4 .

N eunzehn Uhr dreißig. Das Shelley ist eines der Etablissements, in dem Männer nach der Arbeit schnell etwas Spaß haben wollen, bevor sie nach Hause zu Frau und Kindern fahren. Kein exklusiver Club, man braucht hier nicht viel Geld, um sich eine halbe Stunde mit einem der Mädchen zu kaufen.

Noch vor ein paar Jahren haben die Karpins das Shelley betrieben; Andrei hat es den Malakyans für einen viel zu hohen Preis überlassen, hat sie weder auf die schlechte Bausubstanz noch auf den Schimmelbefall hingewiesen. Bei der Besichtigung war davon nichts zu erkennen, weil ein rumänischer Handwerkertrupp kurz zuvor alle Wände neu verputzt und gestrichen hatte. Natürlich fanden die Malakyans nach ein paar Monaten heraus, dass sie über den Tisch gezogen worden waren – es gab also schon vor dem Mord an Grigor böses Blut zwischen den Clans.

Ich hoffe, dass das Shelley immer noch fest in armenischer Hand ist. Und dass keiner von den Karpins Lust darauf hat, gelegentlich vorbeizuschauen.

Als ich an der Hanauer Landstraße aussteige, ist mir schwindelig vor Unruhe. Zwischen Autohäusern und Baumärkten suche ich nach einer Stelle, an der ich die Jeans aus- und den Rock anziehen kann, aber noch ist in der Gegend deutlich mehr los, als ich erwartet hatte. Schließlich ducke ich mich hinter ein paar Bäume neben einem Parkplatz und vollführe den Kostümwechsel so schnell wie möglich. Die Pumps quetschen meine Füße schon jetzt zusammen, und ich habe laut Navigations-App noch siebenhundert Meter Weg vor mir. Meine eigene Idee flößt mir immer mehr Widerwillen ein. Auch für den Rucksack, in den ich meine normale Kleidung gestopft habe, muss ich noch einen geeigneten Ort finden, mitnehmen kommt nicht infrage, da sind meine Schlüssel und ein Ausweis drin. Ich brauche ein Versteck, aber alles, was ich finde, ist ein Haufen alter Autoreifen, an dessen Seiten Gras und Brennnesseln hochwachsen.

Autoreifen, ausgerechnet. Ein schlechtes Omen oder ein Zeichen? Wahrscheinlich weder das eine noch das andere, trotzdem zögere ich, den Rucksack in ihrer Mitte zu versenken. Der Gummigeruch dreht mir den Magen um, bringt albtraumhafte Bilder zurück. Von dir, mit dem benzintriefenden Reifen um den Oberkörper. Von Andrei und von Vera, die mit verschränkten Armen an seiner Seite steht und lächelt.

Um Vera geht es. Ich schlucke meine Angst hinunter und werfe einen letzten Blick auf das Handy, bevor ich den Ton ausschalte und es in den Rucksack stecke.

Noch zweihundert Meter bis zum Ziel, zeigt die App mir jetzt an. Geradeaus und dann links. Der Gehweg ist uneben, ich schwanke auf meinen hohen Absätzen, muss mich konzentrieren, um nicht umzuknicken. Doch das passt zu dem Eindruck, den ich vermitteln möchte. Was ich gleich tun werde, habe ich ein paarmal bei Etablissements dieser Art beobachtet – mit sehr unterschiedlichem Ausgang.

Vor dem Club parken sechs Autos, keines davon teuer. Es dürfte also niemand aus der Führungsriege der Malakyans hier sein. Ich hätte doch später herfahren sollen.

Mit unsicheren Schritten gehe ich auf den Eingang zu und stelle mich in ein paar Metern Entfernung dazu auf. Mit gekrümmten Schultern, den Blick zu Boden gerichtet. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, schaue ich kurz hoch, aber zu meiner Erleichterung hält niemand an.

Dafür kommt nach etwa fünf Minuten eine groß gewachsene Frau aus der Tür, zündet sich noch im Gehen eine Zigarette an und bleibt knapp neben mir stehen. Durch den Rauch, den sie zwischen den dunkelroten Lippen ausstößt, betrachtet sie mich. Ein zweiter Zug aus der Zigarette, dann tritt sie auf mich zu. »Bist du neu? Ich kenne dich nicht.«

Ihr Akzent ist schwer einzuordnen; nicht russisch, zum Glück, also hoffe ich, sie wird nicht erkennen, dass meiner falsch ist. Ich weiche geduckt zur Seite. »Bitte«, murmle ich, »ich nichts kann dafür.«

Mein Versuch, wie eine Russin nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland zu klingen, geht knapp daneben; ich höre mich eher an wie Melania Trump. Doch das scheint die rauchende Frau nicht zu stören. »Hat Narek dich herbestellt?«

Stumm schüttle ich den Kopf. Rücke noch weiter ab, doch meine Gesprächspartnerin hat keine Geduld. Sie stellt sich direkt vor mich, greift nach meinem Kinn und hebt es an. »Ah, Scheiße«, stellt sie sachlich fest. »So willst du arbeiten?«

»Muss ich.«

»Und nicht Narek hat dich hergeschickt?«

»N-Nein.«

»Wer dann?«

Ich druckse herum. »Eine Frau. Hat gesagt, ich soll hier stehen und Geld verdienen. Ich bin die Einzige, die sie heute hat rausgelassen.« Hektisch blicke ich mich um. »Ich weiß gar nicht, wo ich bin. Sie mich hier haben aus dem Auto geworfen.«

Die Frau macht drei tiefe Züge aus ihrer Zigarette, tritt sie dann auf dem Boden aus und marschiert ins Shelley zurück. Eine Minute später ist sie wieder da, in Begleitung eines breit gebauten Typen, aus dessen Hemdkragen schwarzes Brusthaar quillt. Er packt mich an der Schulter. »Wer bist du?«

»Nadja«, wimmere ich. »Bitte nicht schlagen.«

»Du hast hier nichts zu suchen«, herrscht er mich an. »Hau ab!«

Wie auf Bestellung füllen meine Augen sich mit Tränen. »Kann ich nicht. Sie … sie haben gesagt, schneiden sie mir ein Ohr ab. Bitte – ich muss Geld bringen.«

Der Mann mustert mich ein paar Sekunden lang, die Mundwinkel verächtlich nach unten gezogen. »Wer? Wer schneidet dir ein Ohr ab?«

»Ich weiß nicht, wie er heißt. Ist Russe. Sehe ich immer nur die Frau.«

»Welche Frau?«

»Vera. Sie nicht Russin. Deutsche.«

Ich glaube zu erkennen, dass der Name bei meinem Gegenüber eine Assoziation auslöst. Er blinzelt, dreht den Kopf zu der Frau, die längst die nächste Zigarette raucht, und sagt etwas zu ihr in einer Sprache, die nicht slawisch klingt, die hoffentlich Armenisch ist. Er schüttelt aufgebracht den Kopf und nimmt wieder mich ins Visier. »Sie haben dich mit dem Auto gebracht?«

Ich nicke.

»Und gesagt, du sollst dich genau hier hinstellen?«

Noch mal nicken. »Ich nur zurückkommen, wenn vierhundert Euro.« Lautstark ziehe ich die Nase hoch. »So viel! Wie ich kann so viel Geld machen?«

Ohne Vorwarnung versetzt der Mann mir mit der flachen Hand einen Schlag gegen den Hinterkopf, packt mich am Arm und zieht mich durch den Eingang ins Innere des Clubs. Dort schubst er mich in eine Sitzecke und richtet drohend den Zeigefinger auf mich. »Sitzen bleiben. Warten! Klar?«

Mein Kinn zittert, ich blinzle schon wieder Tränen weg. Die innere Anspannung, die sich den ganzen Tag über in mir aufgestaut hat, erweist sich jetzt als nützlich.

Die Einrichtung des Shelley ist so schäbig, wie es die Fassade vermuten lässt. Abgewetzte Polstersessel, zerkratzte Tische, an manchen Stellen klebt der Boden von verschüttetem Bier, dessen Geruch den Raum erfüllt, vermischt mit dem von billigem Parfum. Gäste sehe ich nur zwei, sie sind beide schon in Gesellschaft mit jeweils einer der beschäftigten Damen und trinken wohl nur noch ihr Glas aus, bis sie sich in eines der Hinterzimmer verziehen.

Bisher habe ich niemanden entdeckt, den ich kenne; auch die beiden Männer, die jetzt den Club betreten, sind mir fremd. Sie sind um die vierzig, tragen T-Shirts und Jeans und sehen sich interessiert im Raum um. Der Blick des Kleineren bleibt kurz an mir hängen, wandert dann aber weiter zu drei Frauen, die weniger mitleiderregend wirken als ich.

Binnen Sekunden ist der Typ mit dem dichten Brusthaar bei den neuen Gästen. »Nicht die«, sagt er mit einer nachlässigen Kopfbewegung in meine Richtung. »Kommt mit, ich bringe euch zu ein paar wirklich netten Mädchen.« Er setzt sie an einem der hinteren Tische ab, dann kommt er zu mir. »Ich habe Tigran angerufen, er ist auf dem Weg hierher. Er wird sich um dich kümmern. Du bleibst so lange hier sitzen, verstanden? Beweg dich ja nicht weg!«

Ich nicke, ducke mich tiefer in meinen Sitz. Tigran, das muss Tigran Malakyan sein, Grigors Sohn. Wir könnten uns schon einmal begegnet sein, in einer von Andreis Spielhöllen – dort gab es eine kurze, aber heftige Auseinandersetzung mit zwei der Malakyan-Erben. Doch auch damals habe ich mich bloß in eine Ecke gedrückt und versucht, mich unsichtbar zu machen. Wiedererkennen sollte Tigran mich nicht, und wenn, wäre es egal. Er wird mich ohnehin zu den Karpins zählen.

Die Frau von vorhin stellt mir ein Glas Wasser hin. Schlecht abgespült, am Rand sind noch Lippenstiftspuren zu sehen. Trotzdem bedanke ich mich übertrieben herzlich.

»Wie heißt du noch mal?«, fragt sie.

Welchen Namen habe ich vorhin genannt? Verdammt. Katja? Nein, das war es nicht. Ich tarne meine Denkpause, indem ich einen tiefen Schluck aus dem Glas nehme. »Nadja«, murmle ich dann, dankbar dafür, dass mein Gedächtnis doch noch mitgespielt hat.

»Ich bin Anush«, sagt sie und streckt mir eine Hand mit spitzen, golden lackierten Fingernägeln hin. »Woher kommst du?«

Dünnes Eis. Ich kann mich als Russin ausgeben, solange niemand hier Russisch spricht; wenn es doch jemand tut, fliege ich sofort auf. »Aus Saratow«, sage ich leise. Die Stadt ist nicht besonders bekannt, aber ich weiß, dass Paschas Familie von dort stammt. Und dass die Wolga direkt vorbeifließt.

»Ah. Kenne ich nicht.« Anush rümpft die Nase, als wären Städte, die ihr kein Begriff sind, automatisch Städte zweiter Klasse. »Als ich im Sweet Lips gearbeitet habe, hatte ich eine Freundin aus Sankt Petersburg. Warst du schon mal dort?«

»Nein.«

Sie betrachtet mich wie ein Tier, dessen baldige Schlachtung sie ein wenig bedauert. »Du hättest nicht herkommen sollen. Tigran ist wütend.« Damit lässt sie mich sitzen und wendet sich einem Gast zu, der eben den Club betreten hat.

Ich halte mich an meinem Wasserglas fest. Anush hat recht, es war ein Fehler, herzukommen. Sie werden mich nach Strich und Faden verprügeln, bestenfalls, das wird alles sein, was ich erreiche.

»Nadja?«

Ich fahre herum. Schräg hinter mir steht ein sehr lässig gekleideter Mann, groß, mit dunklem Haar und grünen Augen, die ein wenig zu nah beisammenstehen. Seine Brust- und Armmuskeln zeichnen sich deutlich unter dem T-Shirt ab; um so auszusehen, muss er mindestens viermal die Woche trainieren. Nun erinnere ich mich, ich habe Tigran wirklich schon einmal gesehen. Damals hat er Boris mit einer zerbrochenen Flasche bedroht.

Mich sieht er an, als wäre ich Ungeziefer, ändert nach ein paar Sekunden aber den Gesichtsausdruck, setzt sich mir gegenüber und winkt dem Mann hinter der Bar. »Zwei Glas Prosecco bitte.« Sein Deutsch ist so gut wie akzentfrei, seine Stimme tief.

Ich habe mich noch ein Stück kleiner gemacht, verstecke mein Gesicht hinter dem langen Haar der Perücke. Die Situation ist absurd, Tigran passt so wenig in diesen Club wie ein Rassepferd unter Maultiere. Er würde als Surflehrer durchgehen oder als Animateur in einem Ferienclub, mit den dezent zerrissenen Jeans und dem Flechtarmband am Handgelenk. Aber in seinem Blick liegt etwas, das mich innerlich zurückweichen lässt.

Der Prosecco wird serviert, Tigran schiebt mir ein Glas zu. »Du siehst aus, als könntest du einen Schluck brauchen.«

Ich schniefe und trinke gehorsam. Nadja soll als die Art Frau erscheinen, die durch schmerzhafte Erfahrungen gelernt hat, sich nicht zu widersetzen. Das Sektglas in meiner Hand zittert, und das muss ich nicht einmal vortäuschen.

»So«, sagt Tigran und lehnt sich ein Stück über den Tisch. »Und nun erzähl mir doch mal, wie du auf die verrückte Idee gekommen bist, in einem fremden Revier zu wildern.«

Immer noch ist seine Stimme freundlich, sein Lächeln verbindlich. Beides macht mir mehr Angst als jede Drohgebärde. Ich schüttle wild den Kopf. »Nicht meine Idee! Sie haben mich hergebracht, ich nur die Erste. Sie haben gesagt, ich muss!«

Er nickt verständnisvoll. »Ah. Und – wer sind diese Leute?«

Ich blicke zur Seite, als müsste ich überlegen, ob ich das verraten kann. Nun kann er mein blaues Auge nicht mehr übersehen. »Zwei Männer. Und eine Frau, die ich habe am öftesten gesehen. Sie bewacht uns und gibt uns Essen.«

»Russen und eine Deutsche?«

Brusthaar-Mann hat ihn offenbar schon informiert. Ich nicke in kleinen, hastigen Bewegungen. »Sie haben gesagt, sie schneiden mir Ohr ab, wenn ich nicht bringe vierhundert Euro.« Nachdem die Tränen bei mir heute so locker sitzen, lasse ich ihnen freien Lauf. »Und die machen das. Haben sie bei Ruzanna getan. Sie hat Fieber, alles voll Eiter …«

Ich kann den winzigen Ruck sehen, der durch Tigrans Körper geht. Ruzanna ist ein Name, der fast nur in Armenien vorkommt, dort aber häufig. Die Clans bersten alle vor Nationalstolz; dass ein armenisches Mädchen von der russischen Konkurrenz misshandelt worden sein könnte, stört ihn sichtlich.

»Kennst du diese Ruzanna gut? Weißt du, woher sie kommt?«

»Bitte. Lass mich gehen. Ich suche mir Kunden anderswo, versp…«

»Ich habe dich etwas gefragt!« Er schreit nicht, er zischt. Ein Spucketröpfchen trifft mein Gesicht, ich lasse wieder ein paar Tränen fließen. Gebe vor, nachzudenken, obwohl ich extra für eine Frage wie diese am Nachmittag nach armenischen Städten gegoogelt habe.

»Einmal hat sie gesagt. Stefa… Stepa…«

»Stepanawan?«

Ich nicke heftig. »Stepanawan. Genau. Dort ist sie geboren, sagt sie.«

»Und die Russen haben ihr ein Ohr abgeschnitten?«

Ich beiße mir auf die Lippen, als würde ich es bereuen, das erwähnt zu haben.

Tigran lehnt sich zurück. »Wo wohnt ihr? Wo verstecken sie euch?«

Damit darf ich jetzt nicht einfach so rausrücken. Überzeugender wäre es, ich ließe ihn die Information aus mir rausprügeln, aber ich weiß, wie sich das anfühlt, und mir graut davor. Also sage ich nichts, starre nur auf die zerkratzte Tischplatte.

»Ich habe dich etwas gefragt.« Er ist einer der Männer, die umso leiser werden, je größer ihre Wut ist. Mir ist klar, dass die virtuelle Ruzanna mit ihrem abgeschnittenen Ohr ihm denkbar gleichgültig ist – aber wenn verfeindete Russen sich an einer Landsfrau vergreifen, geht das gegen seine Ehre. Noch dazu die Mörder des eigenen Vaters.

»Ich … weiß es nicht.«

Er gibt dem Mann hinter der Bar einen Wink, Sekunden später reißt der mich von meinem Sitz hoch und zieht mich in eines der Hinterzimmer.

Es ist nicht groß und wird völlig von einem Bett und einem wandfüllenden Spiegel beherrscht. Der Barmann stößt mich auf die Matratze, Tigran ist uns gefolgt und schließt die Tür. In mir wallt Panik hoch; um sie in den Griff zu bekommen, balle ich die Hände zu Fäusten. Was für eine dumme Idee, hierherzufahren. In der Theorie habe ich mich auf alle möglichen Misshandlungen eingestellt und darauf, sie auszuhalten. Jetzt, angesichts der beiden riesigen Männer, sieht das ganz anders aus, aber wenn ich die Karpins vernichten will, brauche ich dafür eine Waffe. Hoffentlich, hoffentlich wird es nicht zu wehtun, sie auf das richtige Ziel zu lenken.

»Du hast es gehört, Semion. Die Russen haben einem Mädchen aus Stepanawan ein Ohr abgeschnitten«, sagt Tigran. »Was meinst du, sollen wir uns an den alten Spruch halten? Auge um Auge, Zahn um Zahn?«

»Ohr um Ohr«, grollt der Barkeeper. »Ist fair.« Den nächsten Satz sagt er auf Armenisch, Tigran antwortet in derselben Sprache, dann richten sie gleichzeitig den Blick auf mich.

Mein Atem geht schneller, mein Herz schlägt wie wild. Ich würde alles dafür geben, noch einen Rückzieher machen zu können, zu erklären, dass alles nur ein Vorwand war, ein Trick. Dass es keine Ruzanna gibt. Aber sie würden mir nicht mehr glauben.

»Bitte«, stoße ich hervor. »Mir tut leid. Ich komme nie wieder. Lasst mich laufen, bitte.«

»Wo wohnt ihr?«, wiederholt Tigran. Er kommt näher, setzt sich neben mich aufs Bett, nimmt Papier und einen Kugelschreiber aus der Schublade des Nachttischs. Das Papier ist ein kleiner Stapel Servietten mit dem Logo des Shelley . »Du schreibst mir jetzt auf, wo ihr wohnt. Und wie die Russen heißen, die dich geschickt haben.« Er nimmt mein Gesicht zwischen die Hände, als wolle er mich küssen; stattdessen drückt er zu, drückt mir den Unterkiefer mit aller Kraft zusammen.

Ich heule auf, versuche, mich zu befreien. Er drückt fester. »Semion«, sagt er, ohne den Blick von mir zu wenden. »Hol ein Messer.«

Es fühlt sich an, als wäre meine untere Gesichtshälfte in einen Schraubstock geklemmt. Tigran weiß, wo er zudrücken muss, um den Schmerz langsam zu steigern. Ich kann nichts sagen, kann nur wimmern. Gleich wird mir übel werden.

Von einer Sekunde zur nächsten lässt er los. »Los. Schreib!«

Reflexartig bedecke ich meinen Kiefer rechts und links mit den Händen. »Weißes Haus. In Niederrad. Lass mich gehen, bitte.«

Semion kehrt zurück, in der Hand ein großes Fleischmesser. »Die genaue Adresse«, erklärt Tigran freundlich. »Wenn ich sie selbst herausfinden muss, schicke ich ein Paket mit deinem Ohr hin.« Semion übergibt ihm das Messer. Tigran hält es mir vors Gesicht, streicht mir damit über die Wange.

Ich werde nachgeben, gleich werde ich nachgeben, aber ich darf damit nicht zu schnell sein. Ich muss sichergehen, dass sie mir glauben. »Sie mich umbringen«, heule ich daher und lasse mich neben dem Bett zu Boden fallen. »Sie mich schlagen, bis ich tot. Ihr kennt sie nicht, sind wie Teufel!«

Ein kurzer Tritt in die Seite. »Steh auf.«

Ich richte mich ein Stück auf, werfe dabei einen schnellen Blick in den Wandspiegel. Mein blaues Auge ist leicht verschmiert, was aber nicht auffällt, weil Wimperntusche und Kajal sich in den Tränen aufgelöst haben und schwarze Spuren über mein Gesicht ziehen. »Ihr kennt sie nicht«, wiederhole ich verzweifelt.

»Ich glaube, da irrst du dich, Nadja.« Tigran ist neben mir in die Hocke gegangen, das Messer hält er so, dass er es mir jederzeit ins linke Auge stechen könnte. »Wir haben Bekanntschaft mit der Familie Karpin gemacht. Sie sind wie Schaben, man muss sie zertreten.« Die Messerspitze kommt näher. »Adresse. Los.«

»Es ist …«, ich schluchze auf, drehe den Kopf zur Seite. »… in Niederrad. Aber …«

Ein scharfer Schmerz, direkt über meinem rechten Wangenknochen. Es brennt, ich spüre, wie mir Blut übers Gesicht läuft.

»Das nächste Mal ist es das Auge«, erklärt Tigran freundlich. »Dann das Ohr, wie versprochen.«

»Schwanheimer Straße«, schreie ich, fahre mir mit der Hand übers Gesicht, alles blutig, es tropft auf mein Shirt, auf den Boden. »Nummer 34 B. Weißes Haus, aber viele Namensschilder. Ich weiß nicht, wem Wohnung gehört, sie uns sperren ein.« Es kostet mich Mühe, meinen russischen Akzent beizubehalten, denn die Panik hat jetzt ganz von mir Besitz ergriffen. Ich kann Tigran nicht einschätzen, vielleicht zieht er mir das Messer gleich durch die Kehle.

»Aufschreiben. Adresse, Namen. Alles, was du weißt.«

Auf dem Boden kniend greife ich mit blutverschmierten Fingern nach einer Serviette und schreibe ganz oben Boris hin, darunter Vera . Darunter die Adresse, doch kaum bin ich fertig, fällt ein Blutstropfen darauf und macht sie unleserlich. Tigran fegt die Serviette weg, schiebt mir eine neue hin. »Noch mal. Und nicht wieder draufbluten.«

Die Aussicht auf einen schmerzhaften Schlag gegen die Karpins hebt seine Laune, das kann er nur schlecht verbergen. »Du hast gesagt, drei Leute«, sagt er, nachdem ich alles noch mal notiert habe. »Eine Frau, zwei Männer. Da fehlt ein Mann.«

Ich nicke, zögere. Wen soll ich noch dazuschreiben? Am besten Toljan, von ihm weiß ich, dass er sich in Frankfurt befindet. Und dass er mit einem Malakyan-Mädchen befreundet war. Vielleicht sorgt das für zusätzlichen Zündstoff.

Als ich fertig bin, nimmt Tigran mir die Serviette ab, betrachtet sie eingehend, nickt. Hebt dann wieder das Messer, und ich rücke unwillkürlich ab. Möglich, dass er kurzen Prozess mit mir macht, nachdem er jetzt weiß, was er wissen wollte. An manchen Tagen hätte Andrei genau das getan.

»Ich euch habe alles gesagt«, flüstere ich.

Er antwortet nicht. Bückt sich und wischt an meinem Shirt das Messer sauber, dann deutet er auf die vollgeblutete Serviette, die neben mir liegt. »Wisch dich ab.« Was er danach zu Semion sagt, verstehe ich nicht, aber der packt mich unter den Achseln, zieht mich auf die Beine und zerrt mich aus dem Zimmer.

»Mach keinen Krach«, knurrt er. »Nicht die Kunden stören. Wenn du schreist, ist es das letzte Mal. Versprochen.« Er schleift mich auf den Hinterausgang zu, bei dem sich Bierkisten stapeln; aus der obersten zieht er eine Flasche und klemmt sie sich unter den Arm. Dann sind wir draußen, steuern auf einen schwarzen Wagen zu. Semion stößt mich auf den Beifahrersitz. Sobald er hinter dem Lenkrad sitzt, verriegelt er die Türen von innen. Dann schiebt er seine Jacke beiseite und zeigt mir das Messer an seinem Gürtel. Die lange Klinge steckt in einer schwarzledernen Scheide, oben ragt ein Griff heraus, der aussieht, als hätte man ihn aus einem Knochen geschnitzt. Weiße Teufelsfratzen mit gebleckten Zähnen starren mich an. »Keine dummen Ideen, okay? Wir machen einen Ausflug.« Er öffnet die Bierflasche und sieht mich vorwurfsvoll an. »Blute nicht den Wagen voll.«

Ich drücke die Serviette wieder auf den Schnitt. »Wohin wir fahren?«

Keine Antwort. Er hat den Parkplatz bereits verlassen und beschleunigt jetzt, fährt in Richtung Autobahn. Gelegentlich wirft er mir einen schnellen Blick zu. »Ruhig sitzen. Sonst stecke ich dich in den Kofferraum.«

Wir fahren stadtauswärts, er hat mir die Augen nicht verbunden, außer mir zu drohen, trifft er keinerlei Sicherheitsmaßnahmen. Das heißt, sie wollen mich entweder in sicherem Abstand zu Frankfurt beseitigen oder irgendwo verwahren, bis sie mich wieder brauchen können. Vielleicht als Pfand für einen Handel mit den Karpins.

In meinen Ohren rauscht es. Ich sinke noch ein Stück in mich zusammen, streife mir unauffällig die Pumps von den Füßen. Es ist nicht lange her, dass ich selbst jemanden mit dem Auto entführt habe, aber ich habe besser aufgepasst. Ich habe Alex mit Pfefferspray außer Gefecht gesetzt und ihn mit Handschellen an den Sitz gefesselt. Semion genügen offenbar versperrte Autotüren und die Warnung mit dem Kofferraum. Er hält mich für dumm und harmlos, das ist gut.

Wir sind ungefähr eine halbe Stunde unterwegs, als er auf einen Parkplatz zufährt. »Entspannungspause«, sagt er mit schiefem Lächeln, und ich brauche nicht nachzufragen, was er damit meint. In dem Moment, in dem der Wagen steht, schnelle ich vor, reiße die halb leere Bierflasche aus der Mittelkonsole und schlage damit nach Semions Kopf. Er schreit auf, mehr empört als schmerzerfüllt, und greift sich an die Stirn. Das sind die zwei Sekunden, die ich brauche, um den Hebel der Generalverriegelung zu lösen und die Tür aufzureißen. Ich fühle noch, wie Semions Hand an meinem Rücken abgleitet, allzu hart habe ich ihn nicht getroffen, leider. Ich höre ihn fluchen und die Fahrertür aufreißen, dann höre ich nichts mehr außer meinen eigenen Atem. Barfuß renne ich über die Wiese, zwischen den Toilettenhäuschen hindurch, auf das dahinterliegende Waldstück zu, hinein in die pechschwarze Dunkelheit. Ich laufe über Äste und Steine, ohne Schuhe schmerzt jeder Schritt, aber ich bleibe nicht stehen.

Keine Ahnung, ob Semion mir noch folgt. Ich zwänge mich durch Dickicht, das sich in meiner Perücke verfängt und sie mir fast vom Kopf reißt. Erst nach ein paar Minuten ducke ich mich hinter ein Dornengebüsch, halte den Atem an und lausche.

Außer dem Rauschen der nahen Autobahn ist nichts zu hören. Keine Schritte, kein Knacken von Ästen. Würde jemand sich nähern, ich könnte es nicht überhören. Aber vom Aufflattern eines Vogels abgesehen bleibt es ruhig.

Ich warte. Ist Semion schon gefahren? Oder harrt er auf dem Parkplatz aus, in der Überzeugung, dass ich irgendwann zurückkommen muss? Möglich wäre auch, dass er seinen Auftrag erfüllt hat: mich einfach fortzubringen und irgendwo auszusetzen wie einen Hund, den man nicht mehr haben möchte.

Etwas krabbelt über mein Bein, ich taste den Boden ab. Nein, kein Ameisenhaufen. Dafür etwas, das sich wie ein gebrauchtes Kondom anfühlt.

Ich rutsche ein Stück zur Seite und setze mich. Eine Stunde muss ich mindestens noch warten, bevor ich langsam versuchen kann, zurückzuschleichen. Ich muss nicht nur irgendwie nach Frankfurt zurückkommen, sondern auch ganz nah an den Club heran. Mein Rucksack mit dem Handy und vor allem den Wohnungsschlüsseln liegt noch zwischen den Autoreifen. Hoffentlich.

Obwohl es eine sommerlich warme Nacht ist, beginne ich zu frösteln. Der Schnitt unterhalb des Auges brennt, aber er blutet nicht mehr. Die Serviette aus dem Shelley halte ich immer noch in der Hand. Ich schiebe sie in die Tasche meines Rocks, stütze den Kopf in die Hände und denke nach.

Trampen? In meinem Aufzug ist das keine gute Idee. Jeder anständige Mensch würde mich sofort zur Polizei bringen, so misshandelt, wie ich aussehe. Und die weniger anständigen … nun ja. Das möchte ich heute nicht mehr ausprobieren.

Als mir endgültig zu kalt wird, richte ich mich auf. Immer noch ohne Plan, aber mit dem Vorsatz, erst mal nicht zum Parkplatz zurückzugehen. Selbst wenn Semion schon fort ist, ist er eine Sackgasse. Aber ich glaube mich zu erinnern, dass die nächste Autobahnausfahrt in drei oder vier Kilometern angeschrieben war. Diese Strecke bei Dunkelheit durchs Gelände zurücklegen zu müssen, ohne Schuhe, ist eine entmutigende Vorstellung, aber trotzdem das Beste, was mir einfällt. Ich gehe die ersten Schritte, bleibe stehen, horche. Nichts. Die Hände vor mir ausgestreckt, arbeite ich mich meterweise durch den Wald. Es wird eine lange Nacht werden.