I ch schlafe kaum in dieser Nacht. Nach allem, was ich dem Sperrbildschirm entnehmen kann, haben außer Andrei auch Jaro, Pascha und eine Frau namens Dunja versucht, Boris zu erreichen. Aber mehr als das finde ich nicht heraus, solange ich das Gerät nicht entsperren kann. Ich halte es die ganze Nacht über in der Hand und schrecke auf, als es plötzlich wieder vibriert. Einmal kurz. Eine SMS von Jaro – WhatsApp verwenden die Karpins nicht, das ist ihnen zu unsicher. Ich wische über das Display und schalte den Flugmodus wieder ein, das hätte ich sofort tun sollen.
Mein Herz schlägt hart gegen die Rippen. Ярослав – Boris hat Jaro unter seinem vollen Namen im Adressbuch eingespeichert. Ich werde nicht nur herausfinden müssen, wie ich an die Inhalte des Smartphones rankomme, ich werde auch jemanden brauchen, der sie übersetzen kann.
Bis zum Morgen nicke ich sicher fünfmal ein und schrecke grundlos wieder auf, doch schließlich muss ich fester eingeschlafen sein, als es mir recht sein kann, denn ich erwache davon, dass Vera mich anstupst. Immer wieder tippt sie mir mit dem Finger gegen die Schulter.
Benommen richte ich mich auf, im gleichen Moment fällt mir das Handy ein, das ich nicht mehr festhalte, das ich nirgendwo sehe – oder jetzt doch. Das Ladekabel verschwindet unter meiner Bettdecke. Wenn ich das Bein bewege, kann ich die Kanten des Geräts spüren.
»Was bist du denn so nervös?« Vera hat zum Schlafen wieder mein Shirt mit den hässlichen Katzen angezogen, wahrscheinlich will sie ihre eigenen Sachen schonen. »Es ist schon halb neun, und ich dachte, du könntest etwas fürs Frühstück einkaufen gehen.« Sie tänzelt einmal im Kreis und fächelt sich mit zwei Zwanzigern Luft zu. »Und diesmal keine alten Brötchen. Wir haben Geld, Koschetschka!«
Allein für den verhassten Kosenamen würde ich ihr gern an die Kehle gehen. »Warum kaufst du nicht selbst ein?« Meine Stimme ist noch belegt, klingt mehr nach Knurren als beabsichtigt. »Der nächste Aldi ist zehn Minuten entfernt, da wird dir niemand …«
»Keine Chance«, unterbricht sie mich. »Wer weiß, ob dir nicht gestern jemand gefolgt ist nach deiner Begegnung mit Alex? Dann könnten draußen ein oder zwei Autos parken, einfach nur zwecks Beobachtung. Aber du gehst hier sowieso dauernd ein und aus. Ich habe kein Tarnzeug, mich würden sie sofort erkennen.« Als ich nicht antworte, verschränkt sie die Arme vor der Brust. »Außerdem: Wenn dir jemand gefolgt ist, dann wegen deiner eigenen Ungeschicklichkeit. Mich hast du schließlich auch nicht bemerkt, als ich hinter dir herspaziert bin, nicht wahr? Aber es wäre echt unfair, wenn ich für deine Unaufmerksamkeit büßen müsste.«
Ich schlucke alle Bemerkungen, die mir auf der Zunge liegen, hinunter. Nicke. Warte, bis sie zufrieden in ihr Bett zurückkehrt und ihr Notebook aufklappt, dann verschwinde ich im Badezimmer.
Ich werde Vera Frühstück bringen. Aber sie wird länger darauf warten müssen, als sie denkt.
»Legal ist das nicht.« Ich bin mittlerweile im dritten Handyshop angelangt, und der Typ hinter dem Verkaufstresen dreht Boris’ Telefon hin und her. »Aber bei dem Modell würde ich es wahrscheinlich hinbekommen.«
»Das wäre super«, sage ich und strahle ihn an. »Ich konnte meine Großmutter nicht selbst schicken. Sie ist gehbehindert und spricht nur Russisch. Aber ihre PIN hat sie bisher noch nie vergessen. Na ja.« Ich zucke mit den Schultern. »Wenn man einmal neunundachtzig ist.«
Er macht große Augen. »Und da kommt sie mit diesem Modell zurecht?«
»Oh ja. Sie war früher Schneiderin«, improvisiere ich. »Ihre Augen sind immer noch schärfer als meine und ihre Finger extrem geschickt.«
Er nickt, auf eine Art, die mir klarmachen soll, dass er mir die Story nicht abkauft. »Okay. Versuchen wir unser Glück. Aber ich berechne dir hundertfünfzig Euro, auch wenn es nicht klappt.«
»Hundert, wenn es nicht klappt. Dafür zweihundert, wenn doch.«
Er deutet auf einen Stuhl in der Ecke des kleinen Ladens. Auf dem Tischchen daneben liegen zu gleichen Teilen Computer- und Motorradzeitschriften. »Stört es dich, wenn ich Musik laufen lasse?«
Ich verneine und bereue es unmittelbar, denn anscheinend steht er auf Heavy Metal, und das macht mir Kopfschmerzen. That’s what you do best , brüllen Slipknot durch den Raum, und ich wünschte, ich hätte Kopfhörer für mein eigenes Smartphone mitgebracht, um etwas Erbaulicheres zu suchen. Abba vielleicht. Oder Mozart.
Nach einer halben Stunde hebt der Handymann den Kopf. »Bis jetzt noch nichts. Willst du nicht eine Runde ums Haus drehen? Es kann echt dauern.«
Kommt nicht infrage, ich lasse Boris’ Telefon nicht einfach hier. »Das ist okay, ich warte gern. Aber wenn du eine andere Playlist in petto hättest, wäre das super.«
Die nächste Stunde vergeht untermalt von Hip-Hop-Beats, die keine echte Verbesserung darstellen. Ich vergrabe mich in die Computerzeitschriften, bis ein lautstarkes »Ha« mich hochfahren lässt. Der Handymann grinst und hat zwei Finger zum Victory-Zeichen erhoben. »Wir sind drin. Zweihundert Euro, richtig?«
»Richtig.« Ich bin aufgesprungen. »Und jetzt bitte die PIN ändern. Auf … 1203 .« Der zwölfte März, der Tag, an dem ich dich getötet habe – und mich leider nicht.
»Wird gemacht.« Er tippt, nickt, hält das Telefon hoch. »Zweihundert Euro.«
Ich hole die beiden Scheine aus meinem Portemonnaie und lege den ersten auf den Tresen. »Ich möchte es selbst versuchen.«
1203 . Es klappt. Der Sperrbildschirm verschwindet, darunter erscheint das Hintergrundbild, gespickt mit bunten Apps. Zum Glück keine gepiercten Brüste oder Ähnliches, sondern eine Schneelandschaft. Den zweiten Hunderter drücke ich dem Mann in die Hand. »Danke. Meine Großmutter wird sehr glücklich sein.«
Er steckt den Schein in die Hosentasche. Bietet mir keine Rechnung an, und ich verlange auch keine. »Grüße an die Oma«, sagt er. Als ich hinausgehe, setzen erneut Heavy-Metal-Klänge ein.
»Wo zur Hölle hast du gesteckt?« Von Veras guter Laune ist nichts geblieben. »Ich dachte schon, sie hätten dich wirklich erwischt!«
»Und das hätte dir das Herz gebrochen.« Ich lege zwei Croissants in den kleinen Brotkorb und stelle ein Glas Erdbeermarmelade daneben. »Guten Appetit. Die Butter ist im Kühlschrank, dorthin schaffst du es ja hoffentlich selbst. Keine Verfolger auf dem Weg, ich hab’s überprüft.« Mein genervter Ton ist nur noch zur Hälfte echt. Ich wäre Vera unglaublich gerne los, um mich mit Boris’ Handy zu beschäftigen, gleichzeitig kann ich meine diabolische Freude kaum verbergen. Ich habe Zugriff auf die Kommunikation der Karpins.
»Wozu brauchst du eigentlich einen Kinderwagen?«, erkundigt sich Vera, als sie mit Butter und einer Tasse Milchkaffee zum Tisch zurückkehrt. Ich blicke sie durchdringend an. Sie hat rumgestöbert; wie gut, dass ich die Walther anderswo versteckt habe. »Für alle Fälle«, entgegne ich knapp. Ich setze mich aufs Sofa, und während Vera ihr Croissant in zwei Hälften schneidet, taste ich unter den Sitzpolstern nach der Waffe. Da ist sie. Gott sei Dank.
»Was hast du denn wirklich so lange gemacht?«, will Vera wissen. Sie kaut lächelnd, kann aber ihr Misstrauen nicht verbergen.
»Och. Ich habe mit Jaroslaw gebruncht und war dann mit Alex und Janina shoppen. Die beiden haben echt Geschmack, weißt du?«
Vera blinzelt, wirkt plötzlich verwundbar.
Ich schüttle lachend den Kopf. »Was denkst du denn? Ich wollte Ersatz für die Rothaarperücke finden, aber der Laden hatte zu. Dann war ich in einem zweiten, doch dort war das Angebot eine Katastrophe, also bin ich wieder gegangen. Sonst noch Fragen?«
Sie überlegt kurz. »Nein.«
Ich werde vorsichtig sein müssen. Darf das Smartphone auf keinen Fall auspacken, wenn sie in der Nähe ist.
»Wie sieht eigentlich dein Plan aus?«, erkundige ich mich wenig später. »In diesem engen Loch hier kannst du doch auf Dauer nicht bleiben wollen.«
Sie sitzt wieder auf ihrem Bett, das Notebook auf dem Schoß. »Sag nur, du genießt meine Gesellschaft nicht.« Die Warnung in ihrer Stimme ist unüberhörbar. »Für die nächste Zeit sind wir aufeinander angewiesen. Das heißt übrigens auch, dass du gefälligst vorsichtig sein musst. Wenn sie dich erwischen, erzählst du ihnen innerhalb der ersten zehn Minuten alles über mich, bloß damit sie aufhören. Das weißt du genau.«
Erstmals sehe ich in Veras Augen einen Abglanz des Horrors, der meine Erinnerungen beherrscht. Sie war bei noch mehr Exekutionen anwesend als ich, und sie hat es meistens geschafft, beim Zusehen keine Miene zu verziehen. Wenn es ihr zu viel wurde, hat sie unkontrolliert zu lachen begonnen, das fand Andrei sympathisch. Aber natürlich sind diese Erlebnisse ebenso wenig spurlos an ihr vorübergegangen wie an mir. Sie muss nicht ihre Fantasie bemühen, um zu wissen, was uns bevorsteht, wenn sie uns schnappen.
»Wie war es denn in letzter Zeit?«, erkundige ich mich. »Seit Andrei abgehauen ist?«
»Die ersten paar Wochen sehr ruhig.« Sie betrachtet ihre Fingernägel. Gelnägel, spitz gefeilt, die bald eine Maniküre brauchen werden. »Andrei ist ja direkt über die Grenze verschwunden, nachdem die Polizei die Halle gestürmt hat. Sie haben zwei Leute geschnappt, die haben beide dichtgehalten. Wir dachten erst, es wird weitere Verhaftungen geben, aber – nichts. Andrei wollte trotzdem abwarten. Hat sich um Geschäfte in Russland und der Ukraine gekümmert und uns von dort aus Anweisungen gegeben. Aus dem Exil sozusagen. Zwei Monate nachdem du begraben wurdest – ha ha –, ist Slawa aufgetaucht und hat die Frankfurter Geschäfte übernommen, hab ich dir ja schon erzählt. Nur übergangsweise, hat er versichert, und Andrei hat das zweimal täglich bekräftigt. Aber dann habe ich dich auf einem dieser Münchner Fotos erkannt, und damit war Andrei der Weg zurück versperrt. Er hat sofort kapiert, was die Polizei plant. Dass alle bloß abwarten, bis er zurückkommt und der ganze Clan ausgehoben wird. Dann geht es für sämtliche Karpins und ihre Verbündeten lebenslänglich hinter Gitter, weil die Kronzeugin dummerweise doch nicht tot ist. Also sitzt Slawa nach wie vor am Ruder.« Vera nennt Jaroslaw auch Slawa, auf die russische Art. »Er hat lange Zeit die Geschäfte in der Ukraine geführt, hat vorher aber Wirtschaft in Hamburg studiert. Er spricht perfekt Deutsch, sieht bombig aus und klatscht Andrei an die Wand, wenn es um Stil und Bildung geht. Der findet es einerseits gut, dass die Geschäfte laufen, ist aber gleichzeitig beleidigt, dass ohne ihn nicht alles zusammenbricht. Kennst ihn ja.«
Das tue ich. »Ist Slawa beliebt bei den anderen? Boris, Pascha, Toljan?«
Sie überlegt kurz, dann nickt sie. »Es wird zwar weniger gesoffen und gevögelt, aber dafür verdienen sie mehr Geld.« Sie beißt in ihr Croissant und schließt genießerisch die Augen. »Hast du eigentlich Netflix?«
»Was? Nein!«
»Könnten wir aber nehmen, oder? Ich kann ja nicht raus hier, und ich will nicht vor Langeweile eingehen. Bücher hast du auch keine hier, soweit ich sehe.«
Die scharfe Entgegnung, die mir auf der Zunge liegt, schlucke ich hinunter, denn eigentlich kommt Veras Wunsch mir entgegen. Wenn sie Serien streamt, kann sie mich nicht gleichzeitig beobachten. Also lächle ich gezwungen. »Keine dumme Idee. Ich erledige das gleich.«
Dazu muss ich allerdings zuerst PayPal einrichten, denn Kreditkarte habe ich keine. Aber es lohnt sich; kaum erscheint das große rote N auf dem Fernsehbildschirm, ist Vera gewissermaßen abgemeldet. Wir haben das Gerät so gedreht, dass sie vom Bett aus den perfekten Blick darauf hat, und sie stürzt sich unmittelbar in die erste Staffel von The Crown .
Diffus dankbar dafür, dass sie sich nicht für Narcos oder Ähnliches entschieden hat, kauere ich mich auf mein Sofa. So, dass mein Rücken ihr die Sicht auf das versperrt, was ich in Händen halte: Boris’ Smartphone.
1203 . Ich habe es mir auf dem Heimweg verkniffen, einen Blick in die Nachrichten, Telefonlisten und Fotos zu werfen; schon weil ich mich auf meine Umgebung konzentrieren wollte. Nach wie vor ist der Flugmodus aktiviert. Doch jetzt sind die Bedingungen endlich günstig, und plötzlich fühle ich mich unsicher. Habe Angst vor dem, was ich vielleicht zu sehen bekomme.
Denn die Fotos sind das Einzige, womit ich sofort etwas werde anfangen können. Die Sprache, in der Boris das Handy eingestellt hat, ist Russisch. Natürlich. Ich werde Andreis Textnachrichten also mühsam übersetzen müssen, ebenso wie die von Jaro, Pascha und Toljan. Es gibt noch eine Menge anderer Kontakte, aber ich werde mich erst mal auf die wichtigsten konzentrieren.
Entgangene Anrufe: vierundzwanzig. Von allen mir bekannten Mitgliedern des Clans und Leuten, von denen ich noch nie gehört habe. Ich öffne den Kalender. Gestern hat Boris zwei Termine verpasst, heute hätte er auch einen, um einundzwanzig Uhr. Seine ganze nächste Woche sieht verplant aus, aber bei den Einträgen stehen nie Details dabei. Immer nur Kürzel, mit denen ich vermutlich auch dann nichts anfangen könnte, wären sie im mir vertrauten Alphabet geschrieben.
Zuletzt öffne ich den Fotoordner. Das letzte Bild, das Boris geschossen hat, ist ein Selfie. Er, den Arm um eine Blondine mit wulstigen Lippen gelegt; seine Zunge seitlich rausgestreckt, als wollte er ihr das Make-up von der Wange lecken.
Das Foto ist einen Tag vor seinem Tod entstanden. Ich scrolle weiter. Ein schwarzer Jaguar, Zweisitzer, den Boris durch die Scheibe eines Autohändlers fotografiert hat. Noch ein paar Selfies, diesmal kann ich auch den Ort des Geschehens identifizieren, es ist ganz klar das Duplex . Die Bilder sind nicht besonders scharf, aber der Mann neben Boris ist Toljan, die zwei dazugehörigen Frauen sind mir unbekannt.
Nun schon viel entspannter wische ich die Fotos beiseite, nach rechts, und muss prompt einen Schreckenslaut unterdrücken. Ich hätte es wissen müssen, ich kenne Boris schließlich. Er hat immer gerne Trophäen fotografiert. Seien es Mädchen, Autos – oder, wie in diesem Fall, Augen.
Dieses Bild ist kein Selfie, denn Boris hat keine Hand frei. Mit blutverschmierten Fingern hält er sich je einen Augapfel vor die eigenen Augen. Lachend.
Unwillkürlich presse ich die Lider aufeinander, bis ich dahinter weiße Blitze zucken sehe. »Alles okay?«, erkundigt Vera sich von ihrem Bett aus.
»Was? Jaja.« Ich muss besser aufpassen, wahrscheinlich habe ich bloß lauter geatmet, aber ihr entgeht so etwas nicht.
Ich schiebe das Foto weg. Denke an das abgeschnittene Ohr in der Blutlache und versuche, so etwas wie Genugtuung zu empfinden, aber nicht mal das gelingt mir. Alles, was ich an Gefühlen in mir orten kann, sind Ekel und Angst.
Nach zehn Minuten, die ich damit verbracht habe, gleichmäßig zu atmen, beschließe ich, mich auf die Entschlüsselung der Andrei-Nachrichten zu konzentrieren.
Am praktischsten wäre es, die Übersetzung über eine App auf dem Handy zu erledigen, aber dazu müsste ich es online schalten. Zu riskant. Ich stelle also Kyrillisch als Schriftart auf meinem Notebook ein und bemerke schnell, dass die Tastenbelegung eine völlig andere ist. Es dauert eine Viertelstunde, bis ich Andreis aktuellste SMS an Boris eingetippt habe und Google Translate mir eine Übersetzung ausspuckt.
Wo zur Hölle bist du? Sie suchen dich verrückt. Wenn du wegläufst, werde ich deine Eier abreißen!
Die Übersetzungsfunktion ist sicher nicht perfekt, aber die Grundaussage ist klar. Die Nachricht vor dieser ist nur fünf Stunden älter. Melde dich! Du hast Lieferung verpasst. Slawa fragt sich, ob Überlauf. Ich vertraue dir, Borja.
Mehr als alles andere überzeugt mich dieses Borja davon, dass wirklich Andrei die Nachrichten tippt. Keiner sonst hat Boris je mit der Verniedlichungsform des Namens angesprochen.
Ob er in der Zwischenzeit noch einmal versucht hat, Kontakt aufzunehmen? Ich muss das Handy nur für ein paar Sekunden online schalten, um die aktuellsten Textnachrichten hereinzubekommen.
Ich deaktiviere den Flugmodus, und unmittelbar beginnt das Telefon zu vibrieren. Ярослав zeigt das Display an. Jaro versucht also zum wiederholten Mal, Boris zu erreichen, und diesmal kommt sein Anruf durch, wie konnte ich nur so dumm sein.
Hektisch schalte ich das Smartphone wieder offline, bevor auch Vera das rhythmische Summen hört, aber sie hat sich bereits umgewandt. »Was ist denn das?«
»Mein Handy.«
»Und das erschreckt dich so, dass du quiekst?«
Mir war nicht bewusst, dass ich das getan hätte, ich sollte mich besser im Griff haben. »Puh. Ich bin eben schreckhaft geworden, es ist aber schon viel besser. Du hättest mich vor einem halben Jahr erleben sollen.«
Sie geht nicht darauf ein. »Wer ist denn dran?«
»Die Bank. Sie wollen seit zwei Wochen einen Beratertermin vereinbaren.«
»Zeig her.«
»Wie bitte?«
»Zeig mir das Handy! Ich will wissen, ob du die Wahrheit sagst.«
Das Gute ist, ich würde Vera mein Telefon auch dann nicht unter die Nase halten, wenn ich damit meine Behauptung bestätigen könnte. »Bist du irre? Ich denke nicht daran, und du kannst mich langsam mal mit deinem Überwachungswahn. Du hast dich bei mir eingenistet, okay. Ich versorge dich mit Essen, einer Schlafgelegenheit und Netflix, okay. Aber das ist alles. Mein Handy ist meine Privatangelegenheit; wenn ich dich verpfeifen wollte, würde ich das nicht telefonisch abwickeln. Also lass mich in Ruhe!«
Ihr Gesicht ist völlig unbewegt. »Du hast was zu verbergen, stimmt’s? Du willst mich reinlegen.«
»Falsch.«
Sie lacht. »Ich sage nur: Schrottpresse. Wenn du keine Geheimnisse vor mir hast, dann zeig mir das Handy.«
»Ich sagte nicht, dass ich keine Geheimnisse vor dir habe. Aber die gehen nur mich etwas an, und keines davon hat mit dir zu tun.« Ich wende mich von ihr ab, die Diskussion ist beendet. Wenn ich das nächste Mal das Haus verlasse, wird Vera das Unterste zuoberst kehren, davon kann ich ausgehen. Ich sollte also besser sämtliche Handys und die Walther mitnehmen – genauso wie mein Bargeld, denn ich traue ihr zu, dass sie sich alles schnappt und damit eine neue Unterkunft sucht.
Sie hat The Crown jetzt angehalten und lässt mich nicht mehr aus den Augen.
»Krieg dich wieder ein«, sage ich müde. »Okay, zugegeben, es war nicht die Bank, sondern jemand, von dem ich hoffe, mehr über Robert zu erfahren. Robert Lesch, den Polizisten, du weißt schon. Aber du hast mir ja eigentlich schon alles gesagt, was ich wissen muss.«
Die Schärfe verschwindet aus ihrem Blick. Diese Lüge glaubt sie mir, wie es scheint. »Lesch hieß der? War ein ungepflegter Typ, mit dieser Glatze und den Schnittlauchhaaren hinten. Mit diesen gelben Raucherfingern.«
Ja, denke ich. Aber die Haare haben sie ihm jetzt gestutzt. Sie pflegen ihn auch, und er wird nie mehr rauchen. »Stimmt.«
»Er hat dich bereitwillig verpfiffen. Hat uns bestätigt, dass du in Wien bist. Das war ja schon fast sicher, aber er hat uns dann mit den restlichen Infos versorgt. Voller Name, Adresse und so.« Sie sagt es, als wäre es eine ungezwungene Plauderei gewesen, in deren Rahmen Robert diese Details hat fallen lassen. Aber wir wissen beide, wie es wirklich gewesen ist. Ich habe das Ergebnis gesehen, diese Überbleibsel eines Menschen im Rollstuhl. Veras überlegene Miene widert mich an. »Warst du dabei?«
»Ja. War nicht schön. Boris hat sich mit seinem Schneidbrenner ausgetobt und den Bullen ein paarmal knapp ersäuft. Am Ende waren es dann Elektroschocks, die dürften sein Hirn ziemlich gegrillt haben. Slawas Anweisung. Er wollte, dass der Typ überlebt, aber niemandem erzählen kann, wer ihn bearbeitet hat. Keine Polizistenmorde, hat er gesagt.« Ihr Blick bohrt sich in meinen. »Scheint geklappt zu haben. Es gab keine gehäuften Razzien in den Karpin-Lokalen, keine vorübergehenden Festnahmen, keine Befragungen außer der Reihe. Jedenfalls nicht mehr als bei den anderen Clans.«
Boris. Oder Borja, wie Andrei ihn zärtlich nennt. Ich wünschte, ich hätte das abgeschnittene Ohr behalten.
»Mochtest du ihn?« Sie fragt es weich, fast mitfühlend, und ich würde sie gerne dafür ohrfeigen oder ihr ein paar Zähne ausschlagen. »Wenn ja – er war es nicht wert. Hat nicht sehr freundlich über dich gesprochen. Hat dich Schlampe genannt und dumme Sau. Du solltest ihm keine Träne nachweinen.«
Alle Zähne. Und dann ihre Augen rausholen, so wie Boris es offenbar konnte, dem Foto zufolge. Wie hat er das eigentlich gemacht, mit einem Löffel?
»Vielleicht«, sage ich und räuspere mich, beginne noch mal von vorn. »Vielleicht lag das an den Schmerzen? An den Brandverletzungen, der Todesangst? Hm? Was denkst du?«
Es sieht aus, als müsse sie erst ein verstörendes Bild aus dem Kopf bekommen, bevor sie antworten kann. »Klar. Ich wollte es nur leichter für dich machen.«
Jaro will also keine Polizisten töten. Er macht sie lieber zu leblosen Hüllen und schafft es irgendwie, sich intensivere Ermittlungen vom Leib zu halten. Bisher war er mir relativ gleichgültig, das hat sich gerade geändert. Andrei hat wenigstens Nägel mit Köpfen gemacht. Seine Opfer hatten es irgendwann hinter sich.
Ich drehe mich von Vera fort und lege mich flach auf die Couch. Nach ein paar Minuten höre ich ein Seufzen, dann läuft The Crown weiter. Ich rühre mich nicht, aber innerlich erstelle ich eine Liste von allen Dingen, die ich sofort zusammensammeln werde, sobald Vera aufs Klo muss. Die Walther. Beide Handys. Meinen Teil des Bargelds.
Eine halbe Stunde später ist es so weit. Sie denkt wahrscheinlich, ich schlafe, denn sie bleibt kurz neben dem Sofa stehen, als wolle sie sich vergewissern. Die Toilettentür schließt und versperrt sie hinter sich.
Geräuschlos gleite ich von der Couch, hole die Pistole unter den Kissen hervor und stecke sie in den Stoffbeutel, den ich für Einkäufe verwende. Das Geld stopfe ich dazu, zuletzt folgt Boris’ Handy samt Ladekabel. Mein eigenes packe ich in meinen Rucksack, dazu die falschen Zähne und eine Baseballkappe. Ich bin schnell – als ich Vera spülen höre, schlüpfe ich gerade in meine Schuhe.
»Muss nur kurz was erledigen«, rufe ich durch die geschlossene Tür, entferne den Door-Jammer, greife mir die Schlüssel und bin draußen.
Vera ruft mir etwas hinterher, das ich nicht verstehe, wahrscheinlich eine Drohung, doch das ist mir egal. Ich pfeife auf den Lift, hetze die Treppen hinunter und aus dem Haus, renne weiter in Richtung Friedhof. Erst dort drossle ich mein Tempo. Ich würde auffallen. Auf dem Wiener Zentralfriedhof wird gejoggt, auf dem Frankfurter Südfriedhof nicht.
Fünf Minuten zwischen den Gräbern, und ich fühle mich gelassen und als Herrin der Lage. Setze mich auf eine Grabeinfassung und ziehe, interessiert beäugt von einer Amsel, Boris’ Smartphone aus dem Beutel.
In den paar Sekunden, die ich damit online war, hat das Gerät Meldungen über insgesamt sechs entgangene Anrufe von Jaro empfangen. Ich tippe 1203 ein und sehe erst jetzt, dass auch zwei neue SMS eingegangen sind: eine ebenfalls von Jaro, vor vier Minuten, die andere von Janina, wenn ich die kyrillischen Buchstaben richtig entziffere.
Ich vermute, dass Jaro sie gebeten hat, an Boris zu schreiben, in der Hoffnung, dass er sie nicht in der gleichen Weise ignoriert wie ihn. Keine der Nachrichten kann ich lesen. Es hilft nichts, ich muss das Problem an der Wurzel packen. Zu dumm, dass ich mein Notebook nicht mitnehmen konnte, es wird notfalls auch mit dem Handy gehen müssen.
Ich stecke mein Haar unter die Baseballkappe, setze die falschen Vorderzähne ein und fahre zum nächsten Schreibwarenladen. Gleich um die Ecke gibt es einen schäbigen Imbiss, wo ich Papier, Stift und Handy auspacke und zu übersetzen beginne.