D er nächste Morgen bringt seit Langem wieder einmal Regen. Ich stehe unter einem Baum nahe dem Grab, das wir als Treffpunkt vereinbart haben, und zähle die Minuten bis acht Uhr.
Ein Paar geht mit seinem Hund spazieren, sonst ist der Friedhof noch menschenleer. Ich habe die falschen Zähne im Mund und die Kapuze meiner waldgrünen Regenjacke möglichst weit ins Gesicht gezogen. Max Pruss’ dunkler Marmorgrabstein glänzt nass.
Es ist Punkt acht, als eine kleine, schmale Gestalt auf den Weg einbiegt. Sie zögert kurz, als sie mich sieht, strafft sich dann aber und geht weiter. Erst als die Entfernung zwischen uns kaum noch fünf Schritte beträgt, sehe ich, dass es ein Mann ist, der auf mich zukommt. Er ist höchstens einen Meter sechzig groß und so schlank wie ein Jockey. »Kuchen«, sagt er anstelle einer Begrüßung. »Richtig?«
»Richtig. Sie haben ihn hier?«
»Jaja.« Er zieht ein Gesicht, als müsse er sich erbrechen, greift in seine Jacke und holt ein großes, gepolstertes Kuvert heraus. »Die nächsten drei Monate will ich keinen von euch sehen oder hören. Besonders nicht den Blonden, der denkt, er kann dann auch noch gratis bei uns spielen.«
Spielen. Ich horche auf. »Der mit dem hellen Bart? Und dem slawischen Akzent?«
Der Mann macht eine Bewegung, als wolle er den Umschlag wieder zurück unter seine Jacke schieben. »Ja sicher, welcher sonst. Weiß bei euch eine Hand nicht, was die andere tut?«
»Doch, natürlich«, sage ich rasch. »Ich wusste nur nicht, dass er mehr verlangt als vereinbart. Du wirst ihn nicht mehr sehen, versprochen.« Ich nehme das Kuvert an mich, werfe einen schnellen Blick hinein. Hunderter, Fünfziger, Zwanziger. Eine Menge davon.
»Willst du nachzählen?«
»Nein. Es wird schon stimmen.«
Der kleine Mann mustert mich mit wachsendem Misstrauen. »Es ist genau die besprochene Summe. Dafür lasst ihr uns in Ruhe und macht die Glücksgrube fertig.«
»Wir … ja klar«, bestätige ich, ohne zu kapieren, was er meint. »Genau wie besprochen.«
Er richtet den Zeigefinger auf mich, als wolle er mich damit aufspießen. »Geschäft ist Geschäft«, zischt er. »Ihr werdet euch nicht rauswinden. Wir haben immer noch drei von euren Nichten bei uns wohnen, die sollen wir doch gut behandeln, nicht wahr?«
»Ni… ach, diese Nichten!« Ich lächle verkrampft. »Verstehe, aber mit denen habe ich nichts zu tun. Ich bin nur Briefträgerin.« So wie zuvor er stopfe jetzt ich den Umschlag unter meine Jacke. Der Regen wird stärker, der Mann fährt sich durchs nasse Haar. »Keine Tricks«, sagt er noch und geht.
Es sind dreizehntausend Euro, wir zählen sie auf dem Bett, machen kleine Häufchen aus grünen, braunen und blauen Scheinen. Vera kriegt ihr Grinsen überhaupt nicht mehr aus dem Gesicht. »Und heute Abend noch mal«, sagt sie.
»Wie bitte?«
»Na, noch ein Spielsalon. Bei zwei von Jaros Neukunden stehen Zahlungen aus, die holen wir uns genauso!«
Spielsalons, darauf hätte ich früher kommen können. Deshalb hat Vera Boris beim Geldeintreiben abgelöst. »Sagt dir der Begriff Glücksgrube etwas?«
Sie blickt auf, ein Bündel Fünfziger in der Hand. »Ja. Fest in der Hand der Italiener. Vorne Spielhölle, hinten Puff.«
»Offenbar hast du versprochen, denen die Suppe zu versalzen.«
Sie zuckt die Schultern. »Nicht ich, Jaro. Nicht mein Problem, seines.«
Ich bin dabei, als sie per Mail den Termin für heute Abend vereinbart. Zehn Uhr, aber der Betreiber weigert sich, einen Vorschlag für den Übergabeort anzunehmen. Er besteht auf seinen eigenen vier Wänden, einer gehobeneren Spielhalle mit Bar nahe der Messe.
So wie bisher immer , schreibt er. Es gibt keinen Grund, die Vorgehensweise zu ändern. Wenn ihr den Kuchen wollt, müsst ihr ihn abholen .
»Na, auch gut«, konstatiert Vera. »Dein Friedhof wäre um die Uhrzeit sowieso schon geschlossen. Aber das Lokal ist leicht zu erreichen, wirst sehen, und die Straße ist nachts ungefährlich. Ich war zweimal dort, einmal war Boris dabei, und ich sollte ihm auf die Finger schauen. Er war früher regelmäßig der beste Kunde an den Automaten, aber Jaro hat ihm Prügel angedroht, falls er wieder zu spielen beginnen sollte. Ich denke nicht, dass du ihm begegnen wirst.«
Nein, das denke ich auch nicht. Ich schiebe die Erinnerung an die Schreie und das blassrosa Stück Fleisch in der Blutlache von mir und betrachte die gestapelten Geldscheine.
Ich werde mir für heute Abend ein paar zusätzliche Requisiten zulegen, zwecks Tarnung. Eine neue Perücke zum Beispiel. »Gute Idee«, sagt Vera auf meine Ankündigung hin. »Und mir bring ein Notebook mit. Ich will ein eigenes, muss nicht viel können, aber nachdem du so pingelig mit deinem Rechner bist … Ich möchte ins Netz können, wann immer ich will.«
Ist mir nur recht. Ich greife beherzt in den Hunderter-Stapel, ergänze ihn durch ein paar Zwanziger und mache mich auf den Weg. Drei Stunden später bin ich wieder zurück, um eine rotblonde Kurzhaarperücke, ein neues Set leicht vorstehender Zähne, ein kurzes Jeanskleid und ein mittelpreisiges Notebook reicher.
Vera nimmt alles zufrieden zur Kenntnis. Als ich mich mit den frisch erworbenen Sachen verkleidet habe – Marke Boho-Studentin, mit Sneakers zum Kleid und voluminösem Halstuch –, hebt sie anerkennend die Augenbrauen. »Ziemlich gut. Schmink dir noch den Mund kleiner und das Gesicht blasser.« Sie legt den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung schief. »Ich würde dich trotzdem wiedererkennen, aber ich bin die Ausnahme. Die meisten Leute haben keine Augen im Kopf.«
Ich bin zehn Minuten zu früh dran, mit Absicht, ich will erst noch die Umgebung checken. Mögliche Fluchtwege finden – im Notfall würde ich in das schräg gegenüberliegende Lokal rennen. Ein Steakhaus, das ich in weniger als zwanzig Sekunden erreichen kann, wenn man mir in dem Spielsalon Schwierigkeiten machen sollte.
Soweit ich es durch die dunklen Scheiben sehen kann, ist niemand anwesend, den ich kenne. Keiner von den Karpins, der den verschwundenen Boris sucht. Keiner der mir bekannten Malakyans.
Trotzdem rechne ich nicht damit, dass es wieder so reibungslos laufen wird wie heute Morgen. Ich wirke zu harmlos, um als Schutzgelderpresserin ernst genommen zu werden, und noch dazu tauche ich alleine auf. Bei meiner Ankunft soll ich mich bei Rudi melden, das hat Vera mit ihm verabredet. Rudi steht angeblich hinter der Bar, doch als ich eintrete, befinden sich dort nur drei hübsche, langhaarige Mädchen in hellgrünen Glitzertops. Ich nähere mich ihnen langsam und vorsichtig, erhasche dabei einen kurzen Blick auf mich selbst in einer der verspiegelten Säulen und erkenne mich nur an meinem Kleid. Ich sehe aus wie eine Junglehrerin, die Angst hat, zum ersten Mal ihre Klasse zu betreten.
»Rudi«, murmle ich, als ich vor der Bar stehe. »Ist Rudi da?«
Eine der drei Frauen, deren blauschwarz glänzendes Haar ihr fast bis zum Hintern fällt, senkt die metallisch goldenen Lider. »Der ist im Keller. Kommt gleich.«
Ich drücke mich in eine Ecke und warte. Niemand beachtet mich, die Gäste sind entweder mit ihrem Spielautomaten oder ihren Getränken beschäftigt. Es klingelt, rasselt, piepst durcheinander; aus den Boxen an der Wand schallt Lana Del Reys rauchige Stimme. Sie singt Born to die , was dem Lokal unpassend viel Klasse verleiht und mir das Gefühl vermittelt, man hätte es nur für mich auf die Playlist gesetzt, als wohlklingende Drohung.
Der Mann, der ein paar Minuten später hinter der Bar auftaucht, ist groß und voluminös; das Auffälligste an ihm ist sein Schnurrbart – dicht und dunkelrot, die Farbe ähnelt der meiner Lehrerinnen-Perücke. Sein Hemd glitzert ebenso grün wie das der Bardamen, von denen eine ihm etwas ins Ohr raunt und in meine Richtung deutet.
Voll sichtbaren Widerwillens kommt der Mann auf mich zu. Ich lächle so selbstbewusst wie möglich. »Rudi?«
Er nickt. »Du bist wegen des Kuchens hier?«
»Genau.«
Er blickt sich um. »Wo sind die anderen?«
»Warten draußen.« Die neue Zahnattrappe lässt mich lispeln. »Niemand von uns will Aufsehen erregen, oder?«
Er mustert mich düster. »Ich hätte aber ein paar Fragen. Ihr wollt Geld, nur mit der Gegenleistung sieht es mager aus. Vor drei Tagen hat jemand eine Kiste Whiskey aus unserem Lager geklaut, und es gibt regelmäßig Einbruchsversuche am Haupteingang. Da rettet nicht ihr uns, sondern die Alarmanlage. Wofür sollen wir zahlen?«
»Dafür, dass es nicht viel schlimmer kommt«, sage ich schnell. Senke die Stimme. »Du weißt, wie es im Shelley gelaufen ist? Geklauter Whiskey, mach dich nicht lächerlich.« Unnachgiebigkeit und Arroganz sind meine einzige Chance, Rudi kauft mir sonst nicht ab, dass draußen die Verstärkung wartet. Er beißt die Zähne zusammen, ich kann die Kiefermuskeln arbeiten sehen. »Drecksbande.«
»Ich verstehe, dass du sauer bist, und ich bin auch gleich wieder weg. Sobald ich den Kuchen habe.« Lässig verschränke ich die Arme vor der Brust, nach außen hin, um Gelassenheit zu demonstrieren, in Wahrheit, damit man mein heftiges Herzklopfen nicht sieht.
Mit einem unverständlichen Fluch dreht Rudi sich um und marschiert nach hinten, wo sich vermutlich Lager und Büro befinden. Wenig später kehrt er mit einer kleinen Papiertüte zurück. »Da.« Er drückt sie mir in die Hand. »Ich habe dreitausend abgezogen. Für den Whiskey und für die Kratzer am Schloss.«
Ich luge in die Tüte hinein, will sichergehen, dass er mir nicht nur leeres Papier mitgibt. Aber es sind Geldscheine, die sich richtig anfühlen und den typischen Banknotenduft verströmen. »Ich werde das meinem Chef bestellen. Glaube aber nicht, dass er einverstanden sein wird, wenn du dir selbst Rabatt gibst.«
Der dunkelrote Schnurrbart hebt sich, als Rudi die Zähne fletscht. »Dann soll er persönlich vorbeikommen, ich überzeuge ihn gerne.«
Ich lächle. »Wie du meinst.«
Rudi sieht aus, als würde er mir gerne vor die Füße spucken, oder ins Gesicht, doch nach ein paar Sekunden dreht er sich brüsk um und verschwindet wieder in den hinteren Räumlichkeiten. Ich sauge Luft in meine Lungen, es fühlt sich an, als hätte ich die letzten zehn Minuten kein einziges Mal geatmet. Als würden die Wände immer näher rücken oder mein Brustkorb sich mehr und mehr verengen. Raus hier, zurück auf die Straße, bevor mir wirklich schlecht wird.
Fast habe ich den Ausgang erreicht, als ich sie kommen sehe. Eine junge Frau im kleinen Schwarzen und einer kurzen, hellen Lederjacke darüber, das blonde Haar zu einem Zopf geflochten, der ihr über die linke Schulter fällt. Sie würde mir nur vage bekannt vorkommen, zumindest könnte ich mir nicht sicher sein, dass ich sie tatsächlich erkannt habe, wäre da nicht ihr Begleiter. Sein Gesicht hat sich mir unauslöschlich eingeprägt.
Alex. Bartlos, in schicken Jeans, Hemd und einem sportlichen Sakko. Er öffnet die Tür zur Spielhalle und lässt Janina eintreten.
Ich stehe hinter der Spiegelsäule, die dem Eingang am nächsten ist, habe mein Handy herausgeholt und tue so, als wäre ich gerade mit Tippen beschäftigt. Mit gesenktem Kopf warte ich, dass die beiden weitergehen, damit ich schnellstmöglich nach draußen verschwinden kann. An ihnen vorbei wage ich mich nicht, trotz Verkleidung. Für Alex war ich über Wochen hinweg der einzige menschliche Kontakt – meine Züge müssen so fest in seiner Erinnerung verankert sein, dass er seine Kerkermeisterin trotz aller Tarnung erkennen könnte.
Sie sind stehen geblieben, unangenehm nahe bei mir, und im ersten Moment denke ich, es ist tatsächlich meinetwegen, aber sie führen nur ein kurzes Gespräch. »Ganz locker«, höre ich Janina sagen. »Du erklärst ihm, dass du der neue Controller bist, richtest Grüße aus und nimmst den Umschlag. Wenn die Stimmung gut ist, trinken wir noch einen Prosecco, bevor wir gehen, sonst sind wir gleich wieder fort.«
»Ich fühle mich nicht wohl dabei.« Alex’ Stimme. »Wieso überhaupt Controller? Wofür soll das Geld sein?«
Janina seufzt. »Habe ich dir doch gesagt. Jaro hat ihm eine ziemliche Summe geborgt. Er zahlt es bloß zurück. Was du immer hast.«
Mir ist heiß geworden, ich presse mich enger gegen die Säule. Was gerade passiert, ist echtes Pech, und gleichzeitig hatte ich mehr Glück, als ich verdiene: Janina und Alex sind gekommen, um das Schutzgeld zu holen, das ich bereits in der Tasche habe. Klar, die Aufgaben müssen neu verteilt worden sein: Vera, die bisher den Kontakt gehalten hat, ist offiziell tot. Boris, der davor zuständig war, ist tatsächlich tot, bloß weiß das noch niemand. Also übernehmen Janina und Alex. Letzterer nur unfreiwillig, wie es scheint.
Wären sie fünf Minuten früher aufgetaucht, hätten sie mich im Gespräch mit Rudi vorgefunden. Eine Minute später, und sie wären am Eingang in mich hineingelaufen. Mir ist übel.
Alex hat sich jetzt offenbar breitschlagen lassen; er tappt auf die Bar zu und spricht eine der Frauen im Glitzershirt an. Janina bleibt leider nahe dem Eingang stehen. Sie lässt Alex nicht aus den Augen, will wahrscheinlich beobachten, wie er sich anstellt. Sie versperrt mir den Weg zur Tür.
In meiner Verkleidung würde sie mich kaum erkennen, wir haben uns nie gegenübergestanden, trotzdem wage ich es nicht, mich an ihr vorbeizudrücken, denn Alex blickt sich immer wieder zu ihr um, und er darf mich auf keinen Fall zu Gesicht bekommen.
Schweiß rinnt mir unter der Perücke hervor, bahnt sich einen Weg in den Nacken und läuft in den Kragen meines Jeanskleids. Ich versuche, eine Position zu finden, in der ich alle im Auge behalten kann, ohne selbst gesehen zu werden. Chancenlos. Hier hinter der Säule werde ich aber auch bald auffallen, also mache ich drei schnelle Schritte zum nächsten freien Spielautomaten. Werfe mit klammen Fingern zwei Euro ein und drücke auf Start – als einzige Person im Raum mit dem brennenden Wunsch, bitte, bitte nicht zu gewinnen.
Jetzt eben ist Rudi zurückgekommen. Er hört sich an, was Alex zu sagen hat, und bricht dann in Gelächter aus, das allerdings nur kurz währt. Erst denke ich, er will Alex am Kragen packen, doch er hält ihm nur den Zeigefinger bis knapp vor die Nase, während er auf ihn einredet. Sie stehen zu weit weg, als dass ich hören könnte, was er sagt, aber ich kann den Inhalt erahnen. Ob sie ihn für blöd halten. Ob sie ihn verarschen wollen. Eben erst war doch jemand hier, um das Geld einzutreiben. Wer? Eine kurzhaarige, rotblonde Frau in einem blauen Kleid. Blass, mit vorstehenden Zähnen. Sie müsste ihnen eigentlich begegnet sein. Dass er zweimal zahlt, können sie sich abschminken.
Ich sehe Alex mehrmals den Kopf schütteln und sich wieder hilfesuchend zu Janina umblicken, während Rudi sich immer mehr in Rage redet. Die meiste Zeit bleibe ich hinter meinem Automaten in Deckung und beschwöre das Schicksal, die beiden einfach wieder abhauen zu lassen.
Es dauert gut fünf Minuten, bis es Janina zu bunt wird. Sichtlich unwillig stöckelt sie zur Bar, schiebt Alex ein Stück zur Seite und übernimmt die Verhandlungen.
Jetzt oder nie. Es sind höchstens zehn Schritte bis zur Tür, und ich versuche, so unsichtbar wie möglich zu sein. Weder zu schnell zu gehen noch zu langsam. Vier Schritte noch. Drei.
»Hey!« Der Schrei übertönt Musik und Automatengeräusche gleichermaßen. »Das ist sie!«
Ich drehe mich nicht um, sondern reiße die Tür auf und renne. Ohne Plan, einfach nur irgendwohin, so schnell mich meine Füße tragen. Noch bevor ich um die nächste Ecke gebogen bin, höre ich hinter mir ebenfalls Laufschritte, und kurz darauf eine Stimme. »Stehen bleiben! Bleib stehen, verdammt!«
Ich denke nicht daran, und ich werde mich auch nicht umdrehen, denn ich kenne die Stimme; es ist Alex, der mich verfolgt. Sehr wahrscheinlich alleine, denn Janina hätte keine Chance in ihren Pumps.
Die nächste Straße rechts rein. Ich bin zu schnell losgestartet, ich merke schon jetzt, wie Seitenstechen sich anbahnt; es lässt sich absehen, dass mir in wenigen Minuten die Luft ausgehen wird.
Alex kommt näher, dessen bin ich mir sicher. Ich höre ihn keuchen, zwischendurch ruft er mir immer wieder hinterher, ich soll stehen bleiben, und so, wie es sich anfühlt, wird mir sehr bald nichts anderes mehr übrig bleiben.
Ein schneller Schwenk nach links, über die Straße, knapp vor einem Golf, der in letzter Sekunde bremst; der Fahrer hupt wütend. Alex flucht, aber es hört sich nun an, als wäre er weiter entfernt als zuletzt. Der Verkehr muss ihn ausgebremst haben.
Ich laufe die nächste Gasse rechts, hier geht es ein wenig bergab, das macht es einfacher. Und da vorne ist eine U-Bahn-Station.
Mein Atem geht rasselnd, mein Kreislauf wird die Überforderung nicht mehr lange mitmachen. Die Laufschritte sind jetzt wieder knapp hinter mir, sehr knapp, und plötzlich fühle ich eine Hand auf der Schulter. Ich reiße mich los, aber ich habe kaum fünf Meter zurückgelegt, als die Hand wieder zupackt. Fester diesmal.
Ich denke nicht lange nach, lege einen Arm vor Mund und Nase, um mein Gesicht zu verbergen, dann schnelle ich herum und reiße ein Knie nach oben. Der Tritt sitzt beim ersten Mal. Alex jault auf, krümmt sich, beide Hände in den Schritt gepresst, und ich renne weiter. Er kann mich nicht erkannt haben, sage ich mir, während ich auf die Station zusteuere. Kann. Er. Nicht.
Eine lachende Dreiergruppe kommt mir entgegen, alles Männer Mitte zwanzig. »Bisschen spät fürs Joggen«, grölt einer. »Und total falsches Outfit!«, der Zweite. Er will mir übers Haar streichen, als ich an ihnen vorbeikomme, und vor lauter Angst, er könnte meine Perücke herunterreißen, schlage ich seine Hand beiseite.
»Eyyyy«, murrt er. »Zicke!«
Die Idee ist plötzlich da, und ich überprüfe sie nicht lange. »Lasst mich! Da hinten ist ein Typ, der wollte mir an die Wäsche«, keuche ich. »Ich hab ihn getreten und bin weg, aber er ist noch immer hinter mir her …«
Die drei blicken sich um, und ich mache mich davon. So wie ich es einschätze, sind sie auf irgendeine Form von Erlebnis aus, das ihren Abend unterhaltsamer macht. Entweder selbst Frauen belästigen – oder andere Frauenbelästiger aufmischen. Ob sie ihn verprügeln oder bloß ein bisschen rumschubsen, sie werden ihn aufhalten. Ich verlangsame mein Tempo, drücke mit der Hand gegen die schmerzende Seite und versuche, ruhiger zu atmen. Da, endlich, ist der Abgang zur U-Bahn. Unten angekommen wage ich erstmals einen Blick zurück. Kein Alex. Auch sonst niemand, der mich verfolgt hätte. Trotzdem stellt die Erleichterung sich erst ein, als ich im Waggon sitze und die Türen sich schließen. Keine Ahnung, wohin der Zug fährt, aber er fährt. Orientieren kann ich mich später immer noch.
Es ist nach Mitternacht, als ich den Schlüssel in die Wohnungstüre stecke. Vera sitzt auf dem Bett, das Gesicht bläulich erleuchtet vom Display ihres neuen Notebooks. Sie schiebt es sofort zur Seite und springt auf. »Das hat lange gedauert! Hast du die Kohle?«
»Ja.« Ich fühle mich so erschöpft, dass ich mich eigentlich nur auf die Couch werfen möchte, aber Veras unbeschwerte Fröhlichkeit weckt nicht nur Wut in mir, sondern gibt mir neue Energie. Sie hat leicht lachen, sie musste nur hier sitzen und darauf warten, dass ich ihr alles frei Haus liefere, kaum dass sie mit den Fingern schnippt. Geld, Computer – und Essen, der Kühlschrank ist schon wieder so gut wie leer.
Sie streckt die Hand aus. »Hast du nachgezählt?«
»Nein. Dazu bin ich leider nicht gekommen, ich war nämlich nicht die Einzige, die Geld eintreiben wollte. Ich bin beinahe in Janina und Alex hineingelaufen.«
»Oh!« Ihr Lächeln flackert einmal unschlüssig auf, bevor es in sich zusammenfällt. »Haben sie dich gesehen?«
»Gesehen ja. Erkannt nicht, hoffe ich, aber Alex ist mir nachgerannt, bis ich ihm in die Eier getreten habe. Wenn du denkst, dass ich nur die Drecksarbeit mache und dir anschließend das ganze Geld vor die Füße lege, hast du dich geschnitten.«
Sie tut, als hätte sie den letzten Satz nicht gehört. »Haben sie nervös gewirkt? Janina und Alex? Wie war dein Eindruck?«
»Nervös? Nur Alex, der wusste überhaupt nicht, was sie von ihm will. Janina war eher … genervt. Ungeduldig.«
»Verstehe. Wie gut, dass wir heute schon mit dem Kassieren begonnen haben.« Vera faltet die Beine im Schneidersitz und schaukelt sachte vor und zurück. »Alex hat die wüstesten Geschichten über dich erzählt. Wie gefährlich du bist und dass du ihn beinahe erschossen hättest. Dass er für Janina sein Leben riskiert hat und fast verhungert wäre. Er hat uns gezeigt, wo die Handschellen ihm die Haut aufgeritzt haben. Hätte beinahe Narben gegeben.« Sie lacht. »Du Monster!«
Ich bin zu erledigt und zu sauer, um mich von ihrer guten Stimmung anstecken zu lassen. Wortlos sinke ich auf die Couch, ziehe mir die falschen Zähne von den eigenen und hole das Kuvert aus der Innentasche meiner Jacke.
Zwölftausend. Und das, obwohl Rudi angeblich dreitausend abgezogen hat, wegen enttäuschender Arbeit der Karpins. Fürs Erste sind meine Geldsorgen also Geschichte.
»Wir teilen«, höre ich Vera vom Bett her sagen. »Du willst mich doch irgendwann wieder loswerden, nicht wahr?«
Als Nächstes lege ich die Perücke ab, reibe mir über den verschwitzten Kopf. Sie werden nach der rotblonden Geldeintreiberin mit dem Pferdegebiss suchen. Der Spielhallenbetreiber, den ich auf dem Südfriedhof getroffen habe, wird mein Äußeres ein wenig anders schildern – die Zähne waren nicht so auffällig.
»Nicht wahr?«, beharrt Vera, schärfer jetzt.
»Ja, sicher«, gebe ich mit matter Stimme zurück. Am liebsten würde ich einfach zur Seite sinken und einschlafen, aber ich muss noch den Door-Jammer unter dem Türspalt anbringen. Und nachdem ich mich schon mal aufgerafft habe, schnappe ich mir mein Notebook und nehme es mit auf die Couch.
Ich will endlich googeln, wie man als Laie ein fremdes Handy entsperren kann, doch dann fallen mir die neuen E-Mails wieder ein.
Geht es Ihnen gut? , schreibt Tassani. Ohne Anrede, ohne floskelhafte Grüße. Die Mail besteht nur aus diesem einen Satz und lässt mich in Tränen ausbrechen. Nein, es geht mir nicht gut. Es geht mir beschissen, nicht nur, weil ich hier einen Drahtseilakt ohne Netz aufführe. Auch, weil ich schon wieder Zeuge sein musste, wie jemand in seinem eigenen Blut gelegen hat, wie er verstümmelt und getötet wurde.
Geht es Ihnen gut . Ich hätte nie gedacht, dass es mir in geringster Weise zusetzen würde, Boris sterben zu sehen. Im Gegenteil, oft habe ich mir ausgemalt, was ich mit ihm oder Pascha anstellen würde, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte. Als ich vollgepumpt mit Schmerzmitteln im Krankenhaus gelegen habe, waren das die Fantasien, die meinen Lebenswillen angefacht haben.
Ich versuche, leise zu weinen, aber Vera hört es natürlich. »Ist was passiert?«, fragt sie. »Schlechte Nachrichten?«
»Nein.« Ich bemühe mich, meine Stimme fest klingen zu lassen. »Nur … der Druck. Es war so knapp vorhin.«
»Ach so.« Damit ist die Sache für sie erledigt. Schwäche ist nichts, womit sie sich auskennt oder wofür sie Verständnis hätte. »Ist doch kein Grund zu heulen«, fügt sie an, und ich weiß, dass sie es tröstlich meint. »Wenn sie dich erwischt hätten und dir jetzt die Finger einzeln brechen würden, dann hättest du Grund.«
Ich zwinge mir etwas wie ein Lachen ab, damit sie mich in Ruhe lässt. Denke wieder an Boris und dass ein Teil von mir nicht glauben kann, dass er wirklich tot ist. Obwohl ich dabei war, als man ihm zwei Kugeln in den Nacken geschossen hat. Ich wäre nur mäßig erstaunt, wenn ich ihn demnächst vor dem Hotel zu den Linden entdecken würde. Oder im Spielsalon in der Mainkurstraße.
Er hatte Spaß dabei, anderen die Finger zu brechen, genauer gesagt, sie mit einem Hammer zu zertrümmern. Noch eine Erinnerung, die sich ungebeten einstellt.
Es geht mir miserabel, danke der Nachfrage , schreibe ich an Tassani zurück. Warum lügen?
Vielen Dank für das Foto, das Sie mir beim letzten Mal mitgeschickt haben. Ich finde den Anblick jedes Mal beruhigend. Aber Sie verstehen, dass ich meine nächste Bestattung erst in ein paar Jahrzehnten stattfinden lassen möchte? Das heißt, ich werde bis auf Weiteres nicht nach Wien zurückkehren. Hoffentlich kommen Sie im Fall der Friedhofsmorde auch ohne meine Hinweise weiter. Oder nein, das war jetzt unaufrichtig. Hoffentlich tun Sie das nicht.
Passen Sie gut auf sich auf, Commissario.
Herzlichst, Carolin
Ich schicke die Nachricht ab, wieder über die bei TOR geöffnete Protonmail-Seite. Dann öffne ich endlich Google und suche nach Tricks, mit denen man ein Handy entsperren kann, dessen PIN -Code man nicht kennt.
Ein erster, schneller Blick zeigt: Einen einfachen Weg scheint es nicht zu geben. Wenn es sich um das eigene Gerät handelt, kann man sich noch irgendwie behelfen, bei einem fremden ist man als Normalsterblicher ziemlich aufgeschmissen.
Aber bevor ich überhaupt einen Versuch starte – wahrscheinlich mit einem der Programme, die man von dubiosen Seiten herunterladen kann –, muss ich Boris’ Handy ohnehin erst mal laden. Ich habe es letztens auf der Toilette versteckt, habe es in die Großpackung Klopapier geschoben, die dort im Regal liegt.
Es ist immer noch da, die Akkuladung nun längst aufgebraucht. Vera beachtet mich nicht, als ich auf dem Klo verschwinde und kurz darauf wiederauftauche. Direkt neben meiner Couch befindet sich eine Steckdose, dort hänge ich das Smartphone jetzt an. Der Sperrbildschirm erscheint, ich wische von oben nach unten und bekomme die Schnelleinstellungen angezeigt, die ich auch ohne PIN nutzen kann. Klingelton an und aus. Notruf. Flugmodus.
Nach kurzem Überlegen tippe ich auf das stilisierte Flugzeug. Schalte das Handy online. Es dauert nicht einmal zwei Sekunden, bevor es sich ins Netz einbucht.
Ich habe letztens schon alle Klingeltöne leise geschaltet, bloß den Vibrationsalarm konnte ich nicht deaktivieren. Und so beginnt das Gerät zu vibrieren, kaum dass es Empfang hat. Ein kurzes Brummen folgt auf das nächste, der Sperrbildschirm leuchtet auf, reiht Banner um Banner übereinander. Mein Blick ist auf das Display geheftet, und wieder fällt mir das Atmen schwer.
Siebzehn entgangene Anrufe. Zweiundzwanzig Textnachrichten. Fünf davon stammen vom gleichen Absender. Андре́й
Ich kann kyrillische Schrift nur mit Mühe entziffern, aber diese Zeichenkombination ist mir vertraut. Andrei. Boris hat fünf Nachrichten von Andrei persönlich erhalten.