D ie Waschstraße macht erstaunlich viel Lärm, sie weckt mich kurz nach sieben aus einem Traum von dunklen Tümpeln und blutenden Kühen. Ich suche und finde eine Toilette, daneben befindet sich eine Dusche mit wackeligen Schiebewänden, in der offenbar zuletzt Ölkannen ausgewaschen worden sind. Trotzdem dusche ich und trockne mich mit Papierhandtüchern ab. Während ich in meine Sachen schlüpfe, sehe ich durch ein kleines, trübes Fenster, wie im Hof einer der Männer die Nummernschilder an meinem Auto tauscht.
»Hallo«, sagt er, als ich nach draußen trete. »Frühstück?«
Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal gegessen habe. »Gern. Danke.«
Er lotst mich in das kleine, verrauchte Büro und gießt Kaffee in eine Tasse. Legt ein Brötchen und eine Banane auf einen Teller und stellt alles vor mir ab. »Kollege schläft jetzt. Du bleibst noch?«
Ich schüttle den Kopf. »Aber vielleicht komme ich wieder.«
Sie haben mir mein Auto auch vollgetankt, wie ich feststelle, als ich den Motor starte und losfahre. Die erstbeste Autobahnauffahrt hinauf, ohne bestimmtes Ziel. Ich werde als Nächstes die Nachrichten von Jaro und Janina übersetzen, die gestern eingetroffen sind. Erst danach werde ich nachsehen, ob und was Andrei geantwortet hat.
An einer Raststätte bleibe ich stehen, kaufe mir eine Dose Cola und beginne mit Jaros Mitteilungen. Wie kannst du meinem Bruder weismachen wollen, dass ich gegen ihn intrigiere , lautet die erste. Ich habe nie etwas Derartiges beabsichtigt. Du lügst mit Absicht, ich frage mich, warum . Außerdem glaube ich jeden Tag weniger, dass du wirklich Boris bist .
Kluger Mann, dieser Jaroslaw Karpin. Der auch diesmal keine Antwort von mir erhalten wird. In seiner nächsten Botschaft ändert er den Ton völlig, äußert erstmals eine unmissverständliche Drohung: Wenn du nicht Boris bist, bist du mein Feind. Solltest du aber wirklich Boris sein, bist du ab nun erst recht mein Feind. Wenn du denkst, ich bin gnädiger als mein Bruder, irrst du dich. Zähle deine Stunden .
Zu dem Zeitpunkt, als Jaro diese Nachricht geschrieben hat, konnte er noch nichts von den Rinderblutbildern wissen, da war ich gerade erst dabei, sie zu schießen. Aber Andrei wird ihm die Fotos des verprügelten Vadim geschickt haben.
Janinas Nachrichten sind schwieriger einzuordnen. Wenn der Jäger in die eigene Fuchsfalle gerät, kann es sein, dass die Bären ihn fressen , schreibt sie. Jedenfalls ist es das, was ich aus dem Wortsalat herauslese, den die Übersetzungs-App ausspuckt. Vielleicht ist es ein russisches Sprichwort.
Alexander steht im Weg , lautet der nächste Text. Er muss weg. Schaff ihn mir endlich vom Hals .
Ich greife mir unwillkürlich an die Kehle, dahin, wo Alex mich mit der Kette gewürgt hat. Sieht nicht gut aus für ihn, aber ich werde es nicht sein, die ihn für Janina aus dem Weg räumt. Sie hat noch eine dritte Nachricht geschickt:
Pascha sagt, du musst tot sein. Wärst du noch am Leben, hättest du dich bei ihm gemeldet. Er sagt, du bist Boris’ Mörder und ein doppelgesichtiger Dämon, den er lebendig häuten wird, bevor er ihn verbrennt.
Das klingt sehr nach ihm, und allein die Erwähnung seines Namens ist wie ein böses Omen. Unwillkürlich blicke ich mich um, als könnte schon der Gedanke an ihn Pascha plötzlich aus dem Boden wachsen lassen.
Ich wünschte, ich könnte ihn ebenso in die Falle locken wie Boris, aber er hat kein heimliches Hobby. Keines, von dem ich wüsste.
Okay, die alten Nachrichten sind abgearbeitet. Jetzt wird es ernst. Ich schalte den Flugmodus aus und halte die Luft an. Drei Sekunden lang Stille, drei Sekunden, die genügen, um mich fürchten zu lassen, dass mein Plan fehlgeschlagen ist. Dann vier Signaltöne. Ich lasse hörbar die Luft aus den Lungen. Zwei Nachrichten sind von Andrei.
Ich bin so begierig darauf, sie in die Übersetzungs-App einzufüttern, dass ich vergesse, das Handy wieder in den Offline-Modus zu schalten. Erst als eine weitere Mitteilung klingelnd und vibrierend eintrifft, hole ich es hastig nach. Janina hat sich also auch noch gemeldet, aber sie ist im Moment zweitrangig. Wer zählt, ist Andrei.
Und zu meiner Erleichterung ist er hellauf begeistert. Wie es aussieht, hat der Bluff funktioniert. Du bist mein Prinz , schreibt er. Ich wusste, auf dich kann ich zählen. Die Sache mit Vadim ist verziehen, du wirst getan haben, was nötig war. Mit der Frau hattest du hoffentlich deinen Spaß! Diese Fotos! Wie sie Angst hat, wie sie schreit! Hast du noch mehr davon? Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen .
Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Nun bin ich also zum zweiten Mal tot, es gibt Beweisfotos, die schauderhafter kaum sein könnten. Wie ich Andrei kenne, hat er sie sofort an den Rest des Clans weitergeleitet, in Begleitung einer Menge abfälliger Bemerkungen: Da seht ihr es, ihr Nullen, ihr Kriecher! Boris hat geschafft, wozu ihr alle zu dumm oder faul oder unwillig wart. Wahrscheinlich hat er die Wahrheit gesagt: Dass ihr sie absichtlich geschont habt, weil ihr mich aus dem Weg haben wolltet, aber das könnt ihr jetzt vergessen .
Oder so ähnlich. Vielleicht noch plus ein paar Drohungen an die, die er für Verräter hält. Ich sehe mir an, wann er diese Zeilen an Boris geschrieben hat – gerade einmal dreiundzwanzig Minuten, nachdem ich ihm die frohe Botschaft und die Bilder gesendet habe.
Jaro weiß ebenfalls Bescheid, doch er hat erst heute Morgen reagiert. Seine Mitteilung ist lang, und er hat eines der Fotos angehängt: das, auf dem ich scheinbar an den Pfosten gefesselt bin, die Kleidung zerrissen, das Gesicht zu einer Grimasse aus Angst und Schmerz verzerrt.
Sag mir, Boris, ist das die Frau, die Andrei schon so lange sucht? Ich bin ihr vor zwei Tagen im Star Club begegnet, von dort aus ist Vadim ihr gefolgt und in eine Falle getappt. In deine Falle. Erkläre mir den Zusammenhang. Hast du mit ihr unter einer Decke gesteckt?
Ein Gefühl, als würde etwas in mir zu Staub zerfallen. Jaroslaw hat mich auf den Bildern wiedererkannt, und nun zieht er beinahe die richtigen Schlüsse. Doch der Text ist noch nicht zu Ende.
Oder hast du sie erst als Köder benutzt und dann beseitigt? Bist du so plötzlich verschwunden, damit du dein eigenes Spiel spielen kannst? Das ist dreckig, Boris. Ein Scheißverhalten den eigenen Leuten gegenüber. Ich weiß, dass du mit Vadim Probleme hattest, aber ihn zu töten war dir nicht erlaubt.
Oder hattest du es auf mich abgesehen? Die Frau wollte, dass ich mit ihr nach draußen gehe. Hättest du dann statt Vadim mir aufgelauert und mich erschlagen? War das dein Plan? Klingt in meinen Ohren logisch. Wir werden dich finden, Boris – oder wer du auch bist –, und dann wirst du uns alles sagen, solange du noch eine Zunge hast .
Am Himmel sind Wolken aufgezogen, es beginnt zu tröpfeln. Niemand wird Boris noch einmal töten können, mich aber schon. Ein drittes und letztes Mal.
Beim zweiten Durchlesen der Nachricht wird mir noch etwas klar: Vera muss wirklich untergetaucht sein. Der Clan hat sie nicht erwischt, und sie ist auch nicht aus freien Stücken zurückgegangen, sonst wüsste man dort von mir. Sonst würde Jaro nicht die Frage nach der Identität der Frau auf den Fotos stellen.
Ich sollte den Standort wechseln, ich sitze schon viel zu lange auf diesem Parkplatz. Doch vorher will ich noch schnell Andreis abschließende Nachricht lesen; sie ist gerade einmal achtundvierzig Minuten alt.
Ich leite alles in die Wege. Halte dich bereit und warte auf meine Anweisungen .
Er glaubt mir, sage ich mir vor, während ich irgendeine Autobahn entlangfahre. Er glaubt mir, er hat sich überlisten lassen, er misstraut seinen eigenen Leuten, er wird sich sein Imperium sichern wollen.
Was bedeutet: Er wird zurückkommen.
Bis dahin muss ich durchhalten, ohne vom Rest des Clans aufgestöbert zu werden, meine Wohnung bleibt also weiterhin Sperrzone. Noch einmal bei Mia unterschlupfen kommt nicht infrage. Das Waschstraßenzimmer der Malakyans behalte ich für Notfälle in der Hinterhand, aber ich brauche einen Ort, an dem ich mich auch eine Woche lang verkriechen kann.
Ein Blick auf die nächste Autobahnausfahrt zeigt mir, dass ich mich schon fast siebzig Kilometer weit von Frankfurt entfernt habe. Ich setze den Blinker und fahre ab. Beim nächsten Supermarkt werde ich stehen bleiben und ein paar Lebensmittel kaufen, die man nicht kühlen muss, und …
Mein Blick bleibt an einer Werbetafel hängen, einer, die auf ein nahes Gewerbegebiet aufmerksam macht. Dort gibt es Schuhdiscounter, ein Möbelhaus, eine Elektrowarenkette – und einen Fachhandel für Camping- und Outdoorbedarf.
Entschlossen lenke ich den Wagen nach links. Eines meiner Probleme hat sich eben erledigt.
Dank Veras und meiner Schutzgelderpressung muss ich nicht sparsam sein. Knapp siebenhundert Euro investiere ich in ein Kuppelzelt, das man mit wenigen Handgriffen aufstellen kann, eine sich selbst aufblasende Matratze, einen Schlafsack und ein kleines Kissen. Wie Google mir verrät, gibt es in nur zehn Kilometern Entfernung einen Campingplatz, dessen Sternebewertung zwar mäßig ist, der für meine Zwecke aber perfekt zu sein scheint.
An der Rezeption zeige ich einen der falschen Personalausweise vor, fülle einen blass kopierten Anmeldezettel aus und suche mir einen Zeltplatz am Rand der Anlage, fast schon im Wald. Der WLAN -Empfang ist gut hier, die Toiletten sind nicht weit entfernt.
Eine halbe Stunde später steht mein Zelt, die Matratze ist aufgeblasen, und ich rolle mich darauf zusammen. Kann fühlen, wie sich mein Puls verlangsamt. Seit den einsamen Nächten im Keller meines Abbruchhauses habe ich mich nicht mehr so sicher gefühlt.
Morgen werde ich nachsehen, ob Andrei sich noch einmal gemeldet hat. Heute werde ich in diesem Zelt liegen, dem Gitarrespiel der Leute zuhören, die drei Plätze weiter campen, und mir vorstellen, ich müsste nie mehr hier raus.
Ich schlafe so gut wie seit Wochen nicht, und als ich am nächsten Tag früh um sieben den Reißverschluss des Zelteingangs öffne, bin ich merkwürdig optimistisch. Der Campingplatz hat eine kleine Bar, dort gönne ich mir ein Frühstück mit Schinken und Eiern – ungetarnt, wie mir erst nach ein paar Minuten so richtig bewusst wird. Sofort setze ich mich mit dem Gesicht zur Wand. Ich darf jetzt nicht unvorsichtig werden, bloß weil Andrei mich wieder für tot hält. Es ist noch nicht überstanden.
Wie recht ich damit habe, stellt sich zwei Stunden später heraus. Ich habe mein Notebook in den Rucksack gepackt und mich ins Auto gesetzt, bin an den Frankfurter Stadtrand gefahren und habe Boris’ Handy aktiviert.
Andrei hat sich gemeldet. Zwei Nachrichten hat er geschrieben, und kaum, dass ich ihren Inhalt kenne, wird mir schlecht. Davor war meine einzige Befürchtung, dass er doch noch einen Fehler an den Fotos gefunden haben könnte. Aber das Problem ist ein anderes, und es ist mindestens so schlimm.
Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor ich mich auf den Weg mache , schreibt er. Aber ich habe Pascha von meiner Rückkehr informiert. Ihm traue ich ebenso sehr wie dir, ihr wart immer ein gutes Team. Setz dich mit ihm in Verbindung, er will dich treffen. Wenn ich zurück bin, werden wir drei den Clan wieder zu dem machen, was er einmal war .
Ich lasse das Handy sinken. Pascha, er will, dass ich mich mit Pascha treffe. Das ist der beste Schachzug, den er machen konnte. Wenn ich mich weigere, ahnt Andrei sofort, dass etwas im Busch ist, dass ich vielleicht wirklich nicht Boris bin. Wenn ich mich darauf einlasse, ist es Selbstmord. Meine besten Chancen bestehen darin, einen günstigen Treffpunkt zu wählen und Pascha hinterrücks zu erschießen. Aber ich weiß, dass ich wahrscheinlich nicht ruhig zielen könnte. Ich kann mir kaum sein Gesicht vorstellen, ohne dass meine Hände zu zittern beginnen.
Noch bevor ich zurück zum Campingplatz fahre, suche ich mir ein Café mit WLAN , versteckt in einem Innenhof gelegen. Dort schreibe ich gut dreißig Textentwürfe, die ich mir von Anastasia übersetzen lassen möchte. Dazu Textbausteine, die ich nach Bedarf kombinieren kann. Ich werde sie nicht alle verwenden, aber ich werde eine große Auswahl haben. Bevor ich alles an Anastasia sende mit dem Hinweis, dass es relativ eilig ist, weil Deadline und so, überweise ich ihr noch vierhundert Euro.
Und dann, auf dem Weg zurück zum Campingplatz, fällt mir ein, wie ich die Sache angehen könnte. Ein Risiko wird bleiben, denn Pascha ist nicht dumm, er hat die Instinkte einer Ratte. Er wird nicht auf den ersten meiner Vorschläge eingehen.
Aber vielleicht auf den zweiten.
Ich sitze im Zelt, eine angebrochene Tafel Nougatschokolade neben mir, die meine Nerven beruhigen soll, leider aber auch Ameisen anlockt. Anastasia hat mir die ersten Textentwürfe bereits zurückgeschickt und dafür von mir noch ein paar neue bekommen.
Ich weiß, dass Boris auf seinem Handy Paschas Nummer eingespeichert hat, natürlich, aber sie scheinen sich gegenseitig nie Nachrichten geschickt zu haben, bis auf die eine, die ich letztens empfangen habe. Den Vorschlag zu einem gemeinsamen Puffbesuch. Sonst nichts.
Was, wenn Boris und er sonst immer telefoniert haben? Wird es Pascha verdächtig vorkommen, wenn sein Kumpel plötzlich auf schriftlichen Austausch besteht?
Es ist warm heute, im Zelt wird es stickig, und meine Schokolade schmilzt. Besser, ich gehe nach draußen. In den Wald. Ich muss frische Luft schnappen. Und einen Anruf machen, von dem viel abhängt. Vielleicht kann ich mir Verstärkung beschaffen.
Hey, Pascha! Schön zu hören, dass es dir gut geht. Ich war nicht sicher, ob du noch auf meiner Seite stehst, aber wenn der Alte sagt, es ist so, dann will ich es mal glauben.
Was du wissen solltest: Slawa und die anderen haben zwei Anschläge auf mich versucht, deshalb bin ich untergetaucht. Egal, was sie dir erzählen, glaub es ihnen nicht. Wahrscheinlich haben sie auch die Sache mit dem Ohr selbst inszeniert, damit kein Verdacht auf sie fällt, wenn ich für immer verschwunden bin. Also sei vorsichtig, ja? Ich traue ihnen zu, dass sie dich genauso aus dem Weg schaffen wollen, sobald sie mitbekommen, dass du Andrei bei seiner Rückkehr hilfst.
Mein Vorschlag: Wir treffen uns am 29 . um 11 Uhr nachts an der alten Ziegelfabrik Wiesbaden. Ist eine Ruine, liegt an der Naudorfer Straße. Dort besprechen wir, wie wir weitermachen .
Die Nachricht ist seit fünf Stunden raus, ich habe sie im Morgengrauen weggeschickt; dafür bin ich noch bei Dunkelheit aufgebrochen. Dass die Karpins das Handy orten können, erschwert mir mein Leben beträchtlich, lässt mich massenhaft Kilometer machen, aber ich hoffe, mein Zickzackkurs verwirrt sie. Wenn Boris’ Handy sich ins Netz einbucht, tut es das nie zweimal an derselben Stelle.
Nun sitze ich in einem Imbiss nahe Kassel und habe eben Paschas Antwort übersetzt. Natürlich lehnt er meinen Vorschlag ab, er würde viel lieber auf ein Bier gehen. Warum nicht in Frankfurt? Dort gäbe es so viele Lokale, in denen keiner uns vermuten würde. Verfolgungswahn sei nicht angebracht, niemand wage sich an uns beide heran.
Mit so etwas habe ich gerechnet, und ich habe die richtige Antwort bereits eingespeichert.
Keine Chance. Ich habe Vadim gekillt, ich bleibe in Deckung, bis Andrei zurück ist. Er wird mich brauchen, um seinen Bruder vom Thron zu stoßen. Wenn du nicht auf unserer Seite stehst, kann ich ihm das ja ausrichten.
Muss auch nicht die Ziegelei sein. Was hältst du von der ehemaligen Tankstelle in Bad Soden? Direkt an der Hanauer Landstraße. Findest du sicher .
Ich wette mit mir selbst, dass er auch diesen Treffpunkt nicht akzeptieren, sondern einen Stripclub vorschlagen wird, oder einen der Keller, in dem illegale Hundekämpfe stattfinden.
Aber ich habe noch drei gute Alternativen in petto, die ich zur Diskussion stellen kann. Danach wird es schwieriger.
Wie ich ihm wirklich gegenübertreten soll, weiß ich noch nicht. Es fällt mir schon schwer, nur an ihn zu denken, ohne dass sich sofort körperliche Reaktionen einstellen. Die o-beinige Gestalt und das freundliche Gesicht mit den schönen, dunklen Augen, die auch dann noch lächeln, wenn er jemanden mit einer Drahtschlinge erwürgt oder ihm Gliedmaßen abtrennt. Mein Magen verkrampft sich sofort, das Atmen fällt mir schwerer. Wie ich eine direkte Konfrontation durchstehen soll, übersteigt meine Vorstellungskraft.
Ich greife nach meinem Glas, schütte das eiskalte Mineralwasser in mich hinein. Es schmerzt, es holt mich in die Gegenwart zurück. Ich darf mir nicht ständig vor Augen halten, mit wem ich es zu tun haben werde. Boris war nicht viel besser als Pascha, und er ist Geschichte. Das sollte mir eigentlich Mut machen.
Aber es war Pascha, der dich angezündet hat. Pascha, mit seinem Sturmfeuerzeug und der Vorfreude in den Augen.
Umso mehr, sage ich mir. Ich werde die Walther dabeihaben und auf alles gefasst sein. Ich werde ihn nur als Ziel betrachten, das es zu treffen gilt, nicht als Schlächter, der zu allem fähig ist. Besonders werde ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob es fair ist, jemandem in den Rücken zu schießen, sondern es einfach tun. Und falls ich ihm bloß die Lungen zerschieße und er langsam stirbt, werde ich kein schlechtes Gewissen haben.
Meine Prognose stellt sich als richtig heraus. Es dauert zweieinhalb Tage, bis ich mich mit Pascha auf einen Treffpunkt einigen kann. Der Vorschlag kommt von ihm: ein Steinbruch, der noch ein Stück westlich von Bad Soden liegt, mitten im Taunus. Ich habe mir die Lage online angesehen und zugestimmt, auch wenn der Ort noch einsamer liegt, als ich es mir gewünscht hätte. Auch wenn ein Schuss dort wohl mehrfach als Echo widerhallen wird. Ich werde eben den Schalldämpfer auf die Walther stecken.
Und natürlich werde ich mir den Ort vorher ansehen. Morgen wollen wir uns treffen, denn heute, schreibt Pascha, hätte er noch einen Auftrag zu erledigen. Dreiundzwanzig Uhr, an der Baracke bei der Einfahrt. Das sollte mir ja dann abgelegen genug sein, scherzt er. Und fügt an, wie froh er ist, dass ich noch lebe.
Womit er Boris meint, jedenfalls hoffe ich das.
Den Nachmittag nutze ich für einen Anruf, der weniger gut verläuft, als ich gehofft habe, am Ende aber auf etwas Ähnliches wie eine Zusage hinausläuft. Entsprechend nervös mache ich mich gegen fünf Uhr auf meine Erkundungsfahrt, ich werde ungefähr eine Stunde brauchen und vermute, dass der Steinbruch um sechs Uhr schon verlassen sein wird.
Dank Berufsverkehr bin ich erst um halb sieben vor Ort. Ich parke meinen Wagen im Wald, laut Navi einen halben Kilometer vor dem Ziel. Der Platz ist ideal, ein mehrere Meter langer Holzstapel verdeckt das Auto so, dass es von der Straße her kaum zu sehen ist. Bei Dunkelheit gar nicht mehr.
Von hier aus nehme ich einen Fußweg, den lange niemand mehr gegangen sein dürfte. Da und dort liegen noch vom letzten Sturm abgeknickte Jungbäume quer über dem Weg, zweimal bleibe ich an Dornenranken hängen.
Nach zehn Minuten kommt der Steinbruch in Sicht. Ich schleiche so nah heran, dass ich einen Blick in die Einfahrt werfen kann. Wie es aussieht, ist längst Feierabend; nichts bewegt sich mehr auf dem gesamten Areal; die Bagger parken mit gesenkten Schaufeln neben Steinhaufen und Schuttcontainern. Einer auch ein Stück erhöht, da, wo die staubige Serpentine sich den Hang hinaufzieht.
Keine Stimmen mehr, keine Maschinengeräusche. Ich richte mich auf und betrete das Gelände. Was ich brauche, ist ein Platz, an dem ich mich morgen auf die Lauer legen und möglichst große Teile des Steinbruchs überblicken kann. Ein paar der Container bei und hinter den Baracken sehen vielversprechend aus. Während ich mich umsehe, werde ich mir schmerzlich des Verlusts meiner Barrett bewusst – mit ihr hätte ich schon auf Pascha schießen können, sobald er irgendwo in der Nähe aufgetaucht wäre. Und mit dem Zielfernrohr hätte ich auch getroffen.
Langsam marschiere ich die Serpentine hoch, passiere die erste Kurve. Bleibe kurz an dem Bagger stehen, aber der ist als Versteck zu unsicher. Wer weiß, wo er morgen parken wird. Nachdem ich die zweite Kurve hinter mir gelassen habe, beschließe ich, umzukehren. Von hier aus habe ich zwar den perfekten Überblick, dafür aber nur wenig Chancen auf Deckung. Und ich bin viel zu weit entfernt für einen Schuss, der auch sein Ziel findet. Es besteht zwar die Hoffnung, dass ich Pascha nicht ganz alleine gegenüberstehen werde, aber sicher sein kann ich nicht …
Ich habe den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sich vom Wald her Motorengeräusche nähern. Sekunden später taucht ein dunkler SUV in der Einfahrt auf. Ich ducke mich hinter einen Steinbrocken – jetzt vom Betreiber oder einem Techniker erwischt zu werden wäre verhängnisvoll. Was, wenn er die Polizei ruft? Und selbst, wenn er mich laufen lässt, würde er sich sofort an mich erinnern, wenn die Arbeiter in zwei Tagen ungewöhnliche Spuren hier entdecken. Blut zum Beispiel. Und wer weiß, vielleicht würde morgen jemand hier Wachdienst schieben.
Der Wagen bleibt neben dem größten Bagger stehen. Die Fahrertür öffnet sich. Der Mann, der Sekunden später aussteigt, ist Pascha.