D ein Telefon ist wieder im Netz, warum gehst du nicht ran? Bist du in Schwierigkeiten? Melde dich!
Das ist die Nachricht, die Jaro geschickt hat. Es hat mich über vierzig Minuten gekostet, sie zu entziffern; erst musste ich die Schrift meines Smartphones ändern, um jedes Zeichen einzeln in die Gratis-Übersetzungsapp eingeben zu können. Die wirre Übersetzung des Programms in vernünftiges Deutsch zu bringen war danach die leichteste der Übungen. Ich notiere die drei kurzen Sätze in das Heft, das ich gekauft habe.
Von nun an wird es einfacher. Wir machen uns Sorgen! Geht es dir gut? Was ist passiert? , hat Janina geschrieben. Auch das notiere ich, dann mache ich mit Andrei weiter.
Seine allererste Nachricht: Sie sagen, du bist seit zwölf Stunden von der Bildfläche verschwunden. Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du gehst nicht ran. Ruf mich zurück .
Der Ton wird schnell schärfer: Bist du besoffen oder hast du wieder begonnen, dein Geld zu verspielen? Ich warne dich, Borja, du hast mir geschworen, du hörst auf .
Damit spaßt Andrei nicht. Er lässt sein Gegenüber niederknien, wenn er schwört, und erklärt ihm vorher genau, was passiert, sollte der Schwur gebrochen werden. Häufig hat es mit Stockschlägen oder dem Verlust von Fingern zu tun; wenn es um Loyalität dem Clan gegenüber geht, auch mit dem Verlust des Lebens. Ich bin sicher, Boris hätte nicht wieder mit dem Spielen begonnen, wenn Andrei noch im Lande wäre.
Die nächsten beiden Nachrichten unterscheiden sich nicht allzu sehr von dieser, bloß der Ton wird bedrohlicher. Erstmals scheint Andrei in Betracht zu ziehen, dass Boris desertiert sein könnte. Weswegen er in seiner letzten Botschaft androht, ihm die Eier abzureißen.
Ich habe alles ordentlich in mein Heft geschrieben, inklusive Datum und Uhrzeit der Nachrichten, und mache jetzt mit denen von Jaro weiter.
Mein Bruder ist informiert, schreibt Jaro, dass du wieder einmal deinen Pflichten nicht nachkommst und schon drei Termine nicht eingehalten hast. Melde dich, in deinem eigenen Interesse .
Keine Nachricht von Toljan; ich frage mich, ob das mit meiner blutigen Serviette zu tun haben könnte. Ob mein Plan, ihn mundtot zu machen, wirklich aufgegangen ist.
Noch wichtiger: Keine einzige Mitteilung, in der es um mich geht. Niemand fragt sich, ob Boris sich vielleicht auf die Jagd nach dieser Fälscherin gemacht hat, die wieder in Frankfurt aufgetaucht ist.
Fürs Erste habe ich genug. Erstaunlicherweise vermutet niemand außer Janina, dass Boris etwas zugestoßen sein könnte. Sie müssen ihn für unverwundbar halten. Allerdings steht es, Jaros Text nach zu schließen, um Boris’ Zuverlässigkeit auch sonst nicht mehr zum Besten.
Als ich nach drei Stunden den Imbiss verlasse, habe ich Kopfschmerzen und stinke so sehr nach Frittierfett, dass ich am liebsten nach Hause gehen und duschen würde, aber das muss warten. Der wichtigste Punkt auf meiner To-do-Liste fehlt noch, und dafür muss ich einen Abstecher zum Ostbahnhof machen, denn dort gibt es eine ganz besondere Buchhandlung.
Ich habe mir bei einer Billigkette noch schnell ein schwarzes Zehn-Euro-Shirt gekauft und das übel riechende tief in meinem Rucksack versenkt. Es soll niemandem in der S-Bahn die Frau mit den vorstehenden Zähnen auffallen, die nach ranzigem Öl riecht.
Auf der letzten Seite meines Hefts habe ich mir schon im Imbiss drei kurze Absätze notiert, während der Fahrt füge ich zwei weitere dazu. Es ist bald fünf Uhr nachmittags, um sechs Uhr schließt die Buchhandlung, und ich hoffe, dass ich mir mit einem größeren Einkauf dort eine kleine Gefälligkeit einhandeln kann.
Dass ich mich in den einzigen russischen Buchladen Frankfurts wage, liegt daran, dass ich noch nie einen der Karpins mit einem Buch gesehen habe. Ich könnte mir zwar vorstellen, dass Jaro gelegentlich liest, aber eine Begegnung mit ihm wäre das geringste Risiko. Wir kennen uns nicht persönlich, ich würde ihm nicht auffallen.
Ich bin nicht die einzige Kundin im Laden. Eine junge Frau sitzt mit ihrer kleinen Tochter in der Kinderbuchecke; sie lachen und haben schon drei schmale Bände ausgesucht. Ich nicke der Verkäuferin hinter dem Tresen freundlich zu. »Ich spreche kein Russisch, aber ich würde gerne Krieg und Frieden kaufen, für einen Freund.« Dem ich es dann wieder in die Rehaklinik bringen kann, als Paketbotin verkleidet, fügt etwas in mir stumm hinzu. Ich dränge die unwillkommene Erinnerung beiseite, lächle. »Außerdem Schuld und Sühne .« Es ist eine spontane Wahl – das Buch ist sicher vorrätig, und der Titel passt zu meinem Leben, zu meinen Plänen, zu meinen Ängsten. »Ich liebe russische Literatur, wissen Sie? Ich beherrsche nur leider die Sprache nicht.«
Die Buchhändlerin hat zu jedem meiner Sätze genickt und holt, ohne suchen zu müssen, die beiden Bücher aus dem Regal. »Die verkaufe ich weniger oft, als man denken könnte.« Ihr Deutsch ist perfekt, der Akzent kaum hörbar. »Hätten Sie zur Ergänzung gern noch etwas Moderneres? Wladimir Sorokin kann ich sehr empfehlen. Oder Ljudmila Ulitzkaja.«
»Gerne!« Ich strahle sie an. »Nehme ich beide. Wissen Sie, ich schreibe selbst auch. Nicht ernsthaft, aber Kurzgeschichten und so. Zwei Novellen habe ich in der Schublade, vielleicht schicke ich die irgendwann einmal an einen Verlag.«
Die Buchhändlerin hebt in vorgetäuschtem Interesse die Augenbrauen. »Wirklich? Dann wünsche ich Ihnen viel Glück.« Sie deutet auf den kleinen Stapel vor sich. »Soll ich Ihnen die als Geschenk einpacken?«
»Danke, das ist nicht nötig. Sie sind zwar ein Geschenk, aber nicht zum Geburtstag oder so. Ein Freund von mir kommt neu nach Deutschland, er will hier studieren, doch sein Deutsch ist noch zu holprig, um ganze Bücher lesen zu können. Ich möchte ihm einfach eine Freude machen.«
Ich kann ihr ansehen, dass sie es gar nicht so genau wissen wollte, aber sie packt mir noch die Broschüre eines russischen Kulturinstituts mit ein, das seinen Sitz in Frankfurt hat. »Hier. Bitte sehr.«
Ich hole meine Geldbörse aus der Tasche, und während ich die passenden Scheine herausziehe, halte ich inne, als wäre mir eben eine Idee gekommen. »Sagen Sie – dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten? Es geht um eine meiner Geschichten, da ist eine der Hauptfiguren aus Russland. Vier oder fünf Passagen würde ich sie gerne in der passenden Sprache sagen lassen. Könnten Sie … also, ich meine, würden Sie sie für mich übersetzen?«
Die Buchhändlerin zögert kurz, wirft einen Blick zu der Mutter und ihrer Tochter, die immer noch das Bilderbuchregal durchforsten, und zuckt schließlich mit den Schultern. »Äh. Ja. Warum nicht.«
»Das wäre so toll!« Zappelig vor Begeisterung hole ich das Heft aus meiner Tasche. »Wissen Sie, mein russischer Freund kommt erst in einer Woche an, sonst hätte ich ihn gefragt. Aber Ihr Deutsch ist ja auch so viel besser als seines.«
Die Person, die ich vorspiele, geht mir selbst auf die Nerven, und das kann durchaus hilfreich sein. Wenn die Buchhändlerin meine Gefühle teilt, wird sie mich möglichst schnell loswerden wollen.
Ich öffne die letzte Heftseite. »Bitte einfach daneben schreiben«, sage ich. »In kyrillischer Schrift. Und bitte in Druckbuchstaben. Ach, das ist so nett von Ihnen!«
Sie liest und legt die Stirn in Falten. »Das sind merkwürdige Sätze.«
»Ja, ich weiß, es ist auch eine merkwürdige Geschichte. Vielen, vielen Dank!«
Die Frau verzieht fast unmerklich den Mund, dann beginnt sie zu schreiben. Kleine, aber deutliche Buchstaben. Nach ein paar Minuten legt sie den Stift beiseite. »Das müsste so stimmen.«
Ich nehme das Heft und die Bücher an mich und strahle sie noch einmal mit meinen Hasenzähnen an. »Sie haben mir einen riesigen Gefallen getan. Ich komme ganz bestimmt wieder, und beim nächsten Mal bringe ich meinen Freund mit.«
Als ich wieder zu Hause eintreffe, ist es fast sieben, und Vera kocht vor Wut. »Was glaubst du eigentlich, was du da tust? Haust ab, während ich auf dem Klo bin, und lässt mich den ganzen Tag alleine hier rumsitzen?« Sie baut sich direkt vor mir auf. »Muss nur kurz etwas erledigen«, äfft sie mich nach. »Dir ist klar, dass ich dich immer noch verpfeifen kann?«
»Aber sicher.« Ich schiebe sie zur Seite. Klar ist auch, dass sie die Wohnung schon wieder durchwühlt hat. Der Kleiderschrank ist nicht ganz geschlossen, die Couchpolster liegen anders da als bei meinem Abgang. Soll sie, ich werde die Waffe sicher nicht mehr hierlassen, wenn ich nach draußen muss.
Ich lege die neu erworbenen Bücher auf den Tisch, und sie stürzt sich sofort darauf. Dreht den Dostojewski ratlos zwischen den Händen. »Was willst du damit?«
»Mittel zum Zweck«, sage ich knapp. »Aber du kannst sie gerne lesen. Wenn du kannst.«
Sie lässt das Buch flach auf die Tischplatte fallen. Es knallt. »Hast du auch etwas zu essen gekauft?«
Mir liegt immer noch der fettige Burger aus der Imbissbude im Magen. »Nein. Es muss aber noch Brot da sein. Und Butter. Eventuell Streichkäse. Damit wirst du für heute über die Runden kommen.«
Ich habe ihr den Rücken zugedreht, aber ich kann ihre Feindseligkeit trotzdem spüren. Es muss ein frustrierender Tag für sie gewesen sein. Ich bin sicher, sie bringt den Anruf, über dessen Urheber ich ihr nichts verraten habe, mit meinem überstürzten Aufbruch in Verbindung, kann sich daraus aber nicht zusammenreimen, wo ich den Tag verbracht habe. Hinzu kommt das vergebliche Durchforsten der Wohnung – kein Wunder, dass sie schlecht gelaunt ist.
Ich hole mir Wasser aus dem Kühlschrank, trinke die halbe Flasche leer. Vera lässt mich nicht aus den Augen. »Du hast ein neues Shirt an. Bevor du gegangen bist, hast du ein blaues getragen.«
»Stimmt.« Ein dunkelblaues, sehr ähnliches. Ich glaube nicht, dass viele Menschen den Unterschied bemerkt hätten. Auf ihr weiteres Bohren gehe ich nicht mehr ein. Soll sie sich doch ihre eigene Geschichte zusammenfantasieren. Aber wieder einmal hat sie ihre Beobachtungsgabe unter Beweis gestellt. Ich sollte nicht vergessen, wie überlegen sie mir in dieser Hinsicht ist.
In dieser Nacht wird meine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Ich will nicht, dass Vera etwas von dem mitbekommt, was ich tue, also warte ich, bis sie eingeschlafen ist. Doch das dauert. Irgendwann beschleicht mich der Verdacht, dass sie auf mein Einschlafen ebenso lauert wie ich auf ihres, um dann meinen Rucksack zu durchwühlen. Der steht am Fußende der Couch, bei jeder meiner Bewegungen stoße ich mit den Zehen dagegen.
Erst gegen halb zwei fällt ihr Atem in den ruhigen, tiefen Rhythmus des Schlafs. Ich warte trotzdem noch, bevor ich das Heft mit den Übersetzungen hervorhole, ebenso wie Boris’ Handy.
Sicherheitshalber lasse ich einen der von der Buchhändlerin übersetzten Texte durch den Translator auf meinem eigenen Smartphone laufen, selbst verblüfft über mein Misstrauen. Aber ich will mich vergewissern, dass die Übersetzung nichts verfälscht hat. Wie immer sind die Sätze, die das Programm ausspuckt, ungelenk, aber der Inhalt stimmt
Zeichen für Zeichen, pedantisch darauf bedacht, keinen Fehler zu machen, tippe ich in Boris’ Handy, was die Buchhändlerin so säuberlich neben meine eigenen Notizen geschrieben hat. Überprüfe jeden Buchstaben doppelt, dann deaktiviere ich den Flugmodus und schicke die Nachricht ab.
Wieder dieser Drang, zu lachen oder zu schreien. Eben habe ich die Kommunikation mit Andrei eröffnet und würde es am liebsten sofort rückgängig machen.
Ich kann gar nicht so schnell wieder offline gehen, wie neue Benachrichtigungen eintreffen. Von Jaro, von Janina – und von Andrei. Seine ist die einzige, die im Augenblick zählt, also gebe ich sie bei mir in den Translator ein.
Sie sagen, dein Telefon war wieder erreichbar. Verdammt, Borja, melde dich, oder ich werde dich für einen Verräter halten .
Die Drohung würde sitzen, wenn Boris noch am Leben wäre. Allein der Verdacht könnte ihn ein Ohr kosten oder ein Auge. Könnte ihn mit einem benzingetränkten, brennenden Reifen um den Hals enden lassen. Oder mit heruntergelassenen Hosen in einer Blutlache.
Ich beiße die Zähne zusammen, weil etwas in mir aufsteigt, von dem ich nicht weiß, ob es Gelächter oder Tränen sind, aber würde ich es herauslassen, wäre es auf jeden Fall laut genug, um Vera zu wecken. Der Impuls verebbt, und ich lese noch einmal Andreis Nachricht. Mit einer Drohung für Boris kommst du zwei Genickschüsse zu spät, denke ich.
Vera ächzt im Schlaf, und ich schiebe Boris’ Handy unter mein Kissen. Ich werde es erst am Morgen wieder online schalten, es darf sich kein spontaner Dialog entwickeln, denn den könnte ich auf Russisch nicht bestreiten. Aber sollte Andrei jetzt noch wach sein, wird er wohl umgehend zurückschreiben. An seiner Stelle würde ich das tun, denn was ich ihm mitgeteilt habe, muss ihn zutiefst beunruhigen.
Ich konnte dir nicht früher schreiben. Sie sind hinter mir her, vor allem Slawa. Er will den Clan endgültig übernehmen, glaube ihm nicht, was er dir erzählt. Er lügt. Ich weiß, dass ich auf seiner Todesliste stehe, deshalb muss ich verschwinden .
Ob Andrei mir – oder, besser gesagt, Boris – diese Geschichte abkauft? Er wird nachhaken, sowohl bei seinem Bruder als auch bei mir, aber wenn Veras Darstellung der Dinge stimmt, herrscht zwischen ihm und Jaroslaw ohnehin nicht das beste Verhältnis.
Jetzt dürfte ich schlafen, aber ich bin innerlich viel zu aufgekratzt. In meinem Kopf laufen fünf mögliche Szenarien gleichzeitig ab: dass Andrei in diesem Moment dabei ist, Jaro zur Rede zu stellen, dass er wie besessen Boris’ Nummer anruft, um Genaueres zu erfahren, vergebens. Dass er die Nachricht überhaupt noch nicht gelesen hat, weil er schläft. Dass er sie doch schon gelesen hat, aber bloß lachend den Kopf schüttelt.
Mir ist heiß unter meiner Decke. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, gibt das Sofa ein leises Knarzen von sich, und ich fürchte, Vera zu wecken. Doch die rührt sich nicht. Atmet gleichmäßig und ruhig.
Dann muss ich doch eingeschlafen sein, denn ich erwache davon, dass jemand sich am Fußende der Couch zu schaffen macht. Vera. Bereits dabei, den Reißverschluss des Rucksacks zu öffnen.
Ich reagiere, ohne nachzudenken, schnelle hoch, reiße ihr die Tasche aus der Hand und schlage sie ihr um die Ohren, erst rechts, dann links. Vera geht zu Boden, was ich im ersten Moment für theatralisch übertrieben halte, doch dann fällt mir die Walther im Inneren des Rucksacks ein.
»Rühr nie wieder meine Sachen an!«, zische ich.
Vera liegt immer noch auf dem Teppich, hält sich die Wange und wimmert. Erst jetzt werde ich richtig wach. Schalte das Licht an und knie mich neben sie, innerlich gewappnet dafür, dass sie mir gleich die Fingernägel ins Gesicht graben oder mir mit der Faust die Nase einschlagen wird. Doch das tut sie nicht, sie wischt sich nur übers Ohr und hält sich danach die Hand vor die Augen. Wirkt beruhigt, als sie kein Blut sieht. Tastet ihr Jochbein ab und verzieht das Gesicht.
»Tut mir leid«, murmle ich, und es ist ehrlich gemeint. Wobei ich weniger bedaure, sie verletzt zu haben, als dass ich unser ohnehin schwieriges Zusammenleben in der kleinen Wohnung jetzt praktisch unmöglich gemacht habe.
Bloß gibt es keinen Ausweg. Ich kann Vera nicht rauswerfen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie den Karpins meinen Aufenthaltsort verrät. Es genügt ein anonymer Hinweis, damit sie Leute vor dem Haus postieren, die die Augen offen halten und Fotos schießen.
Andererseits – ich kann nicht ganz ohne Schlaf leben. Irgendwann werde ich so erschöpft sein, dass ich gar nicht bemerke, wenn sie sich an meinen Sachen zu schaffen macht.
Ans Bett ketten kann ich sie ebenso wenig; auch wenn ich schon Erfahrungen als Gefangenenwärterin gemacht habe – die Situation ist jetzt eine völlig andere. Wir müssen die Zelle teilen.
Nach ein paar Minuten richtet Vera sich auf. Bewegt den Kiefer hin und her, tastet diesmal mit beiden Händen ihr Gesicht ab. »Ich glaube, einer meiner Zähne ist locker«, stellt sie fest. Völlig ruhig.
»Es tut mir leid, ehrlich. Ich habe …«
»Du hast dich erschrocken, ist mir schon klar. War meine Schuld, ich hätte mir ausrechnen können, dass du eine Panikreaktion hinlegst. Ist in der Tasche eine Waffe?«
Lügen hätte keinen Sinn. »Ja. Aber das ist meine. Wenn du eine brauchst, kauf dir selbst eine, Geld ist ja jetzt vorhanden.«
»Schon klar.« Sie rappelt sich hoch, geht zum Kühlschrank und holt sich ein Päckchen Butter heraus, das sie gegen die linke Wange drückt.
Ich ertappe mich dabei, wie ich meinen Rucksack umklammere, als wäre er ein Welpe, den ich eben vor dem Ertrinken gerettet habe. Veras Gelassenheit ist mir unheimlich, ich kann nicht anders, als einen Trick dahinter zu vermuten.
Sie setzt sich wieder auf ihr Bett, die Knie zur Brust hochgezogen. Lange Zeit sitzen wir uns schweigend gegenüber, die Ratlosigkeit zwischen uns ist beinahe greifbar. Irgendwann hebt Vera den Kopf. »Du hast mich letztens nach meinem Plan gefragt. Was ist eigentlich deiner? Du hast die Malakyans auf den Clan gehetzt, so viel habe ich kapiert, aber wenn es hart auf hart geht, verlieren die. Sie haben weniger Leute, weniger feste Geschäftspartner und mehr Skrupel.«
Ich denke an den Weinkeller. »Was den letzten Punkt angeht, irrst du dich.«
»Hm. Also, von mir haben sie sich bequatschen lassen. Ich war schon in der Schrottpresse, samt Auto. Sie haben mich wieder rausgeholt, weil ich ihnen die vierzig Kilo Koks in Aussicht gestellt habe, aber nachdem sie wussten, wo sie die finden, hätten sie mich wieder reinsetzen können.« Sie verschiebt das Butterpaket ein Stück in Richtung Kinn. »Andrei hätte das getan, egal, wie richtig oder falsch der Hinweis war. Der Armenier-Boss nicht, der hat mich laufen lassen. Ich meine: laufen lassen! Gerade, dass sie sich vorher noch den Stoff geholt haben. Aber niemand hat mich weiter wegen dieser Roxanna oder Rusanna befragt. Keine Ahnung, wie die sich in Frankfurt halten können.«
Ich muss ihr recht geben, ich verstehe Tigrans Taktik auch nicht. Wieso hat er den Karpins lieber ein zerquetschtes Auto mit Schweinehälfte geliefert als eines mit Vera? Gut, zu dem Zeitpunkt war Semion noch am Leben. Das Shelley noch nicht Asche. Hat es ihm genügt, als Sieger nach Punkten dazustehen? Kokain für Millionen und eine Pseudoleiche. »Er muss Gründe gehabt haben. Ich habe gesehen, wie sie mit Gegnern umspringen, und glaube mir, sie haben Leute, die Pascha durchaus das Wasser reichen können.«
Veras Blick ist nachdenklich, und mir wird klar, dass ich ihr gerade mehr erzählt habe, als ich eigentlich wollte. »Du warst dabei«, fragt sie langsam, »als sie jemanden exekutiert haben?«
Ich schüttle nur den Kopf. So vernünftig und vertraulich Vera sich auch gibt, sie ist eine Zeitbombe, deren Zündschnur ich eben um ein Stück verkürzt habe. Sie hat die Situation sofort zu ihren Gunsten gewendet; mein schlechtes Gewissen gewittert und mir ein paar Informationen zu viel entlockt.
Ich stehe auf, den Rucksack immer noch gegen die Brust gepresst. Draußen färbt sich der Himmel zartrosa. »Möchtest du eine Schmerztablette?«