D er Transporter rumpelt über den unebenen Feldweg. Ich sitze zwischen zwei Männern, die ich noch nie gesehen habe; vor mir liegt Boris, bewusstlos.
Ich habe versucht, Tigran zu erklären, dass Boris gut genug Deutsch spricht, um seine Fragen zu beantworten. Dass ich vor lauter Angst meine Sinne nicht beisammenhaben werde, wenn ich ihm gegenüberstehe, dass ich nutzlos bin. Tigran hat bloß gelächelt. »Von uns spricht keiner Russisch, und wir beschützen dich«, hat er gesagt. »Das ist es doch, was du wolltest?«
Ich schlinge mir die Arme um den Oberkörper und schließe die Augen. Ich war bei unzähligen Verhören dabei, die Andrei und seine Leute auf Russisch geführt haben. Die wichtigsten Schlüsselsätze kenne ich und kann sie aus dem Gedächtnis nachplappern. Aber das wird mir nicht viel helfen, denn erstens werde ich Boris’ Antworten nicht verstehen, zweitens ist er durchaus in der Lage, den Malakyans zu erklären, dass ich gar keine Russin bin. Dass ich sie ebenso reingelegt habe wie ihn.
Und dann?
Ich kann Tigran und seine Leute nicht einschätzen. Vielleicht finden sie die Situation witzig. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie mir meine Lüge übel nehmen. Wer weiß, eventuell lassen sie sich sogar auf einen Handel mit den Karpins ein. Tauschen mich gegen ein paar Kilo Heroin oder ein Ersatzlokal für das Shelley ein. Ich könnte mir vorstellen, dass Andrei für ein solches Geschäft zu haben wäre.
Wir haben den holprigen Weg verlassen und fahren nun wieder über Asphalt. Der Mann neben mir spielt auf seinem Handy Mario Kart , Boris stöhnt. Ich senke den Kopf und lasse meine Haare seitlich übers Gesicht fallen. Bis auf einige erleuchtete Handydisplays ist es dunkel hier, aber ich möchte kein Risiko eingehen. Ohne die falschen Zähne und den ausgepolsterten Bauch wird er mich früher oder später erkennen. Später wäre besser.
Nun beschleunigt der Lieferwagen. Müsste ich raten, würde ich sagen, wir sind auf die Autobahn aufgefahren. Boris regt sich jetzt, zieht die Knie zur Brust. Ich beginne, meine russischen Sätze zurechtzulegen. Sie werden ungeschickt und voller Fehler sein; manches werde ich überhaupt nicht übersetzen können, dann muss ich einfach irgendetwas sagen. Wenn wirklich keiner der Anwesenden Russisch versteht, geht das möglicherweise eine Weile gut. Armenisch ist zum Glück keine slawische Sprache, sondern mehr mit dem Griechischen verwandt. Sie werden also nur schwer erraten können, was ich sage.
Wir werden wieder langsamer, wie lange wir schon fahren, kann ich kaum sagen, ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Zwanzig Minuten? Vierzig? Jetzt jedenfalls merke ich, wie die Männer rund um mich unruhig werden. Sie kenne die Strecke bestimmt, also vermute ich, wir werden bald da sein. Die Stelle, an der mein Magen sich befindet, fühlt sich heiß und hart an, wie glühendes Gestein. Der Wagen legt sich in eine Linkskurve, und plötzlich habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ich presse beide Hände gegen den Mund, atme durch die Nase, rieche Schmieröl und Schweiß. Es würgt mich, ich kämpfe dagegen an und schaffe es knapp, den Brechreiz niederzukämpfen, aber die Panik bleibt.
Wir fahren ein Stück bergauf, meine Schulter drückt gegen die des Mannes rechts von mir, der schiebt mich unwillig weg. Klar, ich gefährde seinen Spielerfolg. Kurz darauf werden wir langsamer und halten schließlich an. Ich höre, wie sich die Türen des Fahrerhauses öffnen, und wenige Sekunden später wird es hell um uns. Tigran hat die Hecktür geöffnet.
Das Licht ist golden, denn die Sonne ist gerade dabei, hinter Weinbergen unterzugehen. Ich bin die Erste, die aussteigt; wieder auf eine Art Feldweg, nur dass er diesmal zwischen Weinreben hindurchführt. Neben dem Lieferwagen parkt mein Ford, einer der Malakyans steigt gerade aus.
Sie tragen Boris nun zu dritt, denn er wehrt sich. Zwar nicht stark, dazu fehlt ihm wohl noch die Kraft, aber beharrlich. Mich beachtet er nicht, wahrscheinlich ist er vorhin zu dem Schluss gekommen, dass ich zu den Armeniern gehöre und von ihnen beauftragt wurde, ihn in die Falle zu locken.
Tigran hat mich im Nacken gepackt und führt mich vor sich her zwischen den Weinstöcken hindurch; nun sehe ich auch, was unser Ziel sein wird. Ein Weinkeller, in den Hang hineingegraben wie ein Stollen, die Metalltür steht offen.
Sie tragen Boris in die Dunkelheit, ich zögere vor der Tür, will mich zu Tigran umdrehen und ihn noch einmal bitten, mich gehen zu lassen, doch er versetzt mir einen so heftigen Stoß, dass ich in den Keller hineintaumle, stolpere, liegen bleibe. Nur zwei Schritte von dem Platz entfernt, an dem sie Boris abgelegt haben.
Jemand schaltet das Licht an – trübe, von toten Insekten verklebte Wandleuchten –, während zwei Männer Boris aufrichten und ihn sitzend an einen der dicken Holzbalken binden, die die Decke stützen. Genauer gesagt kleben sie ihn fest, mit Gafferband, das sie um seine Brust und seinen Bauch winden.
Der Weinkeller ist ein neues Detail, aber alles andere fühlt sich an wie ein furchtbares Déjà-vu. Ein einzelner, hilfloser Mensch und eine Gruppe von Schergen. Ich kann jetzt schon die Schreie hören, das Flehen; kann das Blut riechen, das verbrannte Fleisch, den Urin.
Dass meine Knie nachgeben, merke ich erst, als das linke schmerzhaft meinen Sturz auffängt. Tigran gibt einem seiner Leute einen Wink, der zieht mich hoch. Auch das ist mir vertraut, ebenso wie das geringschätzige Lachen der Umstehenden.
Bisher hat Boris sich kaum geregt, er wirkt immer noch benommen, doch das vielstimmige Gelächter scheint etwas in ihm angestoßen zu haben. Er hebt den Kopf, sein Blick irrlichtert durch das Gewölbe. Bleibt nirgendwo hängen, auch nicht an mir.
»Los.« Tigran schiebt mich vor. »Wir klären jetzt ein paar Dinge. Als Erstes: Wer hat Semion getötet?«
Ich stehe nur noch zwei Meter von Boris entfernt. Er hat begonnen, sich gegen seine Fesseln zu stemmen; erst als einer der Männer ihn gegen den Oberschenkel tritt, hört er damit auf.
»Boris«, sage ich. Lasse es so authentisch wie möglich klingen, so, wie Andrei den Namen immer ausgesprochen hat. Ein O, das halb wie ein A klingt, das R vorne mit der Zunge gerollt.
Er hat den Kopf zur Seite gedreht, tut so, als hätte er mich nicht gehört. Dabei müsste er wissen, dass diese Taktik nichts nützt, er hat so oft auf der anderen Seite gestanden. Befrager, nicht Befragter. Täter, hundertmal Täter. Vielleicht kann er noch nicht glauben, dass er diesmal das Opfer sein wird.
Ich denke daran, wie zufrieden er gelächelt hat, als sie dich damals in die Halle geführt haben. Das hilft. »Boris«, sage ich. »Kto ubil Semiona?«
So weit reicht mein Russisch gerade noch. Wer hat Semion getötet? Grammatikalisch müsste das richtig gewesen sein, aber die drei Worte haben genügt, um Boris klarzumachen, dass ihm keine Russin gegenübersteht. Er dreht den Kopf, sieht mich zum ersten Mal genauer an. »Schto?«
Das bedeutet nichts weiter als »was?«. Ich wiederhole meine Frage, es klingt nicht besser als vorher, eher im Gegenteil. Auf Boris’ Stirn bilden sich nachdenkliche Querfalten. »Ja snaju tebja, nje?«, sagt er. Ich kenne dich, oder?
Er ist gefesselt und benommen, trotzdem kriecht die alte Angst in mir hoch. Ich schüttle heftig den Kopf. »Kto ubil Semiona?«, frage ich zum dritten Mal, lauter jetzt. Boris ignoriert mich. Wendet sich Tigran zu. »Wer ist Semion?« Sein Deutsch ist nach wie vor unbeholfen; für jemanden wie Tigran, der es nicht als Muttersprache gelernt hat, ist es möglicherweise schwer zu verstehen. Aber Tigran hat verstanden. Er zieht ein Blatt Papier aus seiner Hosentasche. Es ist ein Computerausdruck von dem Foto, das ich an die Malakyans weitergeleitet habe. Der breite Rücken, der ausgestreckte Mittelfinger, das Messer mit dem Knochengriff.
Boris zuckt mit keiner Wimper. »Das ist Semion?«, fragt er ungerührt. »Kenne nicht. Ist tot?«
»Eto ty!«, stoße ich hervor. Du bist das .
Ein unergründlicher Blick, irgendwo zwischen forschend und hasserfüllt. »Njet.« Dann, wieder zu Tigran: »Sie ist nicht Russin.«
Damit habe ich gerechnet, davor habe ich mich gefürchtet, aber die Information scheint nicht angekommen zu sein – oder meine Nationalität ist Tigran ebenso egal wie mein Mangel an Wahrheitsliebe. »Ich bin nicht blind. Das auf dem Bild bist du«, sagt er ruhig. »Du hast Semions Messer in der Hand, Semion ist tot. Hast du ihn umgebracht?«
Boris reagiert nicht, Tigran sieht mich von der Seite her an. »Übersetze.«
Verloren, denke ich, jetzt bin ich verloren. Mein Russisch reicht dafür bei Weitem nicht aus, und ich habe keine Ahnung, wie ich das verbergen soll. Ich hole tief Luft. Foto heißt Foto, Messer heißt Nosch. Der Rest meiner Tirade wird aus den wirr zusammengesetzten russischen Worten bestehen, die mir eben einfallen. »Twoje foto«, sage ich. »Raszwetali jabloni i gruschi, poplyli tumany nad rekoi, nosch Semiona.«
Die ersten und die letzten beiden Worte ausgenommen, sind das zwei Zeilen aus einem russischen Schlager, die ich da zitiere, und ich habe keine Ahnung, was sie bedeuten. Aber das Lied war eines, das Andrei oft laufen ließ, ähnlich wie Dorogoi Dlinnoju. Das werde ich als Nächstes auspacken.
Boris sieht mich fassungslos an, dann beginnt er zu lachen. »Koschetschka«, sagt er, und danach etwas, das ich nicht verstehe. Was ich aber verstehe, ist, dass er mich jetzt erkannt hat. Ich drehe mich zu Tigran um, dem die Wut über Boris’ Lachen bereits ins Gesicht geschrieben steht. Und der nicht weiß, dass Koschetschka bloß »Kätzchen« heißt.
»Ja«, sage ich. »Er war es selbst. Er hat zugegeben.«
Boris’ Heiterkeit findet ein abruptes Ende. »Lüge!«, ruft er. »Habe ich nicht gegeben, war ich ni…«
Der Rest geht in einem Schmerzensschrei unter, denn auf einen Wink von Tigran hin hat einer seiner Männer einen Elektroschocker hervorgezogen und gegen Boris’ Hals gedrückt. Sein ganzer Körper zuckt unkontrolliert, in seinem Schritt breitet sich ein dunkler Fleck aus.
Ich wende mich ab. In meinen Rachefantasien habe ich mir eine Situation wie diese oft vorgestellt, genüsslich, aber die Wahrheit ist, dass es mir immer noch Übelkeit bereitet, wenn ich zusehen muss, wie Menschen gequält werden. Sogar, wenn sie zu den Karpins gehören. Sogar, wenn es sich um Boris handelt.
Der Mann mit dem Schocker hat die Dosis gut gewählt. Sie ist hoch genug, um Boris einzuschüchtern und zu demütigen, reicht aber nicht, um ihn auszuknocken. Nach ein paar Minuten hört das Zucken auf. Tigran hockt sich neben ihn. »Du hast gelacht, Arschloch. Über Semion, der mein Freund war und den du getötet hast.« Er packt Boris’ Haar und reißt ihm den Kopf so nach hinten, dass er gegen den Balken schlägt. »Sieht schlecht für dich aus.«
So unglaublich es ist, ich habe das Gefühl, dass Boris erst jetzt dämmert, in welcher Situation er sich befindet. Dass das Blatt sich wirklich gewendet haben könnte. Er murmelt etwas, von dem ich nur die Worte »ukral« und »Kokain« verstehe. »Er sagt, Semion hat Kokain gestohlen«, übersetze ich ungefragt.
Tigran nickt, dann schlägt er Boris fest ins Gesicht, zweimal. »Na und? Sie haben meinen Vater getötet, sie haben den Krieg begonnen. Sie haben ein armenisches Mädchen misshandelt und das Shelley niedergebrannt.« Noch ein Schlag, Boris gibt keinen Laut von sich.
»Er soll uns sagen, wo wir Ruzanna finden.« Tigran richtet sich auf. »Dann kommt er vielleicht davon.«
Eine Forderung, die Boris nicht erfüllen kann, und ein Versprechen, das Tigran nicht halten würde. Ihm geht es auch nicht um ein Mädchen, das er gar nicht kennt; ihm geht es um seinen Ruf. Ich räuspere mich. »Gdje Ruzanna?«, frage ich.
Boris’ Blick auf mich ist jetzt voller Hass. »Kenne ich nicht. Keine Ruzanna. Aber du …«
Ganz klar, er lässt mich nicht mehr übersetzen, er weiß, dass ich ihm aus jedem seiner russischen Worte einen Strick drehen werde. »Du Falscher. Pasport.«
»Niemand hat dich nach Nadja gefragt«, herrscht Tigran ihn an. »Aber stimmt, sie hat dich in die Falle gelockt. Ganz schön lächerlich, oder? Lässt dich von einer Nutte reinlegen.«
Die Männer im Weinkeller lachen los wie auf ein unsichtbares Zeichen hin. Keiner von ihnen hat verstanden, was Boris eigentlich sagen wollte. Dass ich Fälscherin bin, dass er nicht als Einziger reingelegt wird. Er stemmt sich erneut gegen das Gaffertape, versucht, sich vom Balken zu lösen. »Lügt!«, zischt er. »Nicht Nadja.«
Blitzschnell hockt Tigran wieder bei ihm, packt sein Kinn, zwingt ihn, ihm in die Augen zu sehen. »Wir suchen Ruzanna«, schreit er ihm ins Gesicht. »Das Mädchen aus Stepanawan, dem ihr ein Ohr abgeschnitten habt. Sie hat Fieber bekommen, sagt Nadja, wir waren in der Straße, bei dem Haus, in dem ihr sie versteckt habt, aber dort haben wir nur eine einzige Frau geschnappt. Eine von euch. Sie hat gesagt, ihr habt die Mädchen alle weggebracht.« Er drückt Boris’ Kiefer zusammen, so wie er es im Shelley bei mir gemacht hat. »Wohin? Wo steckt Ruzanna? Oder ist sie schon tot?«
Boris ächzt, und ich muss die neue Information erst mal verdauen. Als sie vor dem Haus auf Vera gestoßen sind, hat die Ruzannas Existenz nicht abgestritten, sondern einfach gelogen. Sich dumm und unschuldig gestellt. Hat ihr aber am Ende auch nichts genutzt.
»Keine Ruzanna«, presst Boris hervor, und Tigran gibt einem seiner Männer einen Wink. Dann dreht er sich zu mir herum. »Womit haben sie Ruzannas Ohr abgeschnitten?«
Ich schlucke. »Küchenmesser.«
»Ach, schade. So eines haben wir gerade nicht hier. Aber wir finden sicher Ersatz.«
Der Mann, dem er das Zeichen gegeben hat, öffnet eine Art Werkzeugtasche, und Tigran holt nacheinander eine Säge, eine Heckenschere und eine große Kneifzange heraus. Hält jeden der Gegenstände Boris kurz entgegen. »Was sollen wir für dein Ohr nehmen, hm? Such es dir aus.«
Boris flucht, spuckt aus, wehrt sich heftiger gegen seine Fesseln. »Ty poschalejesch ob etom«, knurrt er. Das wird dir noch leidtun . Ob er mich damit meint oder Tigran, weiß ich nicht, aber der Satz legt in mir einen Schalter um, denn er ist schon in anderen Zusammenhängen gefallen, als Boris derjenige mit der Zange war. Oder dem Schneidbrenner. Oder dem Drillbohrer.
»Er hat gesagt, er will Gartenschere«, erkläre ich Tigran.
Wieder lacht der ganze Keller, ausgenommen Boris, der einen Wutschrei ausstößt.
»Das hast du jetzt erfunden, oder? Aber ich mag deinen Sinn für Humor.« Tigran lässt die Schere zwei-, dreimal zuschnappen. »Möchtest du gern selbst? Wenn du eine Rechnung mit ihm offen hast, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, sie zu begleichen.«
Und ob ich eine Rechnung habe. Sie ist lang, und sie ist hoch. Aber ich schüttle den Kopf. »Nein. Da wird mir schlecht.«
Tigran lächelt verständnisvoll. »Alles klar. Ashot?«
Ein kräftiger Mann mit tätowierter Glatze tritt hervor und greift nach der Schere. Stellt sich breitbeinig vor Boris auf. »Rechts? Oder links?«
Tigran stupst mich an. »Welches Ohr war es bei Ruzanna?«
»Links«, wispere ich und ducke mich unwillkürlich, als Boris mir neue Flüche entgegenbrüllt. »Lügt!«, stößt er dazwischen immer wieder hervor, während er gleichzeitig versucht, den Kopf so zu drehen, dass Ashot nicht an sein linkes Ohr kommen kann.
Gelächter im Weinkeller, und ich merke, dass mir übel wird, noch bevor es losgeht. Ashot hat Boris’ Kopf bei den Haaren gepackt, er versucht zweimal, die Gartenschere anzusetzen, aber sein Opfer kämpft wie wild. Seelenruhig winkt er einen seiner Kumpane dazu, der den Kopf mit beiden Händen festhält.
Ich wende mich ab, starre zur Wand, denke an einen Wasserfall, der in der Sonne funkelt, während Boris hinter mir schreit. Erst aus Wut und Angst, dann aus Schmerz. Er brüllt wie ein Tier, die Männer lachen.
»So«, höre ich Tigran kurz darauf sagen, »erinnerst du dich jetzt an Ruzanna?«
Keine Antwort. Vorsichtig drehe ich den Kopf, sehe Boris’ blutüberströmtes Shirt, sehe, wie immer noch Blut in diesen Bart läuft, den Andrei so missbilligen würde. Wie die Dinge stehen, wird er ihn nicht zu Gesicht bekommen.
Tigran legt mir eine Hand auf die Schulter. »Sag ihm, er soll vernünftig sein, sonst fallen uns noch eine Menge anderer Dinge ein, die wir abschneiden könnten.«
Ich schüttle stumm den Kopf, ich kann mir jetzt kein Pseudorussisch aus dem Ärmel schütteln, ich fühle mich wie in die Vergangenheit zurückkatapultiert. Anders als Andrei, der mich jetzt hätte verprügeln lassen, zuckt Tigran nur mit den Schultern. Er geht hinüber zu Boris, pickt mit spitzen Fingern das abgeschnittene Ohr aus der Blutlache und hält es Boris vors Gesicht. »Ruzanna«, sagt er langsam und überdeutlich. »Wo ist sie?«
»Gibt nicht Ruzanna«, würgt Boris hervor. »Ist Lüge.«
Tigrans Seufzen könnte Missmut ebenso wie Mitleid bedeuten. »Warum tust du dir das an, Idiot? Nadja hat Ruzanna gekannt. Die Frau in der Schwanheimer Straße auch. Sie haben gesagt, du hast auf sie aufgepasst. Also. Was ist mit ihr?«
Boris tut, als hätte er nichts davon gehört. Er lässt das Kinn auf die Brust sinken, aber sofort reißt Ashot seinen Kopf an den Haaren wieder hoch.
»Ist sie tot?«, fragt Tigran wie beiläufig. »Sagst du deshalb nichts?«
»Lüge«, gurgelt Boris hervor. »Mädchen von Ukraine. Nicht Armenia. Gesund. Alle.«
Er spricht von den Mädchen im Hotel, vermute ich. Ashot versetzt ihm einen Schlag mit der flachen Hand, direkt dorthin, wo bis vor Kurzem noch das Ohr war, und wieder schreit Boris auf. Tigran nickt, und Ashot lässt die Gartenschere dreimal auf- und zuschnappen.
»Ich muss raus«, wispere ich. »Tut mir leid.«
Halb und halb rechne ich damit, dass Tigran mich aufhalten wird. Aber er winkt nur einen der anderen Männer herbei, der mich hinausbegleiten soll. Und natürlich aufpassen, dass ich nicht abhaue.
Mein Wächter ist jung, trägt einen dunklen Kinnbart und macht kein Hehl aus seiner Enttäuschung darüber, dass er die Show nicht weiterverfolgen kann. Missmutig zündet er sich eine Zigarette an, während ich mich auf einen Stein setze und die kühle Nachtluft einatme. Die Tür zum Weinkeller ist beinahe schalldicht, trotzdem höre ich immer wieder Schreie aus dem Inneren. Gedämpft, aber um nichts weniger entsetzlich.
Es dauert. Ich denke an dich und dass es fair ist, was passiert. Dass ich bloß gerne nicht dabei gewesen wäre. Dass Boris ein sadistischer Unmensch ist, der nun seine eigene Medizin verabreicht bekommt. Zum ersten und ziemlich sicher zum letzten Mal.
Irgendwann wird mein Bewacher von einem anderen abgelöst, der offenbar auch gerne rauchen möchte. Er ist bullig, um die vierzig, und als er sich neben mich stellt und wortlos seinen Hosenschlitz öffnet, überkommt mich kurz Panik. Doch er pisst nur knapp an mir vorbei in die Weinstöcke.
Etwa eineinhalb Stunden später springt die Tür zum Keller erneut auf, und Tigran tritt heraus. Er fährt sich durchs Haar, atmet tief durch und mustert mich mit überaus nachdenklichem Blick. »Willst du auf Wiedersehen sagen?«
Wollen ist das falsche Wort. Ich will absolut nicht sehen, was sie aus Boris gemacht haben, und mir vorstellen müssen, wie sie es gemacht haben. Aber ich würde mich gerne vergewissern, dass er tot ist. Also nicke ich.
Der Geruch im Keller ist schlimmer geworden. Gegrilltes Fleisch, Blut, entleerter Darm. Boris ist bewusstlos oder tot, das Kinn liegt auf der Brust, er sitzt in einem kleinen See von Blut, mit nacktem Unterkörper. Ich sehe nicht genau hin, will keine Details, will nur wissen, ob es vorbei ist.
Tigran nimmt von einem seiner Untergebenen eine Pistole entgegen. Prüft, ob sie geladen ist, und hält sie mir hin, in einer beinahe galanten Geste. »Möchtest du?«
Es wäre ein passender Abschluss. Wenn ich persönlich Boris die Kugel in den Kopf jage, werde ich sicher sein können, dass er wirklich tot ist. Dass er mir nie wieder begegnen kann. Ich würde den Schlusspunkt selbst setzen.
»Nein«, presse ich hervor.
»Dachte ich mir.« Tigran gibt seinem Mann die Waffe zurück, der tritt ohne große Zeremonie an Boris heran, setzt die Pistole im Nacken an und drückt zweimal ab.
»Du kannst jetzt nach Hause fahren.« Tigran schiebt mich zur Tür hinaus. »Danke für deine … Lieferung. Ich habe dir Schutz versprochen, den sollst du haben. Wenn du einen Unterschlupf brauchst, rufe die gleiche Nummer an wie vorhin. Dann schicke ich dir jemanden.« Ich nicke matt und will gehen, da hält er mich am Arm zurück. »Du hast diesen Ort nie gesehen, egal, wer danach fragen sollte.« Ein bedeutungsvoller Blick zum Weinkeller hin, aber ich hätte auch so verstanden. Sollte ich versuchen, ihnen Schwierigkeiten zu machen, hätten die Malakyans keine Hemmungen, mir eine ähnliche Behandlung wie Boris angedeihen zu lassen.
Ich setze mich hinters Steuer, meine Hände fühlen sich taub an, ich muss den Zündschlüssel zweimal am Schloss ansetzen, bis ich treffe. Dann fahre ich los, völlig ziellos – Hauptsache fort –, bis ich ein Dorf erreiche und auf einem Supermarktparkplatz anhalte. Dort gebe ich meine Adresse ins Navi ein. Eine Stunde fünf Minuten bis in die Mailänder Straße.
Ich kann mir nicht vorstellen, heute Nacht noch zu schlafen, also ist die lange Fahrt mir willkommen. Boris ist tot, sage ich mir immer wieder vor, während ich in Richtung Autobahn fahre. Er ist wirklich tot. Am Nachmittag hat er noch in der Spielhalle gewonnen, jetzt ist er tot. So schnell kann es gehen, auch wenn schnell in seinem Fall sicher das falsche Wort ist.
Ob es in dem Keller nur Weinfässer gibt? Oder auch solche mit Natronlauge? Egal, wahrscheinlich endet Boris in der Schrottpresse der Autoverwertung und anschließend in einem abgelegenen Abschnitt des Mains. Wenn er niemandem anvertraut hat, dass er den Nachmittag in der Spielhalle verbringt, werden die Karpins seine Spur nur schwer verfolgen können. Aber sie müssen sich längst fragen, wo er steckt …
Und natürlich werden sie ihn nicht erreicht haben. Meine Hand fährt in die rechte Jackentasche und umschließt Boris’ Handy, das ich vollkommen vergessen habe. Ich ziehe es heraus. Der Flugmodus ist aktiviert. Klar, Boris wollte nicht beim Spielen gestört werden. Der Akku ist noch etwa zur Hälfte geladen.
Ich starre auf das Display, das sich nach einigen Sekunden wieder verdunkelt. Stelle mir die Menge von unbezahlbaren Informationen vor, die ich darauf finden würde – wenn ich es entsperren könnte. Die Telefonnummern, die Nachrichten, die Fotos.
Behutsam stecke ich das Gerät zurück in die Jackentasche. Es ist, als hätte ich eine Schatztruhe gehoben, zu der ich nun bloß noch den Schlüssel finden muss.
Die Stunde Fahrtzeit bis nach Hause verbringe ich voller Ungeduld, ich will an meinen Computer, um nach Möglichkeiten zu googeln, wie man am besten ein fremdes Handy entsperrt. Ich werde nicht schlafen, nicht von Boris’ blutüberströmtem Körper träumen, sondern meinen nächsten Schachzug planen.
Die Erschöpfung lässt mich auf dem Weg vom Parkplatz zum Haus zweimal stolpern, aber das ist nichts, was ein doppelter Espresso nicht in Ordnung bringen könnte.
Boris ist tot, denke ich, als ich in den Fahrstuhl steige. Boris ist tot, und ich habe sein Handy.
Das Schloss der Wohnungstür treffe ich trotz Müdigkeit auf Anhieb. Gähnend schließe ich die Tür hinter mir, drehe mich um, und mit einem Schlag ist alles, was ich eben noch vorhatte, vergessen. Es ist, als wäre mein Kopf leer gefegt, als wäre ich in einem Paralleluniversum gelandet, in dem nichts mehr Sinn ergibt.
Auf dem Stuhl vor meinem Arbeitstisch, das Gesicht schwach beleuchtet vom Monitor des Computers, sitzt Vera.