Snoop-ID: LITTLEMY

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Ich sehe die anderen erst beim Abendessen. Das Hotel serviert um Punkt sieben eine deftige, nicht gerade vegetarierfreundliche Mahlzeit. Es gibt keine Reservierungen, man kann weder die Uhrzeit noch das Essen wählen. Es ist wie zu Hause – man kommt runter, wenn das Essen fertig ist, und isst das Tagesgericht oder eben gar nichts. Ziemlich entspannt.

Ich habe es mir im Bett gemütlich gemacht und bin eingedöst, als die Glocke ertönt. Ich erhebe mich unter Schmerzen, die letzten Tage sitzen mir in den Knochen, und reibe mir die Wange, wo sich die Falten des Kopfkissens eingedrückt haben.

Ich humpele zur Treppe, als eine Tür aufgeht und ein anderer Gast mich beinahe umrennt. Mir fällt die Krücke aus der Hand, und ich bücke mich, um sie aufzuheben, wobei mein Knöchel schmerzhaft protestiert. Ich will gerade eine gereizte Bemerkung machen, als ich dem Gast ins Gesicht sehe. Er steht stocksteif da und starrt mich an.

Es ist Danny.

»Danny!«

Ich will ihn umarmen, aber er steht nur da und reagiert nicht. Dann plötzlich schmilzt er wie Eis, umschlingt und drückt mich, zuerst sanft, dann fester, dann zermalmt er mich förmlich, als wollte er sich vergewissern, dass ich wirklich hier bin und aus Fleisch und Blut.

Er kann den Satz nicht beenden, schluckt nur, drückt sein Gesicht in meine Haare, und ich spüre seine Tränen auf dem Scheitel.

»Ich hätte dich nie mit ihr allein lassen dürfen, Scheiße noch mal!«, sagt er und drückt mich noch fester. »Ich wusste, dass ich dich nicht hätte allein lassen dürfen. Ich habe doch gesagt, du sollst keine Dummheiten machen. Und was passiert? Du fährst mit einem gebrochenen Knöchel über Stock und Stein. Du bist doch nicht Jason Bourne, Herrgott noch mal.«

Ich schüttele den Kopf und halte Danny ganz fest, vergrabe das Gesicht an seiner Schulter, um mein Schluchzen zu verbergen. Ich liebe ihn – ich liebe seine Versuche, die Stimmung aufzuheitern und selbst darüber zu scherzen, aber ich kann nicht mal so tun, als würde ich lachen. Ich kann ihn nur festhalten und weinen und weinen und weinen. Um alles.

»Verflucht noch mal«, sagt er. Seine Stimme klingt rau und weich zugleich, er wiegt mich hin und her, hin und her. »Alles ist gut, Erin. Alles ist gut, Liebes.«

Ich möchte ihm so gern glauben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er recht hat.

»Du siehst beschissen aus«, sagt er schließlich und tritt zurück, um mich zu mustern. Ich glaube, er will mich zum Lachen bringen, und ich würde es ja auch gern. Du hättest mal die andere sehen sollen, liegt mir auf der Zunge, aber Liz ist tot, und

»Die verfluchte Schlampe.«

»Sag das nicht. Sag das nicht – du weißt nicht, was sie –«

Aber dann ruft uns die Glocke ein weiteres Mal zum Essen, und Danny verdreht die Augen.

»Wir gehen besser runter. Bist du bereit?«

»Nicht so richtig. Und du?«

»Mir geht’s gut, Schätzchen. Du bist diejenige, die das Überlebenstraining absolviert hat.«

Ich lache, aber meine Nerven sind immer noch zum Zerreißen gespannt, als ich langsam und unbeholfen die schmale Treppe hinuntersteige, unter einem Arm die Krücke, die andere Hand am wackligen Geländer.

Als ich den Speisesaal betrete, sind schon alle da, das heißt: alle, die überlebt haben. Topher, Tiger, Rik, Inigo, Miranda und Carl sitzen an einem großen Esstisch. Als sie mich bemerken, scheinen sie alle zugleich tief durchzuatmen. Dann durchbricht Topher zu meiner Überraschung die Stille mit einem langsamen Klatschen, in das zuerst Inigo und dann die anderen einfallen.

»Teufel noch mal«, sagt Carl und springt auf, um mir mit Krücke und Stuhl zu helfen. »Du siehst noch schlimmer aus als Inigo, und das will was heißen.«

Ich setze mich neben Tiger. Sie legt den Arm um mich, als Carl meinen Stuhl heranschiebt, hält mich in einer herzlichen, einseitigen Umarmung.

»Erin, geht es dir gut? Es muss furchtbar gewesen sein. Es tut mir so leid – wir hätten dich niemals allein lassen dürfen.«

»Schon gut«, stoße ich hervor. Mir kommen die Tränen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Knöchel pocht schmerzhaft

»Es riecht schon wieder nach verdammtem Cassoulet«, sagt er düster. »Das war letztes Mal schon ekelhaft genug.« Irgendwie bricht seine Gereiztheit das Eis, und Inigo bringt sogar ein müdes Grinsen zustande.

»Bisschen lauter, Kumpel«, sagt Carl, als die junge Kellnerin vorsichtig drei Teller mit einem sämigen, farblosen Eintopf hereinträgt. Sie atmet schwer vor lauter Konzentration, als sie mit dem Tablett die Tischecke umschifft. »Wir wollen doch sicher sein, dass sie in den richtigen Teller spuckt.«

»Wenn es so was ist wie gestern, macht Spucke es nur besser«, murmelt Rik.

»Pst«, zischt Miranda streng. Rik grinst und reibt ihr mit einer zwanglosen Vertrautheit den Nacken. Wie es auch immer um ihre jeweilige private Situation bestellt sein mag, sie werden ganz sicher nicht als Kollegen nach England zurückkehren. Zwischen ihnen hat sich unwiderruflich etwas verändert, und Rik wirkt stärker und entschlossener als bei seiner Ankunft.

Topher hingegen ist nur noch eine blasse, kraftlose Version des charismatischen Mannes, der aus der Standseilbahn gestiegen ist. Irgendwie überrascht es mich nicht – er hat seine Mitgründerin und seinen besten Freund verloren, ein entsetzlich hoher Preis, um die Kontrolle über die eigene Firma zu behalten. Er wirkt gealtert, sein strahlendes Selbstvertrauen hat Kratzer bekommen. Aber er sitzt wie gehabt am Kopf der Tafel, und als der Eintopf serviert ist, klopft er mit der Gabel an sein Glas und räuspert sich, während wir ihn erwartungsvoll anschauen.

»Ähm … es wird nicht lange dauern«, sagt er, hält dann inne und reibt sich die Stirn, als hätte er den Faden verloren. »Aber

Er trinkt einen großen Schluck Rotwein, verzieht das Gesicht und wischt sich den Mund ab. Es ist wohl nicht die Qualität, die er gewohnt ist.

»Die erste ist, und es fällt mir nicht leicht, das auszusprechen.« Er schluckt schwer. »Das Übernahmeangebot wurde zurückgezogen.«

Gemurmel erhebt sich, es klingt schockiert und besorgt, aber keineswegs überrascht. Rik und Miranda tauschen einen Blick.

»Was bedeutet das für die Bewertung der Firma, wenn du mit Snoop an die Börse gehst?«, fragt Carl unverblümt. Topher antwortet nicht. Rik verschränkt die Arme und presst verärgert die Lippen aufeinander.

»Die Firma ist im Arsch, richtig? Du brauchst uns nichts vorzumachen, Toph. Wir sind keine Investoren, denen du Honig ums Maul schmieren musst. Das ist doch nicht weiter überraschend, oder? Ein öffentlichkeitswirksames Massaker bei einem Firmen-Event, eine Partnerin tot, vermutlich die, die den Investoren genehmer war –«

»Rik!« Tiger steht auf, ihr Stuhl quietscht über den Fliesenboden, ihr Gesicht ist verzerrt, von ihrer üblichen Gleichmut ist nichts mehr vorhanden. »Herrgott noch mal, Rik! Spielt das wirklich eine Rolle? Eva ist tot. Elliot ist tot. Ani ist tot.« Beim letzten Wort versagt ihr die Stimme. »Wie kannst du dich da für die Bewertung der Aktie interessieren?«

Sie hat recht, und das weiß Rik auch. Er lässt sich auf seinem Stuhl zurücksinken und zuckt kraftlos mit den Schultern.

»Es ist eine Tatsache«, erwidert er, aber es klingt nicht streitlustig, sondern vielmehr so, als wolle er seine Taktlosigkeit zurücknehmen. »Mehr wollte ich nicht sagen.«

»Was ist das andere?«, will Miranda wissen. Ihr Einwurf sprengt das verlegene Schweigen, das sich nach Tigers Ausbruch ausgebreitet hat. Topher scheint die Frage nicht zu verstehen. »Du hast doch gesagt, es gibt zwei Neuigkeiten«, hilft sie ihm auf die Sprünge. »Was ist da noch?«

»Oh.« Topher wirkt plötzlich, als wäre ihm übel. Er reibt sich übers Gesicht. »Ich habe Post bekommen. Eine E-Mail, meine ich. Von Arnaud.«

Arnaud? Danny sieht mich stirnrunzelnd an, und dann fällt es mir wieder ein. »Evas Mann«, flüstere ich.

»Weiß er schon alles?«, fragt Rik betreten.

Topher schüttelt den Kopf. »Die Polizei hat ihm noch keine Einzelheiten mitgeteilt, nur dass sie einen tödlichen Skiunfall hatte. Jedenfalls hat er mir eine Datei geschickt.«

»Eine Datei?« Miranda sieht verwirrt aus. Und da ist sie nicht die Einzige. »Hat das etwas mit Eva zu tun?«

»Es ist sogar ein ganzer Ordner, und der Inhalt betrifft viele Menschen. Da sind Briefe drin, Fotos, Videos. Eva hatte Arnaud gebeten, mir all das zu schicken, falls sie sterben sollte. Er hat es sich nicht angesehen, der Ordner ist passwortgeschützt. Ich bin ihn durchgegangen und … da gibt es ein Video …« Er fährt sich mit der Hand durch die blonden Haare, die nicht mehr kunstvoll zerzaust sind, sondern wild in alle Richtungen stehen. »Ich habe keine Ahnung, was ich damit anfangen soll. Eva hat mir das einfach vor die Füße gekippt, und der Rest ist

Er sieht … Ich komme nicht gleich drauf. Doch, er sieht verloren aus.

»Willst du, dass wir es uns auch ansehen?«, fragt Rik. »Wir alle?« Er blickt rasch zu Danny und mir herüber. Er spricht es nicht aus, aber mir ist klar, was er denkt – ob das nicht nur Snoop-Interna sind.

Doch zu meiner Überraschung nickt Topher. »Es geht alle hier im Raum an.«

Danny runzelt die Stirn, und ich weiß genau, wie er sich fühlt. Wir haben keine Ahnung, was uns erwartet. Was haben Danny und ich damit zu tun? Hat Eva irgendetwas an ihren Mann geschickt, bevor sie starb?

Topher klappt sein MacBook auf, klickt auf einen Link und gibt ein Passwort ein. Dann dreht er den Monitor so, dass alle ihn sehen können, wirft einen Blick zur Tür, um sich zu vergewissern, dass wir ungestört sind, und drückt Play.

Im ersten Moment erkenne ich kaum etwas. Das Video scheint mit einem Handy aufgenommen worden zu sein, zu nächtlicher Stunde, die Qualität ist mäßig. Es sieht wie ein Garten aus – oder nein, ein Balkon, denn dahinter sind Dächer zu erkennen. Ein Mann und eine Frau stehen da und unterhalten sich, doch während ich den Atem der filmenden Person hören kann, dringt nichts von dem Gespräch herüber. Vermutlich wurden sie von drinnen durch eine Fensterscheibe gefilmt.

Die Frau lehnt an der Wand, ihr Gesicht liegt im Schatten, aber etwas an ihrer Haltung kommt mir bekannt vor. Und sie ist offensichtlich betrunken. Sie stützt sich an der Wand ab, und als sich der Mann vorbeugt und ihr noch mehr Champagner anbietet, streckt sie unsicher ihr Glas aus.

Sie schüttelt den Kopf. Sie will zur Seite treten, doch der Mann versperrt ihr mit seinem Arm den Weg. Sie ist jetzt zwischen seinem Körper und der Hauswand eingeklemmt. Mein Herz schlägt schneller. Ich weiß, was gleich passieren wird. Ich kenne solche Situationen. Ich habe diese Panik selbst erlebt. Ich weiß, wie dringend sie von dort wegwill.

Dann legt er mit Bedacht die Hand auf ihre Brust.

Ich schreie innerlich, dass sie ihn vors Schienbein treten soll, in die Eier, Hauptsache weg.

Mir ist flau, denn ich habe begriffen, dass ich die Frau kenne und weiß, was sie gleich tun wird.

Sie windet sich, um seinem Griff zu entkommen, doch er vertritt ihr den Weg, streckt auch die andere Hand aus und beugt sich vor, so nah, dass ich nicht sehen kann, was er tut, es mir aber nur zu gut vorstellen kann. Mein Herz rast, mir wird schlecht. Warum kommt ihr die Person mit dem Handy nicht zu Hilfe?

Als der Stoß erfolgt, bin ich nicht überrascht, anders als die filmende Person und einige der Anwesenden hier im Raum, die hörbar aufkeuchen.

Der Mann taumelt rückwärts, gegen die niedrige Brüstung des Balkons, schwankt. Die nächsten Sekunden laufen so schnell ab, dass ich kaum mitbekomme, was passiert.

Die Frau tritt auf ihn zu, und man könnte glauben, sie wolle ihm helfen. Aber das tut sie nicht. Sie stößt ihn noch einmal.

Erst als sich die Frau umdreht, sehen wir ihr Gesicht.

Ein vollkommen ruhiges Gesicht.

Es ist natürlich Liz.