Snoop-ID: ANON101
Hört: offline
Snoopscriber: 1
Es ist 15:58 Uhr. Wir sind bei der vielleicht zwanzigsten Runde Rommé. Ich habe nicht mitgezählt. Die Gedanken huschen wie Ratten durch meinen Kopf. Wie es wohl weitergeht? Werden sie überhaupt zurückkommen? Was wird geschehen, wenn die Polizei hier eintrifft?
Erin schaut zur Uhr auf dem Kaminsims. Ihr geht es nicht anders. »Noch eine Runde«, sagt sie, »dann kümmere ich mich ums Abendessen. Eigentlich müssten sie inzwischen dort sein.«
Falls sie es geschafft haben. Die Worte hängen unausgesprochen in der Luft, als Erin die Karten austeilt.
Ich stelle die Frage eigentlich nur, um etwas zu sagen, nicht, weil ich es wirklich wissen möchte. »Topher hat gesagt, du bist mal von einer Lawine verschüttet worden. Wie war das?«
Erin blickt auf. Damit hat sie nicht gerechnet, und einen Moment lang sieht sie schutzlos und sehr verletzlich aus. Fast, als hätte ich sie geschlagen. Ich bereue flüchtig, dass ich sie gefragt habe. Dann bekommt sie sich wieder in die Gewalt und teilt die letzten Karten aus, bevor sie antwortet.
»Das stimmt. Vor drei Jahren. Es war –« Sie hält inne und schaut hinunter auf den Kartenstapel in ihrer Hand. »Es war das Schlimmste, was ich je erlebt habe.«
»Das tut mir leid.« Dann fällt mir etwas ein. »Dieses Wochenende eingeschlossen?«
Erin lacht freudlos auf. Dann nickt sie. »Kaum zu glauben, aber wahr. Sogar dieses Wochenende eingeschlossen. Ich kann nicht beschreiben, wie furchtbar es war. Der Lärm, der Schock, das Gefühl der Machtlosigkeit –« Sie verstummt, als würde sie mühsam nach Worten suchen. »Ich dachte … ich dachte, es würde das hier schlimmer machen. Ein solches Grauen noch einmal zu erleben. Aber seltsamerweise hatte ich … irgendwie damit gerechnet. Als würde der Berg mich verfolgen, weil ich ihm einmal entkommen bin.«
Sie starrt in die Dunkelheit. Da sie mir gegenübersitzt, müsste es sich anfühlen, als starrte sie mich an, doch stattdessen scheint sie durch mich hindurchzusehen, als wäre ich gar nicht da. Das fühlt sich sonderbar an, als wäre ich schon verschwunden.
»Hast du daher – ist die –« Ich kann es nicht aussprechen. Ich berühre mein Gesicht mit den Fingern, und sie nickt.
»Ja. Ich habe mich beim Sturz an etwas geschnitten, vermutlich an meinem eigenen Ski.«
»Und darum hast du dein Studium abgebrochen?«
Sie nickt sehr, sehr langsam. »Ja. So richtig erklären kann ich es immer noch nicht. Ich habe nur – es war, als wäre ich ein anderer Mensch geworden, falls du verstehst, was ich meine.«
Ich nicke. Ich weiß genau, was sie meint. Mir kommt der Gedanke, dass sie vielleicht zum allerersten Mal darüber spricht.
»Ich musste ihn ausgraben.« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, und ich muss die Ohren spitzen, um sie zu verstehen. »Ich hatte keinen GPS-Sender dabei. Ich musste meinen Freund ausgraben, um seinen zu aktivieren, in dem Wissen, dass er schon tot war.«
Sie schaut vor sich hin, teilt den Stapel, legt die erste Karte, lauter mechanische Bewegungen.
Plötzlich will ich nicht mehr darüber sprechen. Ich wünschte, ich hätte nicht danach gefragt. Schließlich habe ich selber Geheimnisse, Dinge, über die ich nicht sprechen will. Wenn Erin mich nun nach meiner Vergangenheit fragt? Wenn sie noch einmal auf Snoop zu sprechen kommt? Wissen will, warum ich gekündigt habe? Wenn sie nach Freunden fragt, die ich nicht habe, nach Schulkameradinnen, die mich vierzehn Jahre lang gemobbt haben, nach meiner Familie, von der ich mich losgesagt habe?
Ich höre wieder die nuschelnde Stimme meines Vaters, das Schluchzen meiner Mutter … Ich schmecke Blut. Habe wieder auf der Nagelhaut gekaut. Ich schiebe die Hände in die Taschen meines Overalls.
Doch Erin stellt keine Fragen mehr. Sie scheint mit ihren Gedanken woanders zu sein. Als sie wieder spricht, klingt sie sonderbar. Als würde sie ein Geständnis ablegen.
»Du musst wissen, es war meine Schuld.« Sie nimmt das Blatt auf, ihre Hände zittern leicht. »Ich hatte vorgeschlagen, abseits der Piste zu fahren. Ich wollte es unbedingt. Ich habe sie getötet.« Sie schluckt. »So etwas verändert einen Menschen.«
Sie schaut hoch, als würde sie erwarten, dass ich sie verstehe. Mich überkommt der eigenartige Drang, ihre Hand zu nehmen und ihr zu sagen, dass ich weiß, wie sie sich fühlt.
Aber das wäre verrückt. Also lasse ich es. Stattdessen schaue ich auf mein Blatt. Ich ziehe eine Herz Drei und lege einen Buben ab.
»Du bist dran.«