte, denn wer weiß, was aus Inigo geworden ist, nachdem er in den Schnee hinausgestolpert ist. Es ist, als würde uns der Tod umzingeln. Als könnten Liz und ich die Nächsten sein.
Aber nein. Ich schüttele mich. Das sind morbide Gedanken – geradezu lächerlich.
»Du bist dran«, sagt Liz. Ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass sie gelegt hat. Ich nehme eine Karte vom Stapel und lege sie gedankenlos ab. »Rommé«, sagt Liz und spielt eine Folge Pik und einen Satz Könige aus. Ich zwinge mich zu einem Lächeln.
»Gut gemacht.«
Liz nimmt die Karten auf und teilt aus. Ich schaue auf mein Blatt. Es ist gut – ich habe sofort einen Satz. Aber ich kann mich nicht aufs Spiel konzentrieren.
»Evas Tod …«, sage ich verhalten, und Liz blickt auf. Sie trägt immer noch ihren zu großen Overall, was ich ihr nicht verdenken kann. Trotz Holzofen ist es im Chalet inzwischen ziemlich kalt, ich kann meinen Atem sehen, wenn ich spreche. »Das … muss ein ziemlicher Schock gewesen sein. Jetzt wird die Übernahme wahrscheinlich platzen, oder? Wie hat es sich angefühlt, so viel Geld in Aussicht zu haben und es dann wieder zu verlieren?«
Ich erwarte eigentlich, dass Liz sagen wird, es ginge mich nichts an, was ja auch stimmt. Aber wir sind längst über die Rollen von Gastgeberin und Gast hinaus, das ist uns beiden klar.
»Es fühlte sich … seltsam an …«, erwidert Liz bedächtig. Der Feuerschein spiegelt sich in ihrer Brille und macht es noch schwerer als sonst, etwas an ihrer Miene abzulesen. Sie runzelt die Stirn.
»Warst du sauer auf Topher, weil er gegen den Verkauf war? Ich wäre es jedenfalls gewesen.«
Doch Liz macht eine abwehrende Geste. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich das Geld ohnehin nie gewollt. Es fühlte sich gar nicht an, als gehörte es mir. So eine riesige Summe, und wofür?«
»Dafür, dass du zur richtigen Zeit am richtigen Ort warst, nehme ich an«, sage ich lachend, doch Liz erwidert mein Lächeln nicht. Sie schüttelt den Kopf, wobei mir nicht klar ist, was sie verneint. Ich kann es ihr nicht verdenken. Da, wo wir jetzt gelandet sind, ist ganz sicher nicht der richtige Ort.
Wieder wird es still. Ich sehe auf die Uhr. Zehn vor vier. Mein Gott, wie langsam die Zeit vergeht! Plötzlich kann ich nicht mehr hier herumsitzen und stehe auf, belaste vorsichtig den verletzten Fuß und hinke zum hohen Fenster, das aufs Tal hinausgeht.
Es ist fast dunkel draußen, hier drinnen aber auch, sodass ich die Augen nicht abschirmen muss, als ich in den Schnee hinausblicke und mich frage, wo Danny und die anderen stecken mögen. Ob sie es schon nach Haute Montagne geschafft haben? Und was ist mit Topher und seiner Gruppe? Ich wünsche mir sehnlichst ein Handy mit einem einzigen Balken Empfang. Oder ein Funkgerät. Irgendetwas, das mich mit der Außenwelt kommunizieren lässt. Noch nie habe ich mir etwas so sehr gewünscht.
»Vier Asse«, sagt Liz hinter mir, und ich drehe mich seufzend um.