Hallo, Tom! Ich war zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Treffpunkt, aber leider habe ich dich dort nicht angetroffen. Was war los?
Mary
D as ist die erste Nachricht, die ich am nächsten Morgen bei MyBazar vorfinde. Die zweite ist ebenso interessant, aber um die kümmere ich mich später.
Es war regnerisch, nicht wahr? , schreibe ich zurück. Regen macht mich nervös. Aber ich habe dir etwas dagelassen. Hast du es nicht gesehen?
Zwei Minuten später kommt die Antwort:
Doch. Und niemand hier findet es witzig. Du solltest besser vorsichtig sein, vielleicht bewerte ich dich. Du weißt doch, negative Kritiken sind schlecht fürs Geschäft .
Ich bin immer stärker davon überzeugt, dass Vera hier persönlich schreibt, und sie macht das gut. Die PNs sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich, trotzdem hält sie unseren Dialog so, dass niemand Außenstehender etwas Verdächtiges daran finden könnte.
Mein Geschäft läuft wie geschmiert , antworte ich. Du musst dir keine Sorgen machen. Es stört mich auch gar nicht, dass ich ein paar Monate lang weniger verdiene als sonst. Ich kenne jemanden, der fast gar nichts verdienen wird .
Die nächste Nachricht kommt schneller, als ich mir ein Glas Wasser aus der Küche holen kann. Kein Text, nur ein Bild – der stählerne Totenkopfring in Großaufnahme. Ohne totes Küken.
Ich schicke einen Smiley zurück. Und nur einen Satz: Liebe Grüße von Grigor, soll ich ausrichten .
So deutlich wäre ich normalerweise nicht geworden, das tue ich nur, weil es noch diese zweite Nachricht gibt, von einer anderen Quelle. Ich habe sie erst verstanden, nachdem ich sie durch den Google-Translator gejagt hatte. Dass sie auf Armenisch verfasst war, wusste ich schon davor, die Schrift ist ja sehr charakteristisch. Meine Vermutung, dass der Inhalt nicht besonders freundlich sein würde, wurde mir von Google unmittelbar bestätigt. Die Quintessenz lautet: Frankfurt ist unsere Stadt. Wenn wir dich in die Finger bekommen, knüpfen wir dich an deinen Eingeweiden auf, Freund. Keine Geschäfte mehr mit rot-blau-orangen Strohhalmen .
Ich bin recht sicher, dass die Botschaft von den Malakyans stammt, die keinen zweiten armenischen Clan in der Stadt sehen wollen – schon gar keinen, der Preisdumping bei Kokain betreibt. Mit ihrer Einmischung habe ich so früh nicht gerechnet, und sie macht mich ein wenig unruhig. Andererseits kann ich jetzt auf beiden Seiten Öl ins Feuer gießen, ich muss nur doppelt aufpassen, mir dabei nicht die Finger zu verbrennen.
»Mary« hat auf meine letzte Meldung nicht mehr geantwortet. Dass ich Grigor erwähnt habe, wird bei ihr alle Zweifel darüber beseitigen, mit wem sie es zu tun hat, und nun bespricht sie sich wohl mit den anderen. Gibt vielleicht auch Andrei Bescheid, denn wenn es um Clanstreitigkeiten geht, dürfen ohne seine Zustimmung keine Entscheidungen getroffen werden.
Zum dritten Mal heute checke ich die Tracking-App. Der rote Punkt blinkt immer noch an derselben Stelle in Niederrad. Ich vergrößere die Karte. Wenn die GPS -Daten einigermaßen genau sind, muss der Sender sich in der Schwanheimer Straße befinden; leider weiß ich nicht, ob sich an der Adresse eine von Andreis Mitarbeiter-Wohnungen befindet. Er hat seine Leute immer gern auf eigene Kosten in seinen zahlreichen Immobilien untergebracht. Eine gute Strategie, um sie an den Clan zu binden und gleichzeitig überwachen zu können. Ich wünschte, ich würde es wagen, mir den Ort selbst anzusehen. Andererseits war ich auch im Duplex , und das nur mittelmäßig getarnt. Jetzt könnte ich Hijab und Abaya anlegen, die Kleidungsstücke habe ich aus Wien mit nach Frankfurt gerettet; muslimische Frauen gehören an beiden Orten gleichermaßen zum Stadtbild.
Allerdings lässt der Hijab das Gesicht frei, und wenn Vera auch nur einen Blick auf mich wirft, würde irgendetwas ihr bekannt vorkommen, und sie würde genauer hinsehen. Sie hat einmal im Vorbeigehen einen von Andreis abtrünnigen Partnern identifiziert, obwohl der sich in Ungarn ein ganz neues Gesicht hatte zurechtoperieren lassen. Und wenn ich den Hijab so feststecke, dass er nur die Augen freilässt? Würde sie mich dann noch erkennen? Vera traue ich in dieser Hinsicht fast alles zu, trotzdem denke ich, ich werde es riskieren. Schade, dass ich den praktischen Kinderwagen nicht auch aus Wien mitnehmen konnte.
Mit zügigen Schritten marschiere ich die Schwanheimer Straße hinauf, in jeder Hand eine halb gefüllte Einkaufstasche. Ich habe ein paar T-Shirts hineingestopft und zwei Laibe Weißbrot gekauft, die obenauf liegen – ich möchte aussehen wie eine Frau arabischer Herkunft, die gerade aus dem Supermarkt kommt. Es soll ein vertrautes Bild sein, das sich ohne Nachdenken, ohne zweiten Blick einordnen lässt. Nach einigem Überlegen habe ich die Walther zu Hause gelassen, obwohl mich der Gedanke, sie griffbereit zu haben, beruhigt hätte. Aber der Schleier tut das auch.
Ich bin nicht hier, um mich zu vergewissern, dass Vera sich hier aufhält, sondern um zu überprüfen, woher genau das GPS -Signal kommt. Im ungünstigsten Fall finde ich gleich das Küken im Rinnstein, aber dann weiß ich wenigstens Bescheid.
Noch etwa fünfzig Meter, wenn ich der Tracking-App glauben darf. Je näher ich komme, desto exakter wird die Anzeige, und es zeichnet sich ab, dass das Signal nicht von der Straße kommt, sondern aus einem der Häuser. Einem weißen, dreistöckigen Gebäude, dessen Fassade frisch renoviert wirkt.
Trotzdem suche ich den Boden genau ab, vor allem zwischen den geparkten Autos. Nirgendwo ein toter Vogel zu entdecken, vielleicht habe ich ja wirklich Glück.
Vor dem weißen Haus stelle ich meine Einkaufstaschen ab und tue, als müsste ich den vom Tragen geplagten Rücken strecken. Ein schneller Blick in alle Richtungen, dann öffne ich die Foto-App des Handys und knipse die Namensschilder neben den Klingeln am Hauseingang.
Mehr als das werde ich hier jetzt nicht ausrichten. Ich greife nach den Taschen und kehre zurück zur Bushaltestelle.
Schulz. Michalides. Dybvik. Raskowsky. Loeske. Finke. Yildiz. Hielmann-Mayer.
Wenn Vera wirklich in diesem Haus wohnt, lässt sich das nicht anhand der Klingelschilder erkennen. Als ich sie kennengelernt habe, hieß sie Singer, Vera Singer, aber ich habe für sie zumindest zwei Dokumente mit anderen Namen gefälscht. An die ich mich nicht mehr genau erinnern kann, aber von denen auf dem Foto war keiner dabei.
Sollte Vera wirklich in dem Haus in der Schwanheimer Straße wohnen, hat sie wohl einfach darauf verzichtet, das Schildchen des Vormieters zu ersetzen. Meinen Plan, ihr etwas zu schicken, das sie nervös machen könnte, werde ich trotzdem beibehalten, im schlimmsten Fall geht meine Post eben ins Leere.
Ein schneller Sprung in den nahe gelegenen Supermarkt, wo ich an der Fleischtheke nach einem Schweineherz frage. Für meinen Hund, natürlich. Die Bedienung mustert mich erst irritiert: muslimische Frau? Schweineherz?, bevor sie bedauernd die Schultern zuckt und mir erklärt, dass die nächste Metzgerei nicht allzu weit entfernt liegt.
Dort werde ich fündig. Ein Schweineherz ist etwa so groß wie ein Menschenherz; für Laien sind die Organe kaum zu unterscheiden. Zu Hause packe ich es in zwei Schichten Bubblewrap und eine passende Schachtel. Die Begleitnotiz ist kurz, aber griffig: Deines reißen wir als Nächstes raus . Beschwingt adressiere ich das Paket an Vera Singer, wohnhaft in der Schwanheimer Straße 34 B. Ich schreibe mit der linken Hand, die Schrift soll ruhig unbeholfen aussehen und meiner eigenen nicht im Geringsten ähneln. Als Absender krakele ich etwas Unleserliches.
Ein schneller Sprung zur nächsten Postaufgabe-Stelle, und ich bin wieder zurück in meinen traurigen achtundzwanzig Quadratmetern, unschlüssig, wie ich den Rest des Tages verbringen soll.
Aber ein Blick auf MyBazar genügt, und es ist klar, was nun ansteht. Möglichst genaue strategische Planungen, denn Mary hat sich wieder bei Tom gemeldet.
Das wird euch noch leidtun .
Im ersten Moment denke ich, dass sie das Herz schon bekommen hat und dass das doch gar nicht sein kann, aber Sekunden später ist mir klar, was passiert sein muss. Ein schneller Blick in die Tracking-App … ja. Der rote Punkt ist verschwunden. Not found , meldet die App. Was einer gewissen Ironie nicht entbehrt, denn es ist genau das Gegenteil geschehen: Vera hat den Sender gefunden und zerstört.
Ich rufe den Standortverlauf auf und schlucke. Sie und ich müssen uns knapp verpasst haben. Wie es scheint, hat sie das Haus etwa zu der Zeit verlassen, als ich in den Bus gestiegen bin. Während ich beim Metzger und auf der Post war, ist sie an den Main gefahren, in die Nähe der Leunabrücke. Dort wurde das letzte Signal aufgezeichnet.
Ich lege mich aufs Bett, das Handy vor dem Gesicht. Ist sie extra dorthin gefahren, um das Küken ins Wasser zu werfen? Oder nein, Moment: In dem Industriepark, der sich in der Nähe befindet, gibt es zwei alte Gebäude, die früher zu einem Chemieunternehmen gehört haben und die Andrei kaufen wollte. Möglich, dass die Karpins das im vergangenen Jahr getan haben. Ist Vera hingefahren, um jemanden von den anderen dort zu treffen? Vielleicht haben sie gemeinsam erst das harte Innenleben ertastet und den Sender dann gleich zerstört oder im Fluss versenkt.
Ich frage mich, wen sie getroffen hat. Boris wird es nicht gewesen sein, der hat meinen Köder ja gestern schon gesehen und nicht an sich genommen. Hat Andrei einen neuen Stellvertreter in Frankfurt? Das zu erfahren wäre wichtig; wenn ich ihn kenne und weiß, wie er tickt, kann ich die Situation besser einschätzen.
Das wird euch noch leidtun .
Die Nachricht macht mich aus zweierlei Gründen froh. Erstens, weil sie zeigt, dass mein Unruhestiften Früchte trägt. Zweitens, weil Vera »euch« schreibt. Offenbar geht niemand im Clan davon aus, dass man es mit einer Einzelperson zu tun hat. Diesen Umstand werde ich nutzen, so lange es geht.
Ich würde mir meinen nächsten Schritt gerne länger überlegen, aber Zeit ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann. Ebenso wenig wie teure Kostümierungen, also führt mich am nächsten Tag mein erster Weg zu einem Secondhandladen von Oxfam. Ich stöbere in der Wühlkiste und finde pinkfarben glänzende Leggins von exquisiter Scheußlichkeit, mit einem Riss am linken Oberschenkel. Perfekt. Mein nächster Fund: ein schwarzer Kunstlederrock, den ich mit der Schere auf die richtige Länge bringen kann. Ein silbrig schillerndes Shirt mit tiefem Ausschnitt und einem Brandloch an der Seite – sieht nach Zigarette aus.
Am schwierigsten sind die Schuhe zu finden. Sie sollen hochhackig sein, aber ich will trotzdem darin gehen können. Am Ende entscheide ich mich für ein Paar Plateaupumps mit Bleistiftabsatz, die mich zwölf Zentimeter größer machen. Leider sind sie eine Nummer zu klein und werden mir nach ein paar Minuten höllisch wehtun, aber wenigstens kann ich sie nicht verlieren.
Fünfzehn Euro zahle ich für alles zusammen. Die Frau an der Kasse zieht angesichts meiner Wahl missbilligend die Augenbrauen hoch und lässt sie erst wieder sinken, als ich »für eine Kostümparty« murmle.
Zu Hause versuche ich, den Rock mit der Küchenschere auf Minilänge abzuschneiden, was kläglich misslingt; die Schere ist dem Kunstleder einfach nicht gewachsen. Mein Stanleymesser dagegen schon. Der Saum ist nicht unbedingt gerade, aber das kann dem Eindruck, den ich gerne erzielen möchte, nur zugutekommen.
Ich muss mich beschäftigt halten, sonst wird mir bewusst, wie irre mein Vorhaben ist. Wie viel schiefgehen kann. Von vergewaltigt über verstümmelt bis zu getötet werden ist alles drin, aber wenn mein Plan aufgeht, ist er ein großer Schritt in Richtung meines ersten Ziels: Vera loszuwerden.
Je erbarmungswürdiger ich aussehe, desto weniger hart werden sie hoffentlich mit mir umspringen. Ich betrachte mein Gesicht im Badezimmerspiegel, überlege, mir einen kleinen Schnitt am Kinn zuzufügen, doch den würde ich so schnell nicht mehr loswerden. Ein Erkennungszeichen ist das Letzte, was ich gebrauchen kann.
Also Schminke. Mit allen Schattierungen von Rot, Blau und Braun male ich mir ein Veilchen, das es in sich hat. Bei schummeriger Beleuchtung sollte niemand seine Echtheit anzweifeln.
Dumm nur, dass das nicht genügen wird. Ich weiß, wie misshandelte Frauen aussehen, und ein blaues Auge ist meistens nur eines von mehreren Merkmalen. Seufzend drehe ich den Kopf von rechts nach links, entscheide mich für rechts, nehme meine Unterlippe zwischen die Zähne und beiße zu, fest und lange, bis ich Blut schmecke.
Ja. So wirkt das überzeugender. Die Lippe wird anschwellen wie nach einem Faustschlag, aber das sollte nicht von langer Dauer sein. So weit ist also alles vorbereitet. Mein größtes Problem ist die Frage, wie ich an den Ort des Geschehens kommen soll. Und später wieder zurück, hoffentlich.
Der Saunaclub, der heute Abend mein Ziel sein wird, liegt an der Hanauer Landstraße, nicht weit von der Autobahnauffahrt entfernt. Er ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen, aber in meinem Aufzug werde ich unweigerlich auffallen. Das Veilchen lässt sich unter einer Sonnenbrille verbergen, bei Leggins und Minirock ist das schwieriger.
Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als in der Umgebung einen stillen Ort zu suchen und dort einen schnellen Kleiderwechsel durchzuführen.
Bis ich losfahren kann, ist noch einige Zeit zu überbrücken, der Club öffnet zwar schon um drei Uhr nachmittags, aber ich möchte die Betreiber antreffen. Und meiner Erfahrung nach tauchen die üblicherweise erst abends auf, wenn die meisten Gäste vor Ort sind.
Um mich abzulenken, schalte ich den Computer ein und rufe die üblichen österreichischen Nachrichtenseiten auf. Was sich als Fehler erweist, zumindest in puncto Ablenkung. Schon auf der Startseite blickt mir das ernste Gesicht von Oliver Tassani entgegen. Spuren in Mordfall verdichten sich , lautet die Headline.
Es geht um Norbert, natürlich. Darum, dass der Mörder zwar immer noch nicht gefasst ist, aber neue Hinweise aufgetaucht sind. »Es scheint, als hätte sich die Mieterin der Wohnung, in der das Opfer ums Leben gekommen ist, ins Ausland abgesetzt«, wird Tassani zitiert. »Es gibt dringende Fragen, zu deren Klärung sie beitragen könnte. Wir suchen sie als Zeugin und fordern sie dringend auf, sich bei einer Polizeidienststelle zu melden.«
Als Zeugin, ja klar. Ich zoome in Tassanis Foto hinein, bis seine dunkelbraunen Augen mir in Originalgröße entgegenblicken. Ich habe ihm eine ausgedruckte E-Mail zugeschickt, diesen freundlichen Gruß, den Andrei mir hat zukommen lassen. Darin steht explizit, dass seine Leute Norbert erschossen haben. Mit der gleichen Post ist auch ein Notebook an Tassani gegangen, von dem ich mir noch mehr erhofft habe. Es war Janinas Computer, den ich aus Alex’ Wohnung habe mitgehen lassen und den ich trotz aller Mühen nicht entsperren konnte. Er müsste eine Fundgrube an Informationen für die Wiener Polizei sein. Janina war – oder ist – Alex’ schöne, blonde Freundin und muss tief in die Machenschaften des Karpin-Clans verstrickt sein; ich bin sicher, auf dem Notebook finden sich Hinweise darauf. Warum ist dann in den Nachrichten nirgendwo die Rede davon, dass das organisierte Verbrechen in den Mord verwickelt sein könnte?
Vielleicht hat Tassani mein Paket gar nicht bekommen. Es gehen immer wieder Päckchen in der Post verloren. Aber so viel Pech habe ich wirklich nicht verdient.
Ich tupfe vorsichtig gegen meine schmerzende Lippe und wünsche mir, ich könnte dem Commissario tatsächlich gegenübersitzen und ihm meine Lage schildern. Es wäre so verlockend, Kontakt aufzunehmen. Der Situation nicht mehr völlig allein begegnen zu müssen … aber da sind leider Alex und sein ungewisses Schicksal.
Bisher habe ich mich erfolgreich dagegen gewehrt, jetzt lasse ich den Gedanken in meinem Kopf zu, gemeinsam mit den Bildern, die meine Fantasie mir dazu liefert. Angenommen, er hat es nicht geschafft, an die Handschellenschlüssel heranzukommen – dann liegt er längst tot im Keller des Abbruchhauses. Verhungert oder an einer Infektion gestorben; die Handgelenke waren böse aufgescheuert, der Keller alles andere als sauber. Fast genauso schlimm wäre es, wenn er immer noch dort unten und am Leben ist. Dann muss er längst den Verstand verloren haben, allein im Dunkel. Der Akku der Campinglampe hält nicht ewig.
Bei der Vorstellung krampft sich mein Inneres zusammen. Auch wenn sein Entkommen meine persönliche Lage gefährlicher machen würde, hoffe ich, dass er es nach draußen geschafft hat. Ich halte Alex für klug genug, dass er sich aus leeren Wasserflaschen und Keksschachteln etwas gebastelt hat, womit er den Schlüssel zu sich heranziehen konnte.
Falls er aber doch tot ist, ginge das auf mein Konto. Nein, ich kann es nicht riskieren, Tassani zu kontaktieren. Ich muss in Deckung bleiben, bis es vorbei ist, auf die eine oder andere Art.
Eine Stunde, bevor ich mich auf den Weg machen möchte, steigt eine Nervosität in mir hoch, wie ich sie lange nicht erlebt habe. Ich fühle mich wie vor einem von Andreis Aufträgen – oder wie vor einer der Hinrichtungen, bei denen ich anwesend sein musste. Alles in mir möchte fliehen. Was ich mir vorgenommen habe, wird wahrscheinlich schiefgehen, weil ich viel zu wenig Informationen habe. Ich weiß nicht, ob die Betreiber des Saunaclub noch dieselben sind. Ich weiß nicht, ob nicht jemand dort sein wird, der mich von früher kennt. Es sind so viele Unbekannte im Spiel, ich werde ständig improvisieren müssen.
Trotzdem stelle ich mich jetzt vor den Spiegel, frische mein blaues Auge auf und sprühe Fixing-Spray darüber. Gut möglich, dass ich Grund zum Heulen haben werde, dann soll die Farbe nicht verschmieren. Die Lippe ist, wie erhofft, angeschwollen. Jetzt noch die weißblonde Perücke, und mein Werk ist fertig. Auf die Silikon-Hüftpolster verzichte ich – durch die Leggins würden sie sich abzeichnen. Es muss auch so gehen.
Für die Fahrt ziehe ich Jeans und ein Sweatshirt über mein Outfit, obwohl die Temperaturen draußen sommerlich sind. Den abgeschnittenen Rock verstaue ich in meinem Rucksack; wenig Stoff braucht wenig Platz. Ein letzter prüfender Blick, dann setze ich die Sonnenbrille auf und mache mich auf den Weg.