20 .

L aut dem Zettel an der Tür ist das Lokal seit zwei Monaten geschlossen, trotzdem hängt immer noch der Geruch von Zwiebeln und Bratfett in der Luft. Ich trete ein, blicke mich um. Niemand hier.

Zehn Minuten nach meiner Kontaktaufnahme kam der Rückruf der Frau: Ich solle ins Bahnhofsviertel fahren, zu einer Adresse in der Niddastraße, einem ehemaligen Asia-Restaurant. Die Tür stehe offen, ich solle dort warten.

Die Niddastraße hätte ich gern gemieden – wegen der Junkies einerseits, aber auch, weil die Karpins oft Geschäfte in einem Lokal abwickeln, das um die Ecke liegt. Es ist jetzt eigentlich schon zu spät, um als Paketbotin unterwegs zu sein, ich müsste längst Feierabend haben.

Aber sobald ich das Restaurant betreten habe, fühle ich mich sicherer, vor allem in der Küche. Ich habe mir ein langes Fleischermesser aus dem Block gezogen, als Abschreckungswaffe für den Fall, dass einer der Junkies mich hier hat reingehen sehen und es für eine gute Idee hält, mir zu folgen. Auf diese Weise bewaffnet, sitze ich jetzt auf der Nirosta-Arbeitsplatte und warte. Den Rucksack mit der Walther habe ich ebenso im Auto gelassen wie Boris’ Handy; ich will möglichst verhindern, dass die Malakyans mir das wegnehmen.

Es dauert nicht lange, bis ich höre, wie von der Straße aus die Tür geöffnet wird. Sekunden später fällt sie ins Schloss, schwere Schritte nähern sich, und Ashot steht vor mir. Der Mann mit der Gartenschere. »Ah«, sagt er. »Du siehst anders aus.«

Ohne auf das Messer in meiner Hand zu achten, geht er an mir vorbei, zieht ein paar Schubladen auf und findet in einem der hohen Schränke eine Schachtel Glückskekse. »Ich soll auf dich aufpassen«, stellt er fest und schüttet die Kekse auf die Arbeitsplatte. Nimmt sich drei davon und schiebt mir einen zu. »Hunger?«

Weil ich ihn nicht verstimmen will, greife ich danach. Reiße die goldene Verpackung ab und breche den Keks in der Mitte durch. Die sicherste Tür ist die, die man offen lassen kann , steht auf dem Zettel, und ich lache unwillkürlich auf.

»Was ist?«, fragt Ashot, erntet aber nur ein Kopfschütteln von mir. Ich will ihm nicht erklären, wie fest alle meine Türen verbarrikadiert sind; die zu meiner Wohnung und die zu meinen Gedanken.

Er wirft einen Blick auf die Uhr. »Die anderen werden gleich da sein.« Damit reißt er die nächste Folie auf, steckt den Keks in den Mund und zieht kurz darauf einen ziemlich zerkauten Papierstreifen zwischen den Lippen hervor.

Doch es dauert noch eine Viertelstunde, bis Tigran eintrifft, in Begleitung dreier Männer und einer Frau, die ich auf den ersten Blick aber auch für einen Mann halte. Ihr Haar ist millimeterkurz und wirkt zu grau für ihr junges Gesicht. Einen der Männer kenne ich aus dem Weinkeller; es ist der, der neben mir ins Gebüsch gepinkelt hat. Die zwei anderen habe ich noch nie gesehen.

Mit belustigtem Blick mustert Tigran meine Paketboten-Jacke. »Als Nutte hast du mehr verdient, oder?« Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Du sagst, du brauchst Hilfe. Was ist das Problem?«

»Ihr habt Boris’ Ohr zu Karpins geschickt.«

»Ja. Sie sollen wissen, dass wir Semion gerächt haben.«

»Das tun sie. Und sie haben angekündigt, sie dich vornehmen als Nächsten.«

Er hebt das Kinn, wie um sich noch größer zu machen. »Ist das so? Woher weißt du das?«

»Ich habe Boris’ altes Handy. Dorthin haben sie geschickt SMS , weil sie denken, ihr habt Handy.«

Wortlos streckt er eine Hand aus. Winkt ungeduldig mit den Fingern, als ich nicht reagiere. »Gib es mir.«

»Ich habe nicht dabei.« Genau die Art von Szenario habe ich befürchtet, deshalb liegt das Smartphone in meinem Auto, unter der Fußmatte des Beifahrersitzes.

Tigran wendet sich ab, wechselt ein paar armenische Worte mit dem Mann neben ihm. Dem aus dem Weinkeller. Der verzieht amüsiert die Mundwinkel, zuckt mit den Schultern. Antwortet etwas, das ich ebenfalls nicht verstehe.

Der nächste Satz gilt der kurzhaarigen Frau, die nickt und zu mir tritt. Bevor ich noch reagieren kann, sind ihre Hände überall. Sie tastet grob meinen ganzen Körper ab, ober- und unterhalb der Jacke, auf der Vorder- und der Rückseite. Beinahe amüsiert mich das – sie nehmen so weit Rücksicht, dass sie mich nicht von Männern begrapschen lassen. Das wäre den Karpins denkbar egal gewesen, und wie es aussieht, ist es auch bei den Malakyans die Ausnahme, denn sowohl Ashot als auch Tigrans Begleiter wirken erstaunt.

In einer meiner Hosentaschen ertastet die Frau mein Handy und zieht es mit einem Laut des Triumphs heraus. Tigran greift danach, dreht es in alle Richtungen, bevor er es mir reicht. »Entsperren.«

»Ist meines, das nützt nichts.«

»Entsperren. Sofort.«

Nicht sehr riskant, seiner Anweisung zu folgen. In meinem Telefon ist nichts Verräterisches gespeichert. Nur die Nummern meiner Grafik-Kunden. Die der Armenier selbst. Und die der Ärztin, von der ich den Kinderwagen habe. Ich tippe den Code ein – die Gesichtserkennung habe ich deaktiviert – und halte Tigran das Smartphone hin.

Während er eine App nach der anderen antippt, breitet sich Enttäuschung auf seinem Gesicht aus. Er wirft das Telefon auf die nächstgelegene Arbeitsplatte. »Was haben die Karpins an die andere Nummer geschrieben?«

»Dass es wird geben Krieg. Dass du schmerzhafte Tod bekommst, wenn du klug, du dich erschießt selbst.«

Vielstimmiges Gelächter. Diesmal wechselt Tigran ein paar Sätze mit Ashot, der ihm offenbar etwas bestätigt, in Richtung Tür deutet, mich dann aber mit sehr zweifelndem Blick mustert.

Ich hasse es, nicht zu verstehen, was gesprochen wird, das war schon in meiner Zeit bei den Karpins so. Wenn man dem Dialog nicht folgen kann und keine Ahnung hat, worum es geht, erschrickt man viel heftiger, wenn plötzlich einer ausflippt und die Waffe zieht. Mich haben solche Ereignisse mehr als einmal kalt erwischt, immer habe ich aufgeschrien, und wenn Andrei dabei war, hat er mich dafür verprügelt.

Deshalb bin ich jetzt auf alles gefasst. Das Messer liegt noch auf der Arbeitsfläche, nicht weit von meinem Handy entfernt. Ich könnte es in einer schnellen Bewegung an mich reißen. Falls es nötig werden sollte.

Aber im Moment sieht es nicht so aus, Tigran hat sich der Frau zugewandt. Sie verzieht keine Miene, wartet, bis er fertig gesprochen hat, dann geht sie nach draußen.

»Was passiert?«, frage ich leise.

»Klappe halten«, herrscht mich der Bullige an, der vom Weinberg. Er lacht, sagt etwas zu Tigran, und nun lachen sie alle.

Noch ein vertrautes Gefühl. Ich balle die Hände zu Fäusten, sie sind kalt und schweißnass. Sieht aus, als hätte ich mich verschätzt und mir zu wenig bewusst gemacht, dass die Malakyans nicht meine Verbündeten sind. Nur weil wir denselben Gegner haben, sind wir noch lange keine Freunde. Tigran hat mir Schutz zugesagt, aber was bedeutet das schon, wenn es gilt, einen Krieg zu gewinnen?

Nun legt er mir den Zeigefinger unters Kinn und hebt es an. »Einen Auftrag erledigst du noch für uns, ja? Dann beschützen wir dich.« Er deutet in Richtung Tür. »Sie suchen dich noch immer, die Russenschweine?«

»Äh. Ja.«

»Der Letzte war ja unglaublich scharf darauf, dich in die Finger zu bekommen. Ist das bei den anderen auch so?«

»Ich fürchte ja.«

Tigran lächelt. »Das ist gut.«

Damit ist klar, ich soll ihnen noch einmal den Köder machen, nur diesmal wohl nicht zu meinen Bedingungen. Keine Vorbereitungszeit, so wie bei Boris, kein Abwarten des passenden Moments. Sie werden mich einfach wie einen Wurm am Haken vor die Mäuler der Karpins halten und hoffen, dass einer anbeißt.

Meine Vermutung bestätigt sich fünf Minuten später. Die Frau kommt zurück, ein Bündel Stoff in den Händen. Das sich als Kleid entpuppt – kurz, schwarz und wahrscheinlich eine Nummer zu groß.

»Einer der Russen sitzt drüben im Star Club «, erklärt Tigran mir. »Mit einer Frau. Wir werden unseren Wagen hier im Hof parken, und wenn der Typ dir folgt, rennst du her. Sobald ihr hier seid, kümmern wir uns um den Rest.«

Genau so etwas hatte ich befürchtet. »Das klappt nicht.«

Tigrans Blick verhärtet sich. »Wieso nicht? Du sagst, sie wollen dich unbedingt in die Finger kriegen. Da wird der Kerl sich die Gelegenheit doch nicht entgehen lassen. Oder hast du uns angelogen?«

Ich schüttle den Kopf, fühle Panik in mir aufsteigen. Ich kann es nicht ändern, ich habe ständig Pascha vor Augen. Insgeheim bin ich überzeugt, dass er es ist, der im Star Club sitzt, dort war er früher auch oft. Wenn es sich wirklich um ihn handelt, weiß ich nicht, wie ich auf seinen Anblick reagieren werde. Ob ich dann abhauen kann wie geplant oder einfach starr dastehen werde, bewegungsunfähig wie in einem Albtraum.

Die Männer rund um Tigran haben drohende Haltung angenommen. Niemand hier wird ein Nein akzeptieren. »Ist sicher nur einer?«, wispere ich.

»Ja.«

»Welcher?«

Tigran wendet sich zu der Frau um, fragt sie etwas. Ihre Antwort fällt länger aus als erwartet, aber einen Namen höre ich nicht heraus.

»Sie weiß nicht, wie er heißt«, übersetzt Tigran für mich. »Aber sie ist sicher, er ist einer von ihnen. Sie hat ihn genau gesehen, am Main. Sie war dabei, als sie … das Paket ausgeliefert haben, und sie mussten warten, bis alle weg waren. Sie sagt, sie hat ihn eine halbe Stunde durch ein Fernglas beobachtet. Sie ist sicher.«

Das Paket, aha. Das Vera-Paket. Das Schweinehälften-Paket.

Die Frau hält mir das Kleid hin, und ich nehme es, auch wenn ich nicht verstehe, warum ich mich umziehen muss. Oder doch, man soll mich ja erkennen können. Es soll genau das passieren, was ich schon so lange so angestrengt zu verhindern versuche.

In einem Nebenraum schlüpfe ich aus meinen Sachen und in das Kleid hinein. Langsam und zögernd. Wenn ich mir Zeit lasse, hat der Karpin-Mann vielleicht das Lokal schon verlassen. Doch das scheint auch Tigran klar zu sein. »Mach schnell«, herrscht er mich an. Ich bin gerade dabei, das Kleid über den Kopf zu ziehen, und kann sehen, wie sein Blick an meinen Narben hängen bleibt. Denen am Oberschenkel, denen im Rippenbereich. Kurz denke ich, er wird nach dem Ursprung der Verletzungen fragen, aber das tut er nicht, er kommt bloß näher und zieht mit einem Ruck das Kleid nach unten. Löst den Haargummi und drückt ihn mir in die Hand. »So. Los jetzt.«

Zusammen mit den Sportschuhen muss mein Aufzug seltsam aussehen, doch das ist mein geringstes Problem. Immerhin behindern die Schuhe mich nicht, ich werde rennen können. Tigran schiebt mich auf den Ausgang zu; im letzten Moment sträube ich mich. »Was, wenn ihr irrt? Wenn das niemand von Karpins ist?«

Ein schmerzhafter Stoß, ich stolpere auf die Tür zu. »Mariam irrt sich nicht. Los jetzt. Wir behalten dich im Auge. Komm nicht ohne ihn zurück.«

Der Star Club ist eines der besseren Lokale im Viertel. Ein bisschen plüschig, aber sauber. In den Hinterzimmern werden zwar dubiose Geschäfte abgewickelt, aber man achtet nach außen hin darauf, einen seriösen Eindruck zu erwecken.

Ich war zu meiner Zeit bei den Karpins einige Male dort; ihn zu finden ist kein Problem, er liegt quasi um die Ecke. Ich muss nur die erste Straße links abbiegen und dann geradeaus weitergehen, etwa dreihundert Meter. Es ist eine kurze Strecke, aber für einen schnellen Läufer reicht sie leicht, um mich einzuholen. Einen schnellen Läufer wie Pascha, zum Beispiel. Gegen ihn hätte ich keine Chance.

Du hast es vermasselt, hämmert mein Puls. Wärst du doch einfach in Wien geblieben. Du hast es vermasselt, und heute könnte dein letzter Tag sein.

Als ich die Tür zum Star Club öffne, zittern mir die Knie. Ich bleibe kurz stehen, versuche, mich zu konzentrieren. Wenn ich zulasse, dass die Angst mir alle Kraft aus dem Körper zieht, habe ich jetzt schon verloren.

Der Club ist gut besucht, aber noch nicht voll. Mein erster Blick gilt den Tischen nahe den Fenstern – dort sitzt niemand, den ich kenne. Langsam und mit gesenktem Kopf gehe ich tiefer in das Lokal hinein, bis zu den Billardtischen, aber dort ist ebenfalls niemand.

Er ist fort, denke ich, oder er war nie da. Doch bevor mich noch federleichte Dankbarkeit durchströmt, entdecke ich ihn an der Bar. Nicht Pascha, sondern Jaro. In Begleitung einer blonden Frau, die ich nur von hinten sehe, doch als sie den Kopf ein Stück zur Seite dreht, wird klar, es ist Janina.

Instinktiv wende ich mich ab, tue so, als wäre ich mit jemandem verabredet, den ich nicht entdecken kann. Damit, dass ich Jaro anlocken soll, hatte ich nicht gerechnet. Er ist mir bei Weitem lieber als Pascha, aber ich kann ihn schwerer einschätzen. Wahrscheinlich läuft er nicht ganz so schnell. Sollte ich ihn wirklich in die Fänge der Malakyans locken können, wäre das ein gewaltiger Coup, dann stünden die Karpins ohne Anführer da. Dann müsste Andrei zurückkommen. Zu dumm, dass Janina dabei ist, ich kann nicht riskieren, dass beide mich sehen, denn selbst mit Glück kann ich nur einen in sein Verderben locken. Der – oder die – andere weiß dann, dass ich hier bin.

Ich werde wieder gehen. Den Malakyans sagen, dass nicht nur einer, sondern zwei Karpins ihren Abend hier verbringen und wir die nächste Gelegenheit abwarten müssen.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Janina ihre Hand auf Jaros legt, wie sie sich zu ihm neigt. Lacht. Ich beginne zu verstehen, warum sie Alex loswerden möchte. Und dann steht sie plötzlich auf. Stöckelt nach hinten, in den Bereich, wo sich die Toiletten befinden.

Ich setze mich in Bewegung, noch ohne eine Entscheidung getroffen zu haben. Alles wird davon abhängen, wie dringend Jaroslaw mich zu fassen bekommen möchte. Mit jedem Schritt wird mir bewusster, wie irre das ist, was ich tue, und jetzt könnte ich noch umkehren, zurückgehen, ein paar Prügel von den Malakyans beziehen – töten würden sie mich hoffentlich nicht.

Noch sieben Schritte. Noch vier. Mein Hals ist trocken, ich kämpfe gegen die Panik an, die mir beinahe die Luft nimmt.

Jetzt streift mich Jaros Blick. Mehr zufällig und vollkommen desinteressiert; einen Wimpernschlag später betrachtet er schon wieder die Eiswürfel in seinem Glas.

Er erkennt mich nicht. Woher auch. Niemand scheint ihm Fotos von mir gezeigt haben. In jedem anderen Zusammenhang wäre das großartig, nur kann ich so meinen Auftrag nicht erfüllen, denn wenn Jaro nicht weiß, wer ich bin, wird er mir auch nicht folgen.

Ich atme tief ein. »Entschuldigung«, krächze ich. Wiederhole es, als er nicht reagiert. Jetzt hebt er doch den Kopf, ein höflich fragendes Lächeln im Gesicht. »Ja?«

Er verstellt sich nicht, ich bin ihm wirklich vollkommen fremd. Am liebsten würde ich ihn nur nach der Uhrzeit fragen und kehrtmachen, aber jetzt habe ich mich schon so weit vorgewagt. Und gleich wird Janina zurückkommen.

Ich räuspere mich, halte Jaroslaws Blick mit meinem fest. Jetzt, aus der Nähe, wird eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Andrei sichtbar. Die Augen, es sind diese blauen Augen, eine Farbe wie trübes Wasser.

Ich lächle verkrampft. »Entschuldigen Sie, könnten Sie kurz mitkommen?«

Er wirft einen schnellen Blick zurück über seine Schulter, sichtlich in der Annahme, ich hätte mit jemandem gesprochen, der sich hinter ihm befindet. Doch dort ist niemand.

»Ich?«

Ich nicke. »Ja, bitte. Es dauert auch nicht lange.« Meine Finger umklammern die Kante der Bar so fest, dass sie schmerzen.

»Warum?« Keine Spur von Misstrauen in seiner Stimme, nur Verwunderung. »Müsste ich Sie kennen?«

Ja. Nein. Eigentlich schon. Immerhin war er sicherlich über den Einsatz in Wien informiert, wenn er ihn nicht sogar befohlen hat. Dort haben seine Männer mir nachgestellt, sie haben in meiner Wohnung einen Mord begangen. Er muss auch wissen, dass ich in München aufgetaucht bin. Davon gab es Fotos, die mir zwar nur bedingt geähnelt haben, aber ausreichend waren, um eine Horde Karpins nach mir suchen zu lassen.

»Es ist gerade ungünstig, ich bin nicht alleine hier«, fügt er an und blickt in die Richtung, in die Janina gegangen ist.

»Bitte. Es ist wichtig. Geschäftlich.«

Nun betrachtet er mich genauer. »Geschäftlich? Ich glaube nicht, dass wir schon miteinander zu tun hatten. Darf ich nach Ihrem Namen fragen?«

Es geht schief, es geht völlig schief. Ich sollte sofort verschwinden, bevor Janina mich sieht.

»Ich heiße Amelie«, improvisiere ich. »Einer Ihrer Mitarbeiter hat mich gebeten, Sie zu holen. Es ist dringend, sagt er.«

»Aha.« Jaro zieht sein Handy aus der Tasche seines Sakkos und scrollt über den Sperrbildschirm, offenbar auf der Suche nach einer Nachricht, die zu meinem Auftauchen passt.

»Bitte«, dränge ich, und im gleichen Moment höre ich vom hinteren Ende des Lokals einen Aufschrei. Eine Männerstimme, die jetzt etwas ruft, das ich nicht verstehe. Ganz automatisch weiche ich zurück und sehe aus einem dunklen Winkel hinter den Billardtischen den Mann mit dem steinernen Gesicht auftauchen. Den Bodyguard, der mit ausgestrecktem Finger auf mich zeigt.

Verdammt. Ich drehe mich um und renne. Drücke die Tür auf, stürze hinaus. Höre Jaro hinter mir einige Male »Vadim« rufen, doch dann bin ich auf der Straße, remple eine Frau fast nieder, laufe weiter, egal, ob ich Luft bekomme oder nicht.

Einen einzigen Blick wage ich nach hinten und sehe, dass der Mann mir folgt. Vadim heißt er also, und auch er ist schnell, holt mit jedem Schritt auf. Ich lege an Tempo zu, schlittere um die Ecke, sehe vor mir schon das ehemalige Lokal. Die Tür ist nur angelehnt, ich werfe mich dagegen, höre bereits Vadims Keuchen hinter mir. In dem Moment, als ich den ersten Fuß in das leere Restaurant setze, spüre ich seine Hand auf meiner Schulter.

Ich reiße mich los, schlage nach ihm, stolpere in Richtung Küche. Die anderen, wo sind die anderen?

Hinter mir ein Klicken, wie von einer Pistole, die entsichert wird. Verdammt. Er ist so nah, er kann mich nicht verfehlen. Ich lasse mich zu Boden fallen, und im gleichen Moment sehe ich Tigran, Ashot und die Frau in den Raum treten, Mariam. Höre ein Aufstöhnen und einen dumpfen Schlag. Vadim ist zu Boden gegangen, der bullige Mann aus dem Weinkeller muss versteckt auf der Lauer gelegen und von hinten angegriffen haben.

Ich krieche auf Händen und Knien in Richtung Küche, richte mich erst an der Türschwelle auf. Vadim hat sich auf dem Boden zusammengerollt und die Arme schützend um den Kopf gelegt, seine Pistole liegt eine Schrittlänge von ihm entfernt.

Mariam sagt erst etwas zu Tigran, auf Armenisch, dann wendet sie sich an mich. »Das ist nicht der, den ich gemeint habe.«

»Ich weiß. Aber er gehört zu ihnen. Er macht Schmutzarbeit. Der andere mich nicht erkannt.« Jetzt, wieder einigermaßen in Sicherheit, brennt in mir die Wut darüber, den Falschen in die Falle gelockt zu haben. Jaro wäre ein solcher Treffer gewesen, ihn auszuschalten ein solcher Sieg. Vadim dagegen war zu meiner Zeit eher eine Nebenfigur. »Bringt ihn nach hinten«, dränge ich. »Wenn sie suchen, genügt Blick durch Fenster.«

Tigran, dem es egal zu sein scheint, welchen seiner Feinde er erwischt hat, versetzt Vadim einen Tritt in den Rücken und gibt Ashot und dem Bulligen ein Zeichen. Sie packen Vadim an den Beinen und schleifen ihn in die Küche.

Bisher hat er sich nicht groß gewehrt, wahrscheinlich hat der erste Schlag seinen Kopf oder Nacken getroffen, doch jetzt wird er lebendig. Beschimpft uns auf Russisch, versucht, seine Füße zu befreien; tritt nach seinen Gegnern.

Es hilft ihm nichts. Sie zerren ihn bis in die Küche, und dort fangen sie an, auf ihn einzuschlagen und ihn mit ihren Stiefeln zu bearbeiten, bis er sich nicht mehr rührt.

Ich habe mich abgewandt, mich in eine Ecke gedrückt, als könnte ich mich so vor seinen immer leiser werdenden Schmerzenslauten verstecken. Als er schließlich stumm bleibt, wage ich einen Blick über die Schulter.

Vadim liegt in seinem eigenen Blut, es läuft ihm aus der zertrümmerten Nase und aus dem Mund, sein linker Arm hängt unnatürlich verdreht nach hinten. Aber sein Brustkorb hebt und senkt sich. Er lebt.

»Wir schaffen ihn jetzt fort«, erklärt Tigran. »Wir sorgen dafür, dass seine Freunde wieder Post bekommen.«

Ich frage nicht, ob es auch diesmal ein Ohr sein wird, denn mir ist eben ein Gedanke gekommen, der mich in seiner Kaltblütigkeit schockiert, gleichzeitig könnte er brillant sein. »Warte einen Moment.« Mein Handy liegt immer noch auf der Arbeitsfläche neben dem Herd. Ich greife danach und schieße drei Fotos von Vadims geschundenem Körper, halb darauf gefasst, dass mir Tigran das Telefon aus den Händen reißen und mit dem Fleischklopfer zertrümmern wird. Aber er verzieht bloß den Mund. »Du sammelst Trophäen, ja? Wenn du willst, kriegst du statt der Bilder einen seiner Zähne.«

»Nein. Bitte nicht.« Ich umklammere das Smartphone mit beiden Händen. Mit den Fotos habe ich etwas ganz Bestimmtes vor, Tigran muss sie mir unbedingt lassen. »Niemand von euch auf Bildern.«

Er streckt die Hand aus. »Zeig.«

Ich überreiche ihm das Telefon. Er scrollt sich durch die dürftige Galerie, nickt. »Geht in Ordnung.« Auf einen Wink hin heben seine Leute Vadim hoch und tragen ihn hinaus in den Hof, wo ein Kleinbus parkt. Ich sehe, wie Mariam im hinteren Ladebereich Plastikfolie ausbreitet, dann wende ich mich noch einmal Tigran zu. »Schutz. Du hast versprochen Schutz.«

»Ja.« Er wirkt nicht begeistert darüber, dass ich mich daran noch erinnere. »Also. Wenn du einen Unterschlupf brauchst, fährst du zur Glasklar Autowaschanlage in Griesheim. Sag, ich hätte dich geschickt und du möchtest die Spezial-Diamantwäsche. Mit Unterboden. Dann kümmern sie sich dort um dich.«

Sich kümmern klingt eher bedrohlich als beruhigend. Trotzdem nicke ich. »Glasklar Autowäsche . Spezial-Diamantwäsche. In Ordnung.«

Tigran klopft mir zwischen die Schulterblätter und schiebt mir mit der Schuhspitze meine Jeans zu, die in einem Knäuel auf dem Boden liegen. »Dann Tschüss. Alles Gute. Und sollten die Fotos irgendwo auftauchen, bist du dran.«