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M ein Körper reagiert genauso, wie ich es befürchtet habe. Mit Zittern, Schluckstörungen, Herzrasen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Pascha ebenfalls seine Vorkehrungen trifft. Aber offenbar hält er es für möglich, dass Boris ihm eine Falle stellen will, obwohl es doch Pascha selbst war, der den Treffpunkt vorgeschlagen hat.

Er sieht sich um. Ich mache mich klein hinter meinem Felsbrocken, aber nun kann ich nicht mehr sehen, was er tut. Erst, als ich Schaufelgeräusche höre, wage ich es wieder, an dem Stein vorbeizulugen.

Pascha hat eine seiner Pumpguns dabei und vergräbt sie in einem mannshohen Haufen lockerer Erde. So, dass ein winziges Stück des Trageriemens hervorlugt, kaum sichtbar. Als er damit fertig ist, entfernt er sich ein paar Schritte, weicht dann zu dem Haufen zurück, erwischt blind den Riemen und reißt das Gewehr hervor. Innerhalb von fünf Sekunden ist er schussbereit.

Ein Probelauf. Ich beobachte ihn, wie er das Prozedere wiederholt, wie er die verstreute Erde wieder zusammenschaufelt, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld.

Danach bringt er etwas unter dem Rand einer der Schuttmulden an, ich vermute, es ist ein Messer mit magnetischer Scheide. Auch hier probt er den schnellen Zugriff auf die Waffe und prüft, ob ahnungslose Steinbruchmitarbeiter sie zufällig entdecken könnten.

Das Bewusstsein, dass wir einander so nah sind, dass da kilometerweit kein anderer Mensch ist als der, den ich am meisten fürchte, lässt meine Panik anwachsen. Ich atme, aber die Luft erreicht meine Lungen nicht. Mein Herz schlägt viel zu schnell, immer wieder trübt sich sekundenlang mein Blick. Ruhig, sage ich mir. Dass er Vorbereitungen trifft, ist ein gutes Zeichen. Er wird tatsächlich alleine kommen. Und du hast morgen möglicherweise Hilfe. Wenn dein Anruf erfolgreicher war, als er sich angefühlt hat.

Möglicherweise. Wer weiß, ob es überhaupt zu einem Morgen kommt, denn Pascha ist nun offenbar zufrieden mit dem Messerversteck. Er dreht sich um und macht sich auf den Weg die Serpentine hinauf. Zu mir.

Ich brauche meine ganze Beherrschung, um nicht aufzuspringen und loszurennen. Warum nur habe ich meine eigene Waffe nicht auf meine Erkundungstour mitgenommen? Mit jedem Schritt, den Pascha näher kommt, würde meine Chance wachsen, ihn auch wirklich zu treffen. Das Magazin der Walther fasst fünfzehn Schuss, mit den ersten fünf würde ich es sicher schaffen, ihn niederzustrecken. Aber meine Pistole liegt im Auto, im Unterschied zu der, die Pascha in der Hand hält. Er spaziert den Weg hinauf, nähert sich der ersten Kurve. Durch das Rauschen in meinen Ohren kann ich ihn eine Melodie summen hören.

Er wird mich entdecken, und dann wird er schießen; dabei ist es wahrscheinlich sogar egal, ob er mich erkennt oder nicht. Ich habe bereits zu viel gesehen. Immerhin wird es schnell gehen – die Schneidbrenner bleiben mir erspart. Außer, er zerschießt mir bloß ein Knie und zerrt mich dann in seinen Wagen.

Pascha ist jetzt auf Höhe des Baggers angekommen, und meine Hand schließt sich um einen faustgroßen Stein. Es muss mir gelingen, ihn zu überraschen, ihm irgendwie den Schädel einzuschlagen, bevor er reagieren und die Waffe heben kann, dann komme ich mit dem Leben davon.

Dafür gibt es nur eine einzige Möglichkeit: zu warten, bis er auf die zweite Kurve zugeht, denn dann muss er direkt unterhalb von mir vorbei. Ich werde springen, genau auf ihn drauf, und sofort mit dem Stein zuschlagen, so lange, bis ich den Schädelknochen brechen höre.

So wie vorher ich inspiziert er nun den Bagger, wiegt die Pistole in der Hand, als würde er überlegen, ob sie sich hier gut verstecken lässt. Er geht weiter. Ich spanne die Muskeln an. Noch fünf Sekunden. Noch vier.

Zwei Schritte, bevor wir auf gleicher Höhe sind, bleibt Pascha wieder stehen. Blickt nach unten, auf die beiden Baracken – und kehrt um. Ich sacke in mich zusammen, beinahe hätte ich den Stein fallen lassen. Mein Atem kommt mir viel zu laut vor, aber Pascha dreht sich nicht um. Ich sehe ihn zurückgehen, gezielt auf das hintere der Gebäude zustreben und die Pistole unter etwas schieben, das wie eine rostige, alte Öltonne aussieht.

Er wirkt zufrieden, als er sich im Kreis dreht. Er hat eine Art Dreieck angelegt, an jeder Spitze eine Waffe, die er schnell erreichen kann. Falls es nicht Boris ist, der hier morgen auf ihn wartet, ist Pascha vorbereitet. Wenn doch, kann er überzeugend demonstrieren, dass er unbewaffnet gekommen ist.

Ich glaube trotzdem, dass er etwas potenziell Tödliches am Körper tragen wird, aber so ist er auf alle Eventualitäten vorbereitet. Noch einmal überprüft er die drei Verstecke. Tarnt den Gewehrriemen ein wenig besser, nickt zufrieden. Dann steigt er in sein Auto und fährt davon.

Ich liege auf Händen und Knien hinter meinem Felsbrocken, und als die Motorengeräusche verklingen, beginne ich unkontrolliert zu heulen. Meine Tränen tropfen auf den sandigen Boden. Es ist eine Mischung aus Erleichterung, Angst und Trauer, die mich zusammenbrechen lässt. Trauer um dich. Paschas Anblick und dein Tod sind in meinem Kopf so fest miteinander verknüpft, dass ich dich beinahe vor mir sehe. Mit dem Reifen um den Oberkörper und der Panik in den Augen. Sie mag keine Pistolen , höre ich Andrei lachen. Vielleicht sind Messer ihr lieber?

Langsam richte ich mich auf, wische mir übers Gesicht, spüre den körnigen Sand auf meinen Händen. Oh doch, mittlerweile mag sie Pistolen, und sie geht recht geschickt mit ihnen um. Besser als mit Messern, aber am liebsten hat sie beides. Und ein Gewehr noch dazu.

Ich warte noch fünf Minuten länger, allmählich wird es dunkel. Als Erstes hole ich mir das Messer, das Pascha gut getarnt unter den gebogenen Rand der Mulde geheftet hat. Der Magnet ist stark, ich brauche Kraft, um es abzulösen. Als Zweites ist die Pistole dran. Ein Griff unter die Öltonne, und sie gehört mir.

Das Gewehr aus dem Erdhaufen zu ziehen, ist ebenfalls kein Problem, nur bringe ich ihn damit halb zum Einsturz; Erde verteilt sich rundherum. Ich werde sie zurückschaufeln, genau so, wie Pascha es vorhin getan hat, aber zuerst tue ich noch etwas anderes.

Der Gewehrriemen ist mit Karabinern an stählernen Ösen befestigt. Ich löse sie, lege die Waffe auf den Boden, stecke den Riemen aber in die Erde zurück, bevor ich den Haufen in die ursprüngliche Form bringe. Ein paarmal noch zupfen und schieben, dann sieht es so aus wie zuvor. Ein dunkles Stück Kunststoffgewebe vor dunklem Hintergrund.

Schwer beladen suche ich mir bei schwindendem Licht den Weg zurück zu meinem Auto. Ich habe eben die Vorzeichen umgekehrt.

Eine weitere Nacht im Zelt, ein schwülwarmer Morgen. Vielleicht mein letzter, denke ich, als ich den Reißverschluss nach draußen öffne. Der Gedanke ist mir vertraut, mit ihm bin ich auch früher oft aufgewacht.

Paschas Messer habe ich, anders als die anderen Waffen, mit ins Zelt genommen. Die Klinge ist auf einer Seite gezackt, auf der anderen rasiermesserscharf. Und sie ist lang, sicher dreißig Zentimeter von der Spitze bis zum Heft.

Es war Paschas Messer, jetzt ist es meines, und ich beschließe, es als Glücksbringer zu betrachten, auch wenn ich mir vorstellen kann, wofür es bisher eingesetzt wurde. »Messer sind ihr lieber«, murmle ich und beginne, den Rucksack für die Nacht zu packen.

Natürlich fahre ich viel zu früh in Richtung Steinbruch, früher noch als am Tag zuvor. Ich will das Auto so hinter dem Holzstoß parken, dass man es von der Straße aus wirklich nicht sehen kann. Notfalls werde ich es mit Ästen und Erde tarnen.

Doch das ist gar nicht nötig, wie sich zeigt. Der Platz ist perfekt, allerdings muss ich bis dreiundzwanzig Uhr noch sechs Stunden totschlagen. Derzeit wird im Steinbruch noch gearbeitet, ich kann Motoren und Maschinengeräusche hören. Gegen halb sechs verebben sie, dann hören sie ganz auf, ein Auto nach dem anderen verlässt das Gelände.

Ich mache mich auf den Weg, querfeldein, um auch sicher niemandem zu begegnen, denn ich trage eine Pumpgun in den Händen und einen Rucksack mit zwei Pistolen und einem Kampfmesser auf dem Rücken. Sobald ich den Einfahrtsbereich des Steinbruchs überblicken kann, lege ich mich flach auf den Bauch. Zwei Autos stehen noch auf dem Parkplatz; in das erste steigt gerade ein rundbäuchiger Mann ein und fährt los. Erst zwanzig Minuten später verlässt auch der letzte Wagen das Gelände, und ich richte mich auf.

Wo ich Paschas Ankunft abwarten will, weiß ich bereits. Einer der Container, in dem abgetragene Erde auf Abtransport wartet, ist lose mit einer Plane bedeckt, unter die ich mich legen kann. Maximaler Sichtschutz bei bestmöglichem Ausblick, denn der Behälter ist neben einer der beiden Baracken platziert.

Bequem ist es dort allerdings nicht. Ich schiebe Erde und Steine so zurecht, dass sich nichts davon in meinen Körper bohrt, lege die Pumpgun neben mir ab, umfasse den Griff der Walther und ziehe mir die Plane bis über den Kopf; nur ein Sichtschlitz bleibt frei.

Es ist immer noch schwül, vorhin habe ich es aus der Entfernung donnern gehört, doch das Gewitter ist in eine andere Richtung davongezogen. Ein Blick auf die Uhr: kurz nach halb acht. Ich muss mich auf eine lange Wartezeit einstellen, obwohl ich fast sicher bin, dass Pascha früher als verabredet hier auftauchen wird. Einfach, weil der Erste auf dem Spielfeld die besseren Voraussetzungen vorfindet.

Zu Beginn hält meine Nervosität mich wach und aufmerksam, ebenso wie die Feuchtigkeit der Erde, die nach und nach durch meine Hose dringt. Nach zwei Stunden wird es schwieriger. Meine Gedanken driften ab, vorzugsweise in die Vergangenheit, zu früheren Begegnungen mit Pascha. Eine qualvolle Hinrichtung reiht sich in meiner Erinnerung an die nächste, und ich kann fühlen, wie meine Angst den Charakter ändert, wie sie zu Panik wird. Die das Letzte ist, was ich derzeit brauchen kann. Besser, ich präge mir die Details der Umgebung ein, noch ist das Tageslicht nicht verschwunden, doch um elf Uhr wird es stockdunkel sein. Ich habe zwar eine Taschenlampe im Rucksack, will sie aber nicht verwenden, sie wäre wie eine Zielscheibe aus Licht.

Gegen neun wird es wirklich dunkel, aber kaum habe ich das für mich festgestellt, flammen bei der Einfahrt zum Steinbruch zwei Lampen auf, ebenso wie jeweils eine bei jeder Baracke. Nachtbeleuchtung. Ich bin noch nicht sicher, ob ich das gut oder schlecht finde. Tatsache ist aber, ich beginne zu frieren. Es kühlt jetzt sehr schnell ab, und ich möchte mich möglichst nicht bewegen. Die Kälte beginnt in den Fingern und den Zehen; von da aus arbeitet sie sich in Richtung Körpermitte vor. Selbst schuld. Ich habe mich viel zu früh hier eingefunden.

Da und dort ist jetzt Rascheln zu hören, und jedes Mal krampft sich mein Magen zusammen. Doch es sind nur Tiere – oder der Wind in den Baumwipfeln. Manchmal hört es sich an, als würde jemand Geröll lostreten, kleine Mengen an Sand und Steinen, die den Hang herunterkollern. Doch danach herrscht jedes Mal wieder Stille.

Bis kurz nach zehn vom Waldweg her Motorbrummen bis zu mir dringt. Näher kommt. Es hört sich nicht nach einem Auto an, und das bestätigt sich, sobald das Fahrzeug aus dem Dunkel des Waldes ins Licht der Einfahrtsbeleuchtung rollt.

Ein Motorrad. Der Fahrer trägt einen schwarzen Helm, eine schwarze Lederjacke und dunkelgraue Jeans. Er fährt eine kleine Runde, kommt ganz nah an mir vorbei und stellt dann die Maschine hinter einem Container am Tor ab.

Ich muss Paschas Gesicht nicht sehen, um ihn zu erkennen, mir sind seine Gestalt und seine Bewegungen vertraut. Wie er sich nach dem Absteigen streckt. Wie er sich umblickt. Wie er spielerisch einen Stein wegkickt und krummbeinig auf die erste Baracke zugeht, auf die Seite, die im Schatten liegt. Dort verschwindet er, und es ist wieder still.

Ich liege unter meiner Plane und atme flach, plötzlich beherrscht von der Angst, dass sich Nies- oder Hustenreiz anbahnen könnten. Dass Pascha nicht abwartend im Dunkeln sitzt, sondern um die Baracke schleicht, um ruckartig die Plane von meinem Container zu reißen.

Es ist so ruhig geworden, dass ich nach zwanzig Minuten denke, er ist vielleicht gar nicht mehr da. Was natürlich nicht stimmen kann, denn sein Motorrad steht immer noch an der Einfahrt, glänzend schwarz und schlank. Irgendwann höre ich ein Räuspern, knirschende Schritte. Pascha tritt wieder ins Licht, den Helm hat er mittlerweile abgenommen. »Boris?«, ruft er in die Nacht. Weit entferntes Donnern ist die einzige Antwort. Pascha sieht auf die Uhr, zuckt mit den Schultern. Murmelt etwas vor sich hin, das ich nicht verstehe.

Ich umklammere den Griff meiner Pistole. Wenn ich ruhig hier liegen bleibe, wird einfach gar nichts passieren. Pascha wird irgendwann aufgeben, wieder auf seine Maschine steigen und zurück in die Stadt fahren. Er wird Andrei darüber informieren, dass Boris nicht aufgetaucht ist, und Andrei wird das als Zeichen dafür nehmen, dass etwas nicht stimmt. Er wird keiner meiner gefakten Nachrichten mehr Glauben schenken.

Ich hatte gehofft, dass zu diesem Zeitpunkt meine Verstärkung eingetroffen sein würde, auch wenn niemand mir etwas versprochen hat. Aber das war wohl zu optimistisch. Ich werde irgendwann aus diesem Container steigen und handeln müssen. Schon allein die Vorstellung lähmt mich.

Es ist nun fast elf, und Pascha wird sichtlich ungeduldig. Er taucht in die Schatten und kommt wieder heraus, zückt zu meinem Entsetzen sein Handy – aber er telefoniert nicht, sondern scheint nur zu checken, ob jemand ihm eine Nachricht geschrieben hat. Boris zum Beispiel, der das Treffen absagt.

Und dann schlendert er direkt auf meinen Container zu.

Mein Körper verkrampft sich. Hier wäre nun eine Chance, die vielleicht nie wiederkommt, gleichzeitig ist es ein Bild, das mir aus meinen Albträumen grauenhaft vertraut ist. Pascha, der in der Dunkelheit auf mich zukommt, immer näher, mit einem Feuerzeug in der Hand.

Ich packe die Walther fester. Schiebe den Lauf samt Schalldämpfer langsam unter der Plane hervor. Pascha ist nur noch zehn Schritte entfernt, doch das in seiner Hand ist kein Feuerzeug, sondern ein Smartphone. Das Display beleuchtet seine Gesichtszüge, die mir so verhasst sind.

Ich tue es jetzt. Ich muss.

Es ist, als würde ich mir von außen dabei zusehen, wie ich die Pistole entsichere und ziele. Es entsteht nur ein winziges Geräusch, ein Klicken, doch Pascha scheint es gehört zu haben. Er blickt hoch, und ohne nachzudenken, drücke ich ab, zweimal, sehe, wie er stürzt, sich aber sofort zur Seite rollt, wieder aufspringt und Deckung sucht.

Verfehlt. Ich Idiotin habe ihn verfehlt.

Hektisch reiße ich die Plane zur Seite und springe aus dem Container; die Pistole in der einen, das Gewehr in der anderen Hand. Es ist unhandlich, und ich lege es auf den Boden, ziehe hastig ein herumliegendes Stück Wellpappe darüber. Pascha muss hinter der zweiten Baracke in Deckung gegangen sein, ich kann ihn weder hören noch sehen.

Geduckt schleiche ich hinter einen Container, der ganz im Dunkeln liegt. Pattstellung. Mir läuft der Schweiß in die Augen, aber ich wage es nicht, ihn wegzuwischen, aus Angst, mich in meinem Versteck zu verraten.

Dafür höre ich nach kurzer Zeit einen russischen Fluch von jenseits der Baracke. Und dann wieder ein fragendes »Boris?«, dem eine Menge weiteres, wütendes Russisch folgt.

Ich bleibe bewegungslos, verstehe Paschas Taktik nicht. Will er mich zu sich locken? Wahrscheinlich, und das bedeutet, er ist bewaffnet. Ich hebe vorsichtig einen Stein auf und werfe ihn gegen einen der Container, die gegenüber stehen. Ein metallischer Knall, und im nächsten Moment springt Pascha aus seiner Deckung, feuert in Richtung des Geräuschs, feuert auch in meine Richtung, aber ich habe mich flach auf den Boden gelegt, das Gesicht in den Kies gedrückt.

Dann ist es wieder ruhig. Entweder Pascha wechselt das Magazin, oder …

Ein Schatten huscht hinter einem Bagger vorbei. Auf den Erdhaufen zu, den er gestern präpariert hat – oder auf sein Motorrad. Pascha will sich entweder neu bewaffnen, oder er will abhauen. Wobei Zweiteres das Ende aller meiner Pläne bedeuten würde.

Im Bruchteil einer Sekunde kläre ich mit mir selbst die Frage, ob ich wirklich bereit bin, einen Menschen zu erschießen, und beantworte sie mit Ja. Diesen Menschen schon. Der Entschluss halbiert meine Angst, ich springe auf die Beine und trete hinaus ins Licht. »Hallo, Pawel.«

Er fährt herum, ich kann sein Gesicht nicht sehen, sehr wohl aber seine Hand mit der Pistole, die er hochreißt. Ich springe sofort zur Seite, aber aus seiner Waffe löst sich kein Schuss. Er muss wirklich das ganze Magazin leer geschossen haben.

»Erkennst du mich nicht mehr?« Meine Stimme schwankt, fast als wäre ich gerührt über das Wiedersehen.

Er dreht den Kopf zur Seite, als würde er allein mit dem linken Auge besser sehen können. Dann verzieht sein Mund sich zu diesem typischen Lächeln. So lächelt Pascha, bevor er jemandem die Finger bricht. »Du?«

Ich wünschte, die Walther in meiner Hand würde nicht zittern. »Ja.«

Er lacht. »Aber von dir habe ich doch erst Fotos gesehen.« Sein slawischer Akzent ist breit wie eh und je. »Viel Blut. Du warst nackt.« Er wirkt jetzt völlig entspannt. Streicht sich das Haar aus dem Gesicht und steckt die ungeladene Pistole in den Gürtel. »Alles Fake?«

Ich nicke, bemerke, wie er unmerklich immer weiter in Richtung Erdhaufen zurückweicht.

»Wo ist Boris?«

»Tot.« Ich spucke ihm das Wort gewissermaßen vor die Füße und rechne mit einer sichtbaren Reaktion – Pascha und Boris waren lange Zeit unzertrennlich. Man hat nur selten einen ohne den anderen gesehen. Doch Pascha hebt bloß eine Augenbraue. »Wirklich? Schade. War dann doch sein Ohr in dem Paket?«

Wieder nicke ich. Pascha steht jetzt nur noch zwei Schritte von dem Erdhaufen entfernt.

»Hast du ihn gekillt?«

Darauf gebe ich keine Antwort. Selbst wenn ich wollte, ich wüsste nicht, welche. In gewisser Weise habe ich es getan, wenn auch nicht mit eigenen Händen.

»Hm.« Pascha tritt noch einen kleinen Schritt zurück. »Und jetzt willst du mich töten?« Sein Lächeln wird breiter, er deutet auf die Walther. »Damit?«

»Ja.« Ich sage es voller Überzeugung, trotzdem wirkt Pascha nicht beunruhigt. Wahrscheinlich, weil er sieht, dass seine Gegenwart es mir nach wie vor unmöglich macht, die Pistole ruhig zu halten. Aber das spielt keine Rolle, von meinen fünfzehn Schuss sind noch dreizehn übrig. Ganz sicher werde ich nicht dreizehnmal danebenschießen.

Er weicht noch einen Schritt zurück, gleich hat er den halb vergrabenen Gewehrriemen in Reichweite. Ich kann die Vorfreude in seinem Gesicht sehen. »Du wirst mich also wirklich töten? So wie deinen Lover?«

Dass er dich erwähnt, macht es einfacher. »Ja, nur mit viel mehr Freude«, sage ich, und noch bevor ich das letzte Wort zu Ende gesprochen habe, packt er den Gewehrriemen und reißt ihn mit einem Ruck aus der Erde.

In all der Zeit, die ich ihn kenne, habe ich Pascha noch nie so überrascht gesehen. Mit halb geöffnetem Mund starrt er erst den Riemen, dann mich an. Diesmal bin ich es, die lächelt, doch mein Triumph ist von ebenso kurzer Dauer wie seine Verblüffung. Er packt den Riemen an beiden Enden und schnellt auf mich zu, und fast lasse ich mich überrumpeln. Aber nur fast.

Ich drücke ab. Einmal, zweimal, doch erst beim dritten Mal keucht Pascha auf und geht zu Boden. Hält sich das linke Bein, offenbar habe ich den Schenkel knapp oberhalb des Knies getroffen.

Die Waffe auf seinen Kopf gerichtet, gehe ich einen vorsichtigen Schritt näher. Pascha hat die Zähne gebleckt. Flucht auf Russisch. Blut sickert zwischen seinen Fingern hervor. Und mit einem Mal finde ich es schwierig, den finalen Schuss abzufeuern. Selbst als er versucht, sich wieder aufzurichten und mich mit bloßen Händen anzugreifen, weiche ich ihm nur aus. Ihn zu töten, während ich mich gegen ihn verteidige, wäre kein Problem gewesen. Sogar ihn hinterrücks zu erschießen, solange er noch unverletzt war, hätte ich geschafft.

Aber jetzt wäre es eine Hinrichtung. Eine unverdient gnädige – Pistole an den Kopf und peng, aus. Ich bringe es nicht über mich, abzudrücken, obwohl Pascha es nun tatsächlich schafft, wieder auf die Beine zu kommen. Seine Hose ist blutdurchtränkt, sein Gesicht schmerzverzerrt. »Leg die Waffe weg, dann tue ich dir nichts«, sagt er.

Ich versuche, überlegen aufzulachen, es misslingt. »Du träumst, Arschloch.«

»Und du stirbst gleich, Hure.«

Ist er dumm genug zu denken, die Pistole, die er versteckt hat, wäre noch an ihrem Platz, nachdem das Gewehr weg ist? Scheint so, denn er wendet sich in Richtung Öltonne. Ich sehe ihm dabei zu, wie er sich abmüht, halte meinen Sicherheitsabstand, ziele die ganze Zeit auf seinen Kopf. Früher oder später muss ich ihn erschießen, es gibt einfach keine Alternative, ich kann ihn nicht lebend hier stehen lassen. Seine Leiche stellt mich vor wesentlich weniger Probleme, denn niemand wird mich mit ihm in Verbindung bringen. Offiziell bin ich ja immer noch tot, und wenn man meine DNA hier irgendwo nachweisen kann, wird man sie einer Frau zuordnen, die vor fast zwei Jahren erschossen wurde.

Pascha hat den halben Weg zur Öltonne zurückgelegt, als das angeschossene Bein unter ihm nachgibt. Er stürzt, unterdrückt einen Schrei, seine Haut ist blasser als zuvor und glänzt vor Schweiß. Rund um uns rauscht der Wald im auffrischenden Wind, und nun donnert es wieder, näher als zuletzt. Es wird Zeit. Ich gehe näher heran, nehme die Pistole mit beiden Händen und ziele auf Paschas Schläfe.

»Andrei wird dich in Scheiben schneiden, wenn du mich tötest«, knurrt er und robbt von mir fort. »Er wird ein tagelanges Fest daraus machen. Du wirst sehen.«

»Andrei ist noch weit weg«, erwidere ich. »Er denkt außerdem, dass Boris mich erledigt hat, nicht? Also spar dir deine dummen Drohungen.«

Nun lächelt er wieder, überheblich, und das gibt den Ausschlag, dieses Lächeln, das so oft der Auftakt für die Schmerzen anderer war.

Ich mache einen Schritt auf ihn zu, nah genug, um mein Ziel nicht zu verfehlen, aber mit ausreichend Entfernung, damit er nicht plötzlich nach einem meiner Beine greifen und mich aus dem Gleichgewicht bringen kann. Ich werde ihm in die Stirn schießen, mittig. Und ich will, dass er weiß, was kommt. »Du musst dir nicht die Mühe machen, zu der Tonne zu robben«, sage ich. »Ich habe auch die Pistole gefunden, die du versteckt hast. Genauso wie das Messer.«

Er stößt einen Laut aus wie ein wütendes Tier in der Falle, greift nach einem Stein, wirft ihn nach mir und verfehlt mich um gut einen Meter.

»Ich schätze, das war es dann.« Ich atme tief ein und wieder aus. »Mach die Augen zu, Pascha.«

In diesem Moment tritt Tigran Malakyan aus dem Wald.