E s dauert drei Stunden, bis ich glaube, an der richtigen Stelle zu sein. Ich bin bereits vier Weinberge hoch- und unverrichteter Dinge wieder hinuntergefahren, beäugt von kopfschüttelnden Weinbauern. Auch das macht mir Sorgen, wir nähern uns dem Ende des Sommers, die Lese hat bereits begonnen. Andererseits scheinen die Malakyans kein Problem damit zu haben, den Keller ungestört für ihre Zwecke zu nutzen. Entweder er gehört ihnen, oder der dazugehörige Weinberg wird derzeit nicht bewirtschaftet.
Nun habe ich eine Stelle gefunden, die mich denken lässt, dass Letzteres der Fall ist, denn ich bin auf einen Hügel gestoßen, der vertraut, aber auch verwildert aussieht. Es gibt zwar Rebstöcke, doch sie tragen nur wenige Trauben, überall wuchert Unkraut.
Meine lange Suche hat immerhin den Vorteil, dass ich beide Handys im Auto laden konnte. Das von Boris habe ich immer noch nicht eingeschaltet – so ungeduldig ich vor zwei Tagen war, so zaghaft bin ich jetzt. Die Nachricht von Vadims Tod wird bereits alle Karpins erreicht haben. Vielleicht hat Jaro es geschafft, Andrei davon zu überzeugen, dass die Malakyans dafür verantwortlich sind. Und der angebliche Boris lügt.
Dann ist mein Plan Geschichte. Dann kann ich mir die Aktion im Weinkeller sparen. Vielleicht zögere ich deshalb noch, aber natürlich ist das Quatsch. Die Augen zu verschließen bringt mich nicht weiter.
Ich markiere den Hügel, den ich für einen Treffer halte, auf der Karte meines Smartphones, dann fahre ich dreißig Kilometer Richtung Süden. Auf dem Parkplatz einer Fast-Food-Kette schalte ich Boris’ Handy ein.
Eine Flut von Nachrichten und entgangenen Anrufen. So gut wie der ganze Karpin-Clan hat versucht, Boris oder jedenfalls den Besitzer seines Telefons zu kontaktieren, aber mich interessiert im Moment nur, was Andrei schreibt. Seine Mitteilungen leite ich an meine eigene Adresse weiter, dann gehe ich sofort wieder offline.
Die Übersetzungs-App liefert wie immer merkwürdige Satzkonstruktionen, aber der Sinn lässt sich leicht entschlüsseln.
Du hattest keinen Befehl, Vadim zu eliminieren. Du hättest mich vorher informieren müssen! Slawa sagt, du musst verrückt geworden sein. Alle haben mir versichert, es gibt keine Verschwörung gegen mich, Vadim war mir ebenso treu wie meinem Bruder. Melde dich sofort!
Das hat Boris natürlich nicht getan, entsprechend scharf ist Andreis nächste Nachricht.
Du weißt, wem du Gehorsam schuldest? Wo ist Vadims Leiche? Slawa hat mir heute geschworen, dass er mich niemals verraten würde. Melde dich, sofort.
Es folgen fünf weitere Mitteilungen mit etwa demselben Inhalt, nur der Ton wird immer ratloser, soweit man das anhand der Übersetzung beurteilen kann.
Ich habe mit einer solchen Reaktion gerechnet und scrolle nun durch Anastasias Texte, um den richtigen herauszusuchen. Ich kopiere ihn ins Antwortfeld, dann gehe ich für ein paar Sekunden wieder online und schicke Andrei meine Entgegnung.
Natürlich streitet Slawa alles ab. Was hast du denn erwartet? Er kann dir doch erzählen, was ihm gefällt. Kann er beweisen, dass es stimmt? Glaube mir, er war es, der mir Vadim hinterhergeschickt hat. Sie wissen, dass sie mich loswerden müssen. Sie werden es weiterhin versuchen. Du musst mir nicht glauben, aber ich werde dir einen Beweis für meine Treue liefern. Ich halte meinen Schwur. Nicht mehr lange, und du wirst verstehen.
Hastig aktiviere ich den Flugmodus und verstaue das Handy in meiner Tasche. Dreißig Kilometer zurück, und dann warten, bis es Abend wird. Es ist beinahe geschafft.
Ich habe mich nicht getäuscht, der Weinberg ist der richtige. Die holprigen Serpentinen, eine Aneinanderreihung von Schlaglöchern, schließlich der in den Hang gebaute Keller.
In einer Eingebung habe ich kurz vor Ladenschluss in einem nahe gelegenen Baumarkt noch einen Satz Dietriche und einen Bolzenschneider erstanden – bei allem, was ich bedacht habe, hätte ich fast übersehen, dass ich ja die Tür irgendwie aufbekommen muss.
Ich stelle das Auto an der gleichen Stelle ab, an der ich es beim letzten Mal vorgefunden habe, erleichtert, dass kein anderer Wagen zu sehen ist. Die Malakyans scheinen den Keller heute nicht zu benutzen.
Trotzdem scheue ich mich, mir den Weg bis dorthin mithilfe einer Taschenlampe zu suchen, sondern taste mich im Dunkeln vorwärts. Finde die Tür und stelle fest, dass sie nur angelehnt ist.
Ich ziehe sie einen Spalt weit auf und lausche mit angehaltenem Atem. Ist der Keller wirklich leer? Der bellende Ruf eines Rehs in unmittelbarer Umgebung lässt mich zusammenschrecken, mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren. Doch sonst bleibt es ruhig. Keine Stimmen aus dem Gewölbe, und schon gar keine Schreie.
Ich husche zum Auto zurück und schleppe die Taschen mit meinen Utensilien zum Eingang, muss zweimal hin und her, bis alles am Platz ist. Dann öffne ich die Kellertür ganz, innerlich vorbereitet auf alle Arten von Schrecken. Zurückgelassene Leichen oder deren Einzelteile, Blut, Exkremente, die bekannten Säure- oder Laugenfässer.
Doch was mir entgegenschlägt, ist Krankenhausgeruch. Desinfektionsmittel, begreife ich und schalte die Taschenlampe an. Leuchte staunend im Raum umher.
Die Malakyans müssen stundenlang geputzt haben. Der Boden ist völlig sauber, auch dort, wo Boris gesessen und schließlich sein Leben ausgehaucht hat. Wahrscheinlich würde man nicht einmal Fingerabdrücke finden, nach DNA -Spuren müsste man gezielt suchen.
Ich trage meine Taschen in den Keller, schließe die Tür von innen und schalte erst dann die Deckenlampe an. Der Eindruck von Sauberkeit verstärkt sich. Das einzige Requisit, das unweigerlich die Erinnerung an Boris’ letzte Nacht heraufbeschwört, ist die Heckenschere, die ich im Wandregal entdecke. Ebenfalls blitzsauber.
Wer hier geputzt hat, weiß ich nicht, aber ich werde jetzt sein oder ihr Werk zunichtemachen. Ich lehne den Spiegel an die Wand, ziehe eines der neuen T-Shirts und eine der billigen Jeans an und schraube die erste Flasche Rinderblut auf.
Ich bin damit so lange durch Hessen gefahren, dass es nun Zimmertemperatur hat. Der Eisengeruch sorgt dafür, dass mein Magen sich zusammenzieht, aber für Zimperlichkeit ist jetzt nicht die Zeit. Es wird gleich noch viel schlimmer werden.
Wenn die Karpins loslegen, gehen die ersten Schläge immer ins Gesicht. Ich weiß, wie Boris arbeitet und gieße vorsichtig ein wenig Blut in mein Haar, knapp über dem linken Ohr. Es bahnt sich seinen Weg über den Hals, das Schlüsselbein, sickert in den Stoff des Shirts.
Sieht gut aus. Ein wenig lasse ich auf die Jeans tropfen, dann gieße ich mir eine größere Menge über die Hände. Menschen, die verletzt werden, greifen unwillkürlich an die Stellen, an denen es schmerzt, langen dabei in Blut. Danach versuchen sie aber, andere Körperteile zu schützen, sie krümmen sich, sie verschmieren das Blut überall.
Genau das tue ich jetzt auch. Nachdem der Boden so bedauerlich rein ist, hole ich eine Handvoll Erde von draußen und verstreue sie, trete ein wenig darauf herum. Dann lege ich mich hin, wälze mich von rechts nach links, ziehe die Beine an, halte mir den Kopf, den Bauch, die Knie.
Das Ergebnis im Spiegel sieht erschreckend echt aus. Die charakteristische Mischung aus Dreck und Blut. Leider wird das nicht genügen, denn das geübte Auge sieht sofort, dass da keine Wunden sind. Keine Schwellungen.
Ich reiße die Packung mit den Wattepads auf und stopfe mir zwei davon zwischen Wange und Unterkiefer. Schon besser. Der nächste Schritt wird mehr Überwindung kosten, denn jetzt sind die Rasiermesser dran.
Erst säubere ich meine Hände mit den Desinfektionstüchern, dann beziehe ich Stellung vor dem Spiegel. Meine Finger zittern, zweimal lasse ich die Hand wieder sinken, dann setze ich einen kleinen Schnitt direkt an der rechten Augenbraue. Es quillt erstaunlich viel Blut heraus, läuft mir ins Auge, es brennt, ich wische mit dem Handrücken darüber – das war ungeschickt, es war zu früh, ich bin halb blind.
Zeit für eine kurze Pause. Das Blut soll gerinnen, bevor neues dazu kommt. Das ist der Hauptgrund, warum ich echtes und kein Theaterblut genommen habe – ich will nicht riskieren, dass man den Unterschied sieht. An der Art, wie sich das Licht darin spiegelt, wie es sich auf der Haut verteilt, wie es trocknet.
Die Zeit nutze ich, um zwei Risse in das T-Shirt zu machen. Einen am Kragen, einen an der Seitennaht.
Meine Augenbraue hört allmählich zu bluten auf. Ich hole tief Luft und setze einen zweiten Schnitt, am Kinn. Jetzt sehe ich aus, als bräuchte ich dringend einen Krankenwagen.
Ich tupfe mir Rinderblut in den Mundwinkel, gieße noch ein wenig in mein Haar und verteile den Rest der Flasche auf dem Boden. Dann bringe ich Boris’ Handy in Position. Fixiere es mit einem Gummispanner an der Lehne des einzigen vorhandenen Stuhls, richte es auf die Blutlache, schalte die Kamera-App ein und prüfe den Bildausschnitt. Noch nicht perfekt, ich rücke den Stuhl ein Stück nach rechts … jetzt.
Selbstauslöser auf zehn Sekunden einstellen, auf den Boden legen, die Hände wie in Abwehr erheben. Das Handy schießt drei Fotos hintereinander, dann muss ich den Auslöser neu aktivieren.
Gute zwanzig Minuten lang fotografiere ich mich in unterschiedlichen Positionen auf dem Boden – mal mit schmerzverzerrter Grimasse, mal schlaff und scheinbar bewusstlos, mal auf dem Rücken liegend, dann auf dem Bauch. Ich versuche, einen meiner Unterschenkel so vom Knie abzubiegen, als wäre er gebrochen, als hätte jemand das Gelenk zertrümmert. Es tut weh, aber ein paar Sekunden lang halte ich es aus.
Nach über vierzig Fotos mache ich eine Pause und sehe mir die Ausbeute an. Nicht schlecht, bei zwei oder drei Bildern wird mir beinahe übel, weil sie so sehr das einfangen, dem ich seit meinem vorgetäuschten Tod entgehen will: Angst, Schmerz, Hilflosigkeit. Dem tatsächlichen Tod, der unausweichlich bevorsteht.
Für die nächsten Aufnahmen mache ich es schlimmer. Mehr Blut, mein ganzes Haar ist jetzt verklebt. Das T-Shirt über eine Schulter heruntergerissen. Die Jeans am linken Oberschenkel blutgetränkt. Ich richte das Handy neu aus und setze mich an den Holzpfosten, an den die Malakyans Boris gefesselt haben.
Seine Position einzunehmen gibt meiner Scharade eine neue Note, bestehend zu gleichen Teilen aus Grauen und Befriedigung. Erstes Bild: Kopf nach hinten, den blutüberströmten Hals zeigen. Nächstes Bild: offener Mund, geschlossene Augen. Drittes Bild: Grimasse, als würde ich heulen und an den Fesseln zerren.
Für die letzte Serie tupfe ich Rinderblut in einer horizontalen Linie meine linke Halsseite entlang. Warte, bis es getrocknet ist, und wiederhole den Vorgang. So oft, bis die Spur wie ein unsauberer Schnitt aussieht. Als hätte mir jemand mit einem nicht allzu scharfen Gegenstand die Kehle aufgeschlitzt. Eine klaffende Wunde werde ich nicht vortäuschen können, also muss ich im Anschluss alles mit viel Blut kaschieren.
Bevor ich die entscheidenden Fotos schieße, ziehe ich mich aus, denn sonst würde Andrei misstrauisch werden. Er weiß, dass Boris die Gelegenheit in jeder denkbaren Weise nützen würde.
Ein bisschen Rinderblut zwischen die Schenkel. Noch einmal in dem Gemisch aus Dreck und Blut herumrollen, dann suche ich mir eine bisher unbesudelte Stelle des Kellers und gieße den Rest der zweiten Flasche aus. Mache das Handy schussbereit und lege mich bäuchlings hin, den Kopf mitten in der Lache, den Mund offen, die Augen blicklos.
Fünfmal wiederhole ich das Prozedere, bevor ich mir die Bilder ansehe. Sie wirken so echt, dass sie sich wie ein böses Omen anfühlen. Ich schließe die Galerie. Insgesamt werde ich drei Fotos auswählen, auf denen man mich gut erkennen kann. Drei Stadien eines langsamen Todes.
Eine Flasche Blut ist noch übrig, die packe ich zurück in die Tasche, gemeinsam mit den anderen Utensilien. Vor dem Spiegel säubere ich mich notdürftig mit den Reinigungstüchern, ziehe meine sauberen Jeans und ein frisches T-Shirt an, achte sorgfältig darauf, dass ich nicht versehentlich etwas liegen lasse. Das Haar kann ich mir leider nicht waschen, nicht hier. Ich habe bei meinem Einkauf dummerweise nicht an Handtücher gedacht, aber fürs Erste kann ich mir eines der überzähligen Shirts um den Kopf wickeln, turbanartig.
Mit der Tasche über der Schulter und dem Spiegel unter dem Arm sehe ich mich noch einmal um. Der Keller sieht aus, als hätte man hier etwas geschlachtet, aber damit müssen die Malakyans zurechtkommen. Sie sind ja gut im Putzen, wie sich gezeigt hat, und sie haben nichts zu befürchten: Sollte jemand die Polizei rufen und sollte man den Clan mit dem Keller in Verbindung bringen können – es ist nur Rinderblut. Das wird jede Laboruntersuchung bestätigen.
Mitternacht ist vorbei, als ich ins Auto steige, und ich weiß nicht, wo ich hinsoll. Nicht in die Wohnung, nicht nachts. Vielleicht morgen, wenn das Haus zum Leben erwacht ist.
Ich fahre aus den Weinbergen hinaus, langsam zurück in Richtung Frankfurt. Nehme nicht die Autobahn, sondern die Nebenstraßen und entdecke nach kurzer Zeit zu meiner Rechten einen kleinen See, mehr einen Tümpel.
Wieder eine holprige Straße und an ihrem Ende ein Parkplatz, leer. Ein verwittertes Schild weist darauf hin, dass das Schwimmen im Badeteich auf eigene Gefahr erfolgt.
Ich steige aus, krame die kleine Shampoo-Flasche aus meiner Tasche und suche mir im Dunkeln den Weg zum Wasser. Dort tauche ich einfach den Kopf ein, fahre mir mit beiden Händen durchs klebrige Haar, kann spüren, wie nasse Kälte an die Kopfhaut dringt, wie sich das Blut löst.
Dass ich die ganze Flasche Shampoo aufbrauche, verbuche ich unter einmalige Umweltsünde, den besonderen Umständen geschuldet. Aber ich will dem metallischen Gestank maximalen Kokosduft entgegensetzen.
Als ich fertig bin, wringe ich mein Haar aus, wickle es in eines der verbleibenden sauberen Shirts und setze mich wieder ins Auto. Es ist ruhig hier, ich höre nur von Ferne vereinzelt Motorengeräusche, aber niemand kommt näher. Jetzt ist die Zeit gekommen, um mir meine Fotoausbeute genauer anzusehen.
Im dunklen Auto wirken die Bilder doppelt furchtbar, das Blutbad zweifelsfrei überzeugend. Ich wähle drei Bilder aus, die ich noch einmal genau auf verräterische Details überprüfe, auf kleine Fehler, die sie als Fake entlarven würden. Aber da ist nichts, ich habe auf alles geachtet.
Der passende Text befindet sich bereits unter Anastasias Übersetzungen; ihn einzugeben fühlt sich an, wie die Zeitschaltuhr an einer Bombe zu aktivieren. Wenn Andrei ihn liest, wird er wissen, dass ich in Frankfurt war. Er wird hoffentlich glauben, dass ich diesmal wirklich tot bin. Was er dann tun wird, steht in den Sternen.
Mein Geschenk für dich!
Sie ist zurückgekommen, sie war dumm genug. Slawa hat Befehl gegeben, sie in Ruhe zu lassen, er weiß genau, dass du in Gefahr bist, solange sie lebt. Er hofft, dass sie gegen dich aussagt und du für immer im Gefängnis landest. Auch wenn du mir nicht glaubst, so ist es.
Aber das kann jetzt nicht mehr geschehen, ich hatte Erfolg auf der Jagd. Sie wird nie wieder ein Wort sagen, nicht gegen dich oder gegen irgendjemand anderen. Dafür habe ich gesorgt. Du hättest hören sollen, wie sie geschrien hat, aber sie hat es verdient, die Verräterin. Heute ist ein guter Abend. Ich habe mein Versprechen gehalten. Wenn wir uns sehen, trinken wir darauf. Boris
Ich hänge die drei Bilder im Attachment an, hole das Telefon aus dem Flugmodus und tippe auf Senden . Während die Mitteilung rausgeht, treffen fünf neue ein. Von Slawa und Janina. Es wäre an der Zeit, mich jetzt auch mit ihnen zu beschäftigen, aber heute schaffe ich das nicht mehr. Ich nehme das Handy vom Netz, mittlerweile ist das ein Ablauf, den ich so verinnerlicht habe wie ein- und ausatmen. Als ich vom Parkplatz fahre, bedaure ich, dass ich meine Nachricht an Andrei ausgerechnet von hier geschickt und mich damit auffindbar gemacht habe. Es wäre ein guter Ort zum Übernachten gewesen.
Ich fahre nach Griesheim. Obwohl ich damit nicht gerechnet hätte, brennt bei der Glasklar Autowaschanlage noch Licht; von außen kann ich in dem winzigen Kassenraum zwei rauchende Männer in blauen Latzhosen sitzen sehen.
Vorsichtig klopfe ich gegen die Scheibe, beide Köpfe schnellen herum, dann springen beide gleichzeitig auf. Der Größere von beiden kommt zur Tür. »Ja?«
»Ich möchte eine Spezial-Diamantwäsche. Mit Unterboden.«
Der Mann mustert mich von oben bis unten. Mein Haar ist noch feucht, mein Gesicht weist zwei Schnitte auf und ist fleckig vom Abschrubben des Bluts. Nach ein paar Sekunden dreht er sich um und ruft dem anderen auf Armenisch etwas zu. Der kommt ebenfalls zur Tür, die Zigarette hängt ihm schief im Mundwinkel. Sie unterhalten sich kurz. »Wie heißt du?«, fragt dann der Erste.
»Nadja.«
Der Zweite hat sein Handy ans Ohr gehoben und telefoniert. Nach einiger Zeit nickt er und gibt dem Ersten ein Zeichen. Sie zeigen mir einen Innenhof, in dem ich mein Auto parken kann, und eine winzige Kammer hinter einem Reifenlager, in der ein Klappbett steht.
»Willst du neue Nummernschilder?«, sagt der Erste und deutet auf mein Auto.
»Das wäre großartig.«
»Ist morgen erledigt.« Er kramt einen verbogenen Schokoriegel aus der Brusttasche seiner Latzhose und legt ihn aufs Fensterbrett. »Gute Nacht.«
Der Gummigeruch der Autoreifen droht die schlimmsten Erinnerungen in mir zu wecken, doch ich schaffe es, das Bild von dir, brennend auf dem Hallenboden, wegzuschieben. Denke stattdessen daran, wie ich Stepjan erschossen habe. Lege mich aufs Bett und drehe Boris’ Handy zwischen den Fingern; auf dem Display klebt immer noch Rinderblut.
Morgen werde ich Andreis Antwort haben. Ich scrolle durch meine blutigen Selfies und wundere mich über die Ruhe, die sich über mein Inneres legt. Ich habe meinen entscheidenden Zug gemacht. Jetzt ist der schwarze König dran.