I ch habe die Walther hervorgeholt und in meine Umhängetasche gepackt, mir trotz des warmen Wetters den dunklen Hoodie übergezogen und sitze jetzt versteckt zwischen Müllcontainern und Holunderbüschen auf einem Fahrradständer aus Beton. Von hier aus kann ich den Eingang zum Haus im Auge behalten, und genau das tue ich seit mittlerweile zwei Stunden. Seit ich das Post-it gefunden habe.
Keine Ahnung, wie ich je wieder in die Wohnung zurückgehen soll. Offenbar ist das Schloss so leicht zu knacken wie das einer Keksdose, aber ich kann mir kein Sicherheitsschloss leisten. Noch weniger einen Türspion mit Kamera, wie ich ihn in München hatte.
Am klügsten wäre es, die Stadt zu verlassen. Frankfurt für immer den Rücken zu kehren und mich auf eine einsame Alm zurückzuziehen, wo niemand sich hinverirrt. Oder nach Wien zurückzukehren und mich Tassani zu stellen. Der mich dann möglicherweise für den Rest meines Lebens einlocht, wegen des Mordes an Norbert plus, als Bonus, auch dem an Alex, falls der denn tot ist.
Meine Augen tränen vom angestrengten Fixieren der Haustür. Gerade eben sind drei Jungs um die sechzehn herausspaziert, laut lachend und einander anrempelnd. Nun kommt eine ältere Frau mit einer schwer wirkenden Einkaufstasche nach Hause. Sie kramt minutenlang herum, bis sie ihren Schlüssel gefunden hat.
Dann passiert lange nichts mehr. Ich erlaube es mir, ab und zu meinen Blick schweifen zu lassen, so gut das zwischen den Holunderblättern möglich ist. Dass mir nichts Bedrohliches auffällt, beruhigt mich kein bisschen. Ich habe es nur deshalb gewagt, nach Frankfurt zurückzukehren und mich mit meinen Racheplänen vorsichtig, aber stetig in die Nähe der Karpins zu begeben, weil ich wusste, dass diese Stadt der letzte Ort war, an dem sie mich vermuten würden. Dass sie überall anders eher nach mir suchen würden als hier. Dass sie ihre Anstrengungen auf Österreich konzentrieren müssten, nachdem ich nachweislich dort war.
Das alles ist jetzt hinfällig. Ich habe höchstens noch Tage, bis sie zuschlagen. Vielleicht auch nur Stunden.
Vorausgesetzt, es war jemand aus dem Clan, der in meine Wohnung eingedrungen ist. Die einzige andere Möglichkeit: ein Kollege von Robert. Der mir eine ernsthafte Warnung zukommen lässt: Du solltest vorsichtiger sein.
Aber wenn es so ist, warum spricht er mich nicht direkt an?
Am Hauseingang steht jetzt ein Mann, der die Klingelschilder studiert. Er ist an Armen und Hals tätowiert und scheint regelmäßiger Kunde im Fitnesscenter zu sein. Schließlich findet er den Namen, den er sucht. Sekunden später springt die Tür auf.
So viele Menschen in dieser Wohnanlage, und ich kenne niemanden davon. Ich habe keine Ahnung, wer hierhergehört und wer nicht. In Wien kannte ich jedes Gesicht, jedes Auto auf dem Parkplatz.
Ohne dass ich es gemerkt habe, ist meine Hand in die Umhängetasche geglitten und umfasst die Walther. Sie ist geladen, und bevor ich zulasse, dass die Karpins mich in die Finger bekommen, werde ich sie mir an die Schläfe setzen und abdrücken.
Sie werden mir nicht antun, was sie Robert angetan haben.
Es wird dunkel, es wird Nacht. Ich habe noch immer niemanden am Haus entdeckt, der mir bekannt vorkommt, und mit meiner Konzentration ist es vorbei. Aber ich wage mich nicht zurück in die Wohnung, denn natürlich könnte es sein, dass mich dort schon jemand erwartet. Oder später lautlos das Schloss aufbricht und mich im Schlaf überwältigt.
Einschlafen werde ich nämlich, ich fühle schon jetzt, wie die Müdigkeit mich in die Knie zwingt. Der Fahrradkeller ist möglicherweise eine gute Idee, um dort ein paar Stunden zu dösen, aber schon als ich ihn betrete, sehe ich, dass er viel zu vollgeräumt ist; ich könnte mich nirgendwo hinlegen.
Am liebsten würde ich auf dem Südfriedhof übernachten; zwischen Gräbern fühle ich mich zu Hause, aber das Tor ist längst versperrt. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich auf der Grünfläche neben dem Parkplatz zwischen zwei Sträuchern zusammenzurollen. Die Nacht ist warm, trotzdem kriecht mir die Feuchte des Bodens innerhalb von Minuten durch Jeans und Shirt. Ich platziere den Kopf auf den zusammengerollten Sweater. Die Tasche, in der ich die Walther trage, liegt in Griffweite.
Während des Versuchs, meine nächsten Schritte zu planen, muss ich eingeschlafen sein, doch das wird mir erst klar, als etwas mich erschrocken hochfahren lässt. Es wird bereits hell, und das erste Flugzeug fliegt über Sachsenhausen. Die Wohnung verfügt über schalldichte Fenster, der Parkplatz nicht. Ich rapple mich hoch, frierend. Mein Rücken schmerzt, mein linker Arm fühlt sich taub an.
Trotzdem gehe ich jetzt noch nicht ins Haus, ich warte, bis es sieben Uhr wird. Dann machen die ersten Nachbarn sich zur Arbeit auf, die Wohnanlage erwacht zum Leben, und ich kann mich wieder hineinwagen.
Um Viertel nach sieben schließe ich meine Wohnungstür auf und springe sofort einen Meter zurück, für den Fall, dass dahinter jemand lauert. Doch es rührt sich nichts. Ich lasse die Tür weit offen und gehe einen Schritt über die Schwelle, meine Hand fest um den Griff der Walther gelegt. Ein Blick ins Bad, einer in die Toilette. Nichts.
Das heißt, es ist tatsächlich niemand hier. Die Wohnung ist viel zu klein, als dass man sich darin verstecken könnte. Ich schließe die Tür zweimal ab und lege die Pistole auf den Schreibtisch. Das Post-it klebt immer noch am Computermonitor. Du solltest vorsichtiger sein .
Doch ein ehrlich gemeinter Ratschlag? Ich gehe noch einmal die Liste aller Menschen durch, die ich in Frankfurt gekannt habe. Wenn man von Robert absieht, habe ich mit keinem von ihnen Kontakt aufgenommen. Und niemandem liegt meine Sicherheit so sehr am Herzen, dass er für eine Warnung meine Tür aufbrechen würde.
Ich wage es, zu duschen – die Waffe in Reichweite –, und improvisiere aus dem Spärlichen, was mein Kühlschrank hergibt, ein Frühstück. Damit setze ich mich vor den Fernseher. Dem, was der Computer vielleicht für mich auf Lager hat, fühle ich mich noch nicht gewachsen.
Aber aus der Atempause wird nichts. Nach wenigen Minuten beginnen die Nachrichten, und sie beginnen mit Frankfurt.
»In der vergangenen Nacht wurde auf Höhe der Deutschherrnbrücke ein Mann tot aus dem Main geborgen. Den Ermittlungen zufolge handelt es sich um den zweiundvierzigjährigen Semion B., dessen Nachtclub erst vor drei Tagen durch einen Brandanschlag zerstört wurde. Ob es sich um einen Unfall oder ein Gewaltverbrechen handelt, steht noch nicht fest. Bei dem Toten wurde ein Blutalkoholgehalt von 3 ,4 Promille festgestellt.«
Meine Hand mit dem Marmeladentoast hängt auf halbem Weg zu meinem Mund in der Luft. Ich lasse sie wieder sinken. Semion, der Vera zur Schrottpresse geführt hat. Der mich im Wald an der Autobahn erledigen sollte.
Sieht aus, als hätten die Karpins vergangene Nacht andere Dinge zu tun gehabt, als mir in meiner Wohnung aufzulauern. Sie halten wie geplant die Clanfehde am Leben, und möglicherweise ist es gar nicht nötig, dass ich zusätzlich Öl in die Flammen gieße. Aber sicher ist sicher.
Keine neuen Nachrichten auf MyBazar , stelle ich nach Hochfahren des Computers fest, doch das lässt sich ändern. Ich öffne die Konversation zu den rot-blau-orangen Strohhalmen. Du bist tot , ist das Letzte, was die Karpins mir geantwortet haben; das muss nach der Zustellung des Autoquaders gewesen sein.
Ich lege die Finger auf die Tastatur. Den Falschen erwischt , schreibe ich. Aber keine Sorge. Wir erwischen den Richtigen .
Wie gut, dass Schweineherzen nicht teuer sind. Ich kaufe wieder eines, verpacke es in Plastik und eine Pappkiste – dann packe ich es noch einmal aus und stoße ein kleines Fleischmesser bis zum Heft hinein. Viel deutlicher kann man nicht mehr werden, finde ich. Das Ganze adressiere ich mit der linken Hand und möglichst krakelig an Jaroslaw Karpin. Erst überlege ich, es ins Hotel zu den Linden zustellen zu lassen, aber es wäre wohl unklug, dort schon jetzt die Pferde scheu zu machen. Denn selbst wenn Jaro nur drei funktionierende Gehirnzellen besitzt, wird er das Hotel im Anschluss meiden.
Besser, ich nehme die Adresse im Industriegebiet, wo die Malakyans schon Vera abgegeben haben. Sie sind jetzt wieder am Zug, und so, wie ich Tigran erlebt habe, wird seine Revanche nicht lange auf sich warten lassen.
Bleibt das Problem mit meiner Wohnung. Am klügsten wäre es, sie aufzugeben, aber als Obdachlose kann ich meine Pläne nicht durchziehen. Mit einer schnellen Google-Suche finde ich aber immerhin eine Notlösung für das Problem mit der Tür. Für fünfundzwanzig Euro erstehe ich im nahe gelegenen Baumarkt einen sogenannten Door-Jammer. Eine Metallvorrichtung, die man in den unteren Türspalt klemmt und die ein Aufdrücken unmöglich macht. Sie müssten also mit der Axt kommen.
Obwohl sie jetzt besser gesichert ist, ertrage ich es nicht lange, in der Wohnung zu sitzen. Das Schweineherz wird frühestens morgen bei den Karpins landen, und ich kann derzeit nichts weiter tun, um die Dinge zu beschleunigen.
Aber ich kann auf dem Friedhof spazieren gehen. Mich in der Nachmittagssonne zwischen alte Gräber setzen und den Bienen dabei zusehen, wie sie von einer Blüte zur nächsten fliegen.
Es könnte entspannend sein, wenn mein Kopf mitspielen würde, doch der arbeitet weiter auf Hochtouren. Keine Anzeichen äußerer Gewalt an Semions Leiche, sonst wäre schon heute Morgen von einem Gewaltverbrechen die Rede gewesen. Wie haben die Karpins ihn dann in den Main befördert? Waren sie es vielleicht gar nicht? Hat er sich aus Kummer um das Shelley betrunken und ist einfach hineingefallen? Oder hat Tigran ihn beseitigt, als Strafe dafür, dass er mich hat entkommen und den Club abbrennen lassen?
Tigran. Ich müsste einen Weg finden, Kontakt zu ihm aufzunehmen, ohne dass er mich als Rache für Semion ebenfalls im Fluss versenkt. Dann könnte ich ihm Wege aufzeigen, wie er an die obere Riege der Karpins herankommt. An Boris, Jaro und wer sonst eben gerade am Ruder ist.
Allerdings müsste ich diese Wege selbst erst finden. Ich brauche mehr Information. Und mir fällt nur ein Ort ein, an dem ich sie bekommen könnte, mit etwas Glück.
Diesmal stehen vier Autos auf dem Hotelparkplatz, aber der silberfarbene Mercedes ist nicht darunter. Dafür ein Kleinbus mit Leipziger Nummernschild.
Ich habe mein Outfit auf jugendlich-geschlechtsneutral getrimmt. Aus zehn Metern Entfernung könnte man mich für einen Jungen halten: Hoodie bis über die Stirn, fixiert von großen Kopfhörern, dazu Sonnenbrille und sackartig weite Hosen.
Ich wünschte, ich hätte ein Skateboard, um es mir unter den Arm zu klemmen, aber es reicht wohl auch, den Blick ständig auf mein Smartphone zu richten, wenn ich einen typischen Siebzehnjährigen verkörpern will. Rhythmisch vor mich hin wippend stehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und verschaffe mir einen groben Überblick.
Der Eingangsbereich des Hotels ist beleuchtet, im ersten Stock brennt hinter drei Fenstern Licht. Aus dem Garten glaube ich, Stimmen zu hören, und zwar ausschließlich weibliche. Heute geschlossene Gesellschaft , steht auf einer Klapptafel neben der Treppe zum Eingang.
Ich überquere die Straße und biege um die Ecke, luge im Vorbeigehen durch das schmiedeeiserne Gitter, hinter dem ich gestern Jaros Begleiterin entdeckt habe. Sie ist nicht hier, dafür eine Gruppe aufgeregt wirkender Mädchen. Keines davon älter als sechzehn, wenn mich der erste Eindruck nicht trügt.
Sie haben Getränke vor sich stehen und unterhalten sich lachend, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagen, ich könnte nicht einmal die Sprache mit Sicherheit identifizieren. Dafür weiß ich ziemlich genau, was ihnen bevorsteht.
Sie sind alle hübsch, schlank, langbeinig. Andrei hat eigene Leute – meistens Frauen –, die solche Mädchen unter dem Vorwand ködern, sie könnten ihnen zu einer Karriere als Model verhelfen. In Deutschland, dort würde genau ihr Typ gesucht, sie würden in Kürze erfolgreich sein und richtig viel Geld verdienen. Die Papiere, mit denen diese Mädchen über die Grenze kommen, sind gefälscht – das weiß niemand besser als ich; viele davon waren mein Werk, und plötzlich sind alle über achtzehn. Sobald sie hier ankommen, ist von Modeln keine Rede mehr, stattdessen landen sie in einem von Andreis Puffs.
Ihre Situation ist aussichtslos. Keine von ihnen spricht Deutsch, keine hat eigenes Geld. Die Verhältnisse sind in etwa so, wie ich sie Tigran geschildert habe, von den abgeschnittenen Ohren einmal abgesehen. Bei körperlichen Bestrafungen wird darauf geachtet, die Ware nicht sichtbar zu beschädigen.
Ich gehe weiter, den Blick auf mein Handy gesenkt. Nach fünfzig Metern kehre ich wieder um. Ich bin dunkel gekleidet, wenn ich mich hinter dem Stamm der alten Linde auf der anderen Straßenseite verberge, müsste ich die Szenerie gefahrlos beobachten können.
Das Handy in der Hosentasche, um verräterisches Aufleuchten zu vermeiden, gehe ich in Position. Die Mädchen sitzen rund um zwei Tische. Keine von ihnen hat ein Smartphone, darauf wird geachtet, man nimmt es ihnen schon zu Beginn der Reise ab. Mit dem Versprechen, dass sie in Deutschland ein neues, viel besseres bekommen. Die Gruppe im Hotelgarten kann noch nicht lange hier sein, denn alle wirken fröhlich. Keine angstvoll gesenkten Blicke. Keine in den Händen verborgenen Gesichter.
Ich überlege gerade, ob ich es nicht doch riskieren soll, mein Handy auf maximalen Zoom zu stellen und ein Foto zu schießen, als die Tür zum Garten sich öffnet und eine junge Frau heraustritt.
Ich erkenne sie nicht auf den ersten Blick, aber auf den zweiten. Janina. Der blonde Engel, für den Alex zu sterben bereit gewesen wäre. Seine große Liebe. So angsterfüllt, so schutzbedürftig.
Sie trägt einen schicken Hosenanzug, ganz Geschäftsfrau, und tritt nun auf die Mädchen zu, streicht einer von ihnen über den Kopf, lässt eine andere von ihrem Sitz aufstehen und sich im Kreis drehen. Dann zieht sie eine Polaroidkamera hervor und beginnt, Fotos zu schießen. Sobald etwas darauf zu sehen ist, gehen die Bilder von Hand zu Hand, die Mädchen beugen sich darüber, langes Haar fällt ihnen in die Kindergesichter. Sie strahlen, und in mir krampft sich alles zusammen vor Wut und schlechtem Gewissen. Ich habe keinen Anteil an dem, was diesen Mädchen zustoßen wird, sehr wohl aber am Schicksal anderer, die kein Stück älter oder misstrauischer waren. Retten können werde ich auch diese hier nicht.
Irgendwann winkt Janina unauffällig in Richtung Tür, und Boris kommt aus dem Hotel spaziert. Er zieht die Hände aus den Hosentaschen und begrüßt jedes der Mädchen einzeln. Nickt anerkennend. Fordert dann offenbar eine von ihnen dazu auf, ihm zu folgen. Die Kleine winkt ihren Gefährtinnen fröhlich zu und verschwindet durch die Tür.
Als sie hineingehen, glaube ich, noch eine zweite männliche Silhouette im Gegenlicht zu sehen, leider zu kurz, um herausfinden zu können, ob es sich um jemanden handelt, den ich kenne. Sicher bin ich nur, dass es weder Toljan war noch Jaro.
Auf dem Parkplatz wird ein Motor angelassen, Sekunden später fährt ein dunkler Audi auf die Straße. Er biegt nicht in meine, sondern in die andere Richtung ab. Wer sich am Steuer und auf dem Beifahrersitz befindet, kann ich nicht erkennen, aber ich habe eine vage Ahnung. Ich fürchte, Boris beliefert einen Kunden.
Der Weg nach Hause erscheint mir unsäglich lang. Ich ringe mit mir, ob ich nicht einen anonymen Anruf bei der Polizei tätigen soll. Mit ein wenig Glück würden sie die Mädchen rausholen und wenigstens einen oder zwei Leute des Clans festnehmen können.
Aber wenn die Karpins jetzt Ärger mit den Behörden bekommen, wird Andrei nie aus seinem Versteck kriechen. Das tut er nur, wenn der Gegner einer ist, gegen den er sich mit seinen erprobten Mitteln wehren kann. Er macht seit jeher einen großen Bogen um jegliche Feindberührung mit der Polizei; umso erstaunlicher ist es, dass sie Robert aus dem Weg geräumt haben. Aber das war eben nicht Andrei selbst.
Fast zu Hause angekommen. Ich nähere mich meinem Wohnblock so vorsichtig, als würde ich mich an scheues Wild heranpirschen. Spähe in jede dunkle Ecke, lausche auf jedes Geräusch. An der Schwelle zu meiner Wohnung lege ich das Ohr an die Tür, aber von innen ist nichts zu hören. Trotzdem springe ich nach Einschalten des Lichts sofort zurück auf den Gang, fluchtbereit.
Doch es ist niemand hier. Es gibt auch keine neuen Botschaften an mich, keine Anzeichen dafür, dass mir wieder jemand in meiner Abwesenheit einen Besuch abgestattet hat.
Ich blockiere die Tür mit dem Door-Jammer und setze mich vor den Computer. Google nach dem Lokal, von dem Anush mir erzählt hat. Das Sweet Lips , finde ich heraus, ist ein Nachtclub im Bahnhofsviertel. Gefährliches Pflaster für mich. Aber das macht jetzt auch keinen großen Unterschied mehr.
Am nächsten Tag stehe ich um elf Uhr vormittags in der Taunusstraße vor dem Eingang des Sweet Lips . Scheint eine Tabledance-Bar zu sein, doch im Moment tanzt dort niemand. Durch die halb geöffnete Tür höre ich das Brummen eines Staubsaugers.
Ich habe die falschen Vorderzähne drin und die hässlichste meiner Perücken auf dem Kopf. Halblanges, struppiges braunes Haar. Niemand hört mich eintreten, dazu ist der Teppich im Flur zu weich und der Staubsauger zu laut.
Ein Blick in den Clubraum – außer dem Putztrupp scheint derzeit keiner hier zu sein. Das ist gut. Ich räuspere mich. »Äh. Hallo.«
Eine der Frauen dreht träge den Kopf in meine Richtung. »Wir haben geschlossen.« Ich kann ihren Akzent nicht einordnen, also verzichte ich darauf, meinerseits einen vorzutäuschen.
»Ja, das habe ich mir gedacht. Ich wollte auch nur schnell etwas fragen.«
Die Frau schüttelt den Kopf. »Nicht mich. Ich mache hier nur sauber. Wenn du einen Job suchst, musst du Darika fragen. Sie ist hinten im Büro.« Eine schnelle Geste, etwa in Richtung Bar, dann dreht die Frau mir wieder den Rücken zu.
Darika. Kein Name, der mir bekannt vorkommt, da kann ich eine kurze Begegnung wohl riskieren. Zögernd gehe ich an der Bar vorbei, steuere den Gang mit den Toiletten an. Gegenüber finde ich eine schlichte weiße Holztür mit der Aufschrift »Büro«.
Nach kurzem Zögern klopfe ich an. Öffne die Tür erst einen Spaltbreit, dann zur Gänze. Darika blickt hoch. Erleichtert lächle ich ihr entgegen, denn ich bin sicher, wir kennen einander nicht.
Wäre ich dieser Frau schon einmal begegnet, könnte ich mich an sie erinnern. Sie ist spektakulär. Langes, welliges schwarzes Haar, kaffeebraune Haut, riesige Augen, die mich irritiert mustern. »Ja, bitte?«
»Entschuldigen Sie die Störung, ich wollte nur fragen …«
»Wir stellen niemanden ein, derzeit.« Ihr Blick wird sanfter, fast mitleidig. »Tut mir leid. Ich fürchte, Sie haben auch nicht die Voraussetzungen für einen Job hier.«
»Deswegen bin ich nicht hier. Ich suche eine Freundin, die bei Ihnen arbeitet. Anush. Sie sagte, wenn ich einmal in Frankfurt bin, soll ich hier nach ihr fragen.«
Darika runzelt die Stirn. »Anush? Hm. Ach, ja richtig, sie hat bei uns serviert. Das ist aber schon lange her, sicher zwei Jahre.«
Ich mime Enttäuschung, sacke leicht in mich zusammen. »Oh. Schade. Ich schulde ihr noch Geld und finde sie nicht im Telefonbuch. Haben Sie eine Adresse von ihr?«
»Nein.«
Ich lasse die Schultern noch ein Stück tiefer hängen. Mache Anstalten, mir einen Stuhl heranzuziehen, und kann in Darikas Miene den deutlichen Wunsch lesen, mich schnellstmöglich loszuwerden.
Sie schüttelt den Kopf, betrachtet mich noch einmal von oben bis unten und kommt offenbar zu dem Schluss, dass eine so traurige Erscheinung nichts Böses im Schilde führen kann. Seufzend zückt sie ihr Handy, scrollt ein wenig herum und notiert dann etwas auf einem Stück Papier. »Hier. Das ist die Handynummer, die ich von ihr habe. Weiß aber nicht, ob die noch aktuell ist.«
Ich bedanke mich schüchtern und bin schon wieder auf dem Weg nach draußen, mit gesenktem Kopf und dem dringenden Wunsch, so schnell wie möglich aus dem Viertel wegzukommen. Möglichst ohne Bekannten von früher zu begegnen und ohne über die am Straßenrand liegenden Junkies zu stolpern. Bei jedem Vierten oder Fünften von ihnen, schätze ich, kreist Karpin-Stoff durch die Blutbahn.
Es ist ein heißer Tag, die Sonne glüht vom Himmel. Es ist ein guter Tag für den Friedhof.