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D ie App hat diesmal keinen Blödsinn übersetzt, Anastasia bestätigt mir den Inhalt: Andrei ist drei Stunden entfernt und will sicher sein, dass niemand vom Versteck des Schlüssels weiß.

Ich präpariere die Botschaft, die ich morgen früh schicken will. Ich überprüfe, ob ich alles Wichtige in den Rucksack gepackt habe. Ich lade das Magazin der Walther neu und teste, ob der Schalldämpfer gut sitzt. Ich studiere im Internet den Plan des Frankfurter Hauptfriedhofs.

Dann bleibt nichts mehr zu tun, außer mich auf den Balkon zu setzen und in die Nacht hinauszustarren. Über mir blinken die Positionslichter eines Flugzeugs im Sinkflug.

Was auch immer morgen passiert, das wird wohl meine letzte Nacht in dieser Wohnung sein. Die nächste verbringe ich vielleicht schon in Untersuchungshaft. Oder auf der Flucht. Oder im Jenseits.

In der Küche steht noch eine angebrochene Flasche Rotwein, der Inhalt reicht gerade für ein Glas. Ich blicke in den Himmel und proste dem nächsten Flieger zu, der zur Landung ansetzt. Proste dir zu. »Wünsch mir Glück.«

Andrei beherrscht meine Träume, damit hätte ich rechnen müssen. Ich habe ihn vor mir, wie er lacht, als Boris seiner Freundin die Brustimplantate rausschneidet. Als Pascha eines der Strichmädchen erwürgt, das zum dritten Mal versucht hat abzuhauen. Mit einer Drahtschlinge, die sich tief ins Fleisch gräbt.

Beim Aufwachen fühle ich mich, als hätte man mich verprügelt, mein Körper ist verkrampft, jede Bewegung schmerzt.

Schlechte Voraussetzungen, doch nach einer heißen Dusche und zwei Tassen Espresso fühlt sich mein Körper wieder einsatzfähig an. Für die letzte Nachricht, die ich von Boris’ Handy aus schicke, suche ich mir keinen sicheren Ort mehr. Die Karpins können das Gerät ruhig in dieser Wohnung orten.

Ich habe niemandem verraten, wo der Schlüssel versteckt ist, und es hat ihn sicher niemand gefunden. Er ist vergraben, dort, wo man uns weismachen wollte, dass auch die Fälscherin liegt. Du findest ihn unter gelben Blumen. Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen.

Andrei weiß besser als ich, wo das Grab sich befindet. Robert hat mir schon bald nach meiner Ankunft in Wien berichtet, dass immer wieder jemand von den Karpins auf dem Friedhof vorbeikommt. Nicht, um nach mir Ausschau zu halten, sondern, um zu sehen, ob Leute dort frische Blumen hinstellen. Leute, um die man sich vielleicht kümmern muss, weil sie zu viel wissen könnten.

Diesmal lasse ich das Handy im Netz. Den Versuch, Boris anzurufen, hat Andrei nach all den missglückten Anläufen wohl aufgegeben, aber innerhalb von fünf Minuten ist seine schriftliche Antwort da.

Gut. Sag niemandem, dass ich auf dem Weg bin. Ich melde mich wieder .

Ich setze mir die dunkelblonde Perücke auf, schultere meinen Rucksack und sehe mich noch einmal in der Wohnung um. Schade um den Kinderwagen, schade um alle meine Requisiten und Verkleidungen. Aber egal, wie das heute ausgeht, ich werde sie nicht mehr brauchen.

Die Tür fällt hinter mir zu. Ich mache mir nicht die Mühe, sie abzuschließen.

In meiner dunklen Kleidung, mit der Sonnenbrille im Gesicht, werde ich bei meiner Ankunft auf dem Friedhof für die Besucherin einer Beerdigung gehalten. Eine junge Frau im schwarzen Kostüm kommt auf mich zu und will mir eine lilafarbene Rose in die Hand drücken. »Ich bin Dora, Ivos Tochter. Kennen wir uns?«

Ich winke ab, entschuldige mich, spreche mein Beileid aus und verschwinde in Richtung Platanenweg. Mein Grab liegt im Sonnenschein, der Stein glänzt, und die Petunien scheinen sich an ihrem neuen Standort wohlzufühlen. Mir ist klar, dass ich viel zu früh hier bin. Andrei wird noch gar nicht in der Stadt sein, ich vermute, dass er sich entweder kurz vor dem Schließen der Friedhofstore blicken lassen oder sich erst danach Zugang verschaffen wird.

Wenn er überhaupt selbst kommt. Ich kenne ihn, es muss eine schwierige Entscheidung für ihn sein. Entweder, er riskiert es, persönlich aufzutauchen und vielleicht in eine Falle zu gehen, oder er muss jemandem ausreichend vertrauen, um ihn mit der Aufgabe zu betrauen. Andrei ist misstrauisch, er wird in Betracht ziehen, dass Boris seine Loyalität nur vortäuscht und Slawas Leute ihm hier auflauern. Oder gar die Polizei, sicher hält er es für möglich, dass er gar nicht mit Boris selbst kommuniziert hat, sondern mit einem Beamten, der Boris verhaftet hat.

So oder so, Andrei wird nicht einfach über den Friedhof spazieren. Er wird Vorsichtsmaßnahmen treffen, und da ich nicht weiß, welche, will ich so früh wie möglich vor Ort sein und mir ein Versteck suchen. Einen Platz, von dem aus ich das Grab beobachten kann, ohne selbst gesehen zu werden.

Ist der Wiener Zentralfriedhof schon sehr grün, so gleicht der Frankfurter Hauptfriedhof einem bewaldeten Park. An manchen Stellen wirkt es, als wären die Gräber auf Lichtungen angelegt worden, ich könnte mich also hinter einem der Bäume verbergen. Doch dann wäre ich gut fünfzig Meter von meiner letzten Ruhestätte entfernt. Günstiger wäre, ich würde einen Platz finden, der näher liegt. Um besser sehen zu können, was passiert. Um besser schießen zu können.

Nur zwei Reihen weiter wartet ein offenes Grab auf seinen nächsten Bewohner. Frisch ausgehoben, der Bagger steht direkt daneben, aber noch ist die Absenkanlage für den Sarg nicht aufgestellt. Vielleicht findet die Beerdigung erst morgen statt.

Ich blicke in die Grube hinunter. Schon in Wien habe ich mich einmal in einem Grab versteckt, deshalb habe ich die Nachteile noch gut in Erinnerung: Sobald man entdeckt wird, gibt es kein Entkommen. Zudem könnte ich von dort unten nicht sehen, was sich oben abspielt.

Doch dann fällt mein Blick auf einen der Behälter, in denen Bioabfall gesammelt wird. Gemähtes Gras, alte Kränze, überschüssige Erde. Es ist ein Betoncontainer, doch er hat einen breiten Sprung, der sich von oben bis auf halbe Höhe zieht. Ich schlendere hin. Halb voll. Von hier aus könnte ich die Grabreihe überblicken.

Ich drehe noch mehrere Runden, der Behälter scheint die beste Option zu sein. Nur nicht für den Moment, denn der Friedhof ist gut besucht, meine Aktion würde auffallen. Wie in Wien arbeiten an allen Ecken und Enden Gärtner, die Gräber wässern und Hecken beschneiden. Nicht weit entfernt höre ich den Motor eines Baggers und die zu Boden rutschende Erde.

Das heißt, solange der Friedhof geöffnet hat, muss ich mich zwischen Bäumen und Gebüsch verbergen. Ich finde einen relativ komfortablen Platz hinter einem hohen, von Ästen überwachsenen Steinkreuz und lege meinen Rucksack ab. Es ist hier fast wie in einer Laube, Äste und Blätter schirmen mich von allen Blicken ab. Allerdings weiß ich nicht, was ich tue, wenn Andrei noch während der Öffnungszeiten auftaucht. Wenn er einfach heranmarschiert und die Petunien ausbuddelt.

Würde ich es dann trotzdem tun? Wenn er vor dem Grab hockt, ist mein Schussfeld nicht übel, auch wenn die Entfernung viel zu groß ist für meinen Geschmack. Der Schalldämpfer sorgt dafür, dass vom Knall gerade mal ein Ploppen übrig bleibt. Ich müsste allerdings auf Anhieb treffen und dann so schnell wie möglich das Weite suchen. Hoffen, dass sein Körper nicht sofort gefunden wird, dass er nicht schreit, dass er nicht mit Gefolge kommt.

Es wäre ein halsbrecherisches Unterfangen mit einer lächerlich geringen Chance auf Erfolg. Aber ich sollte darauf vorbereitet sein.

Die Walther habe ich in ein Handtuch eingewickelt, da hole ich sie nun heraus und lege sie zuoberst in den Rucksack. Danach beginne ich zu warten.

Wachsam zu bleiben, wenn nicht das Geringste passiert, zermürbt mich schon nach kürzester Zeit. Ich lehne an der Rückseite des Steinkreuzes und lasse mein Grab nicht aus den Augen, doch schon nach einer halben Stunde schweifen meine Gedanken ab. Nicht in angenehme Gefilde, sondern zu den gesammelten Schrecken der letzten Tage. Boris im Weinkeller, Pascha in der Schrottpresse. Dann weiter zurück. Zu meinem Überlebenskampf auf der Intensivstation, zu deinen letzten Minuten.

Ich schüttle den Kopf wie ein nasser Hund, als könnte ich die Bilder darin neu formen wie in einem Kaleidoskop. Als könnte ich dadurch meinen Fokus zurückgewinnen.

Der Nachmittag schleicht quälend langsam vorbei. Zwischendurch muss ich mich immer wieder setzen, weil mein Rücken vom regungslosen Stehen schmerzt. Doch mehr als zwei oder drei Minuten lange Pausen erlaube ich mir nicht, aus der abergläubischen Angst, dass Andrei genau dann auftauchen wird, wenn ich nicht aufpasse.

Als der Friedhof sich gegen neunzehn Uhr zu leeren beginnt, fühle ich mich zermürbt. Immer noch eine Stunde bis zum Schließen der Tore. Wenigstens kann ich hier ungestört ins Gebüsch pinkeln.

Um zwanzig Uhr passieren zwei Dinge gleichzeitig: Der Friedhof wird geschlossen, und die Sonne geht unter. Wie Gold legt sich das Restlicht über Engel, Kreuze und Grabsteine. Eine halbe Stunde später ist es dunkel, da helfen auch die Lichter der umliegenden Großstadt nur wenig. Da und dort flackern rote Grablampen in ihren Halterungen, doch in meinem Versteck ist es so finster, als wäre ich tatsächlich in einen Wald geraten. Ich trete zwischen den Bäumen hervor.

Stille. Alle Geräusche sind weit entfernt. Der Verkehrslärm gehört zu einer anderen Welt, es dringt nur ein zaghaftes Echo bis hierher ins Reich der Toten.

Meine Perücke brauche ich jetzt nicht mehr, ich stopfe sie in den Rucksack, dafür hole ich den Hoodie heraus, schlüpfe hinein und ziehe mir die Kapuze über den Kopf.

Der Biomüllbehälter ist nur ein wenig voller als mittags. Ich lausche ins Dunkel, doch außer leisem Rascheln im Gebüsch ist nichts zu hören.

Erst hebe ich den Rucksack über den Rand des Containers, dann schwinge ich mich selbst hinterher. Ich grabe mir eine Mulde zwischen den dürren Kränzen, dem trockenen Gras und den welken Blumen, dort lege ich mich hinein. Hole die Walther aus dem Rucksack und suche mir die geeignete Position: bäuchlings, das Gesicht nah am Spalt im Beton, den Lauf durch die Öffnung geschoben.

Jetzt ist das Problem die Finsternis. Ich weiß, dass ich das Grab in der Schusslinie habe, doch wirklich sehen kann ich es nicht. Aber die Welt ist für alle gleichermaßen dunkel, und wer hier nachts etwas suchen möchte, wird seine eigene Lichtquelle mitbringen.

Ich decke mich und den Rucksack mit drei alten Kränzen, Erde und haufenweise abgeschnittenem Gras zu. Jetzt kann ich nichts weiter tun als abwarten, so wie schon den ganzen Tag über, doch je länger es dauert, desto größer werden meine Zweifel.

Was, wenn Andrei nicht kommt? Bisher macht es ganz den Eindruck. In seinen Mitteilungen an Boris war er so versessen auf den Schlüssel, aber was, wenn etwas mit seiner Anreise nicht geklappt hat? Oder wenn er beschlossen hat, dass es auf einen Tag mehr oder weniger nicht ankommt, und er erst morgen auftaucht?

Ich kann nicht noch einen ganzen Tag hier lauern, oder gar zwei. Ich habe die letzten zehn Stunden nur deshalb durchgehalten, weil ich so verzweifelt einen Schlussstrich unter die vergangenen Jahre ziehen möchte. Das ist unmöglich, solange Andrei am Leben ist. Selbst wenn er dank der bluttriefenden Fotos derzeit an meinen Tod glaubt und mich nicht weiter sucht – das kann sich jederzeit ändern. Ich müsste mein Leben lang auf der Hut sein. So will ich nicht weitermachen.

Eine Stunde später bemerke ich, wie mir erstmals die Augen zufallen. Ich drücke mir die Fingernägel in die Handflächen, beiße mir in die Innenseiten der Wangen. Das hilft, allerdings nicht für lange. Ich könnte heulen vor Wut auf mich selbst. Wenn ich jetzt einschlafe, könnte das alle meine heutigen Anstrengungen zunichtemachen. Ich muss wach bleiben, durchhalten, ganz egal, wie.

In meiner Not beginne ich, mir Liedtexte vorzusagen, Gedichte zu memorieren, meinen Kopf zu beschäftigen. Schaffe es tatsächlich, das Tief zu überwinden. Und dann, irgendwann, höre ich, wie sich Schritte nähern.

Mit beiden Händen umklammere ich den Griff meiner Pistole. Es ist nicht eine einzelne Person, die den Weg entlangkommt, es sind mehrere. Wenn ich den Kopf ein kleines Stück nach links drehe, kann ich die Lichtkegel ihrer Taschenlampen sehen, und die Umrisse ihrer Gestalten. Vier. Nein, fünf.

Eine tiefe Stimme sagt etwas, das ich nicht verstehe. Aber ich kann hören, dass es Russisch ist. Keiner von ihnen ist Andrei, sie sind alle schlanker als er und bewegen sich geschmeidiger.

Ich könnte schreien. Er ist nicht selbst gekommen, er hat einen Trupp seiner Leute geschickt, wahrscheinlich hat er sie frisch aus Russland mitgebracht. Ich atme so flach ich kann, jetzt bloß kein verräterisches Geräusch machen. Meine Enttäuschung muss warten, erst gilt es, die nächsten Minuten zu überleben.

Auf das Zeichen eines der Männer schwärmen die anderen aus. In Richtung des Grabs, in Richtung der Mauer. Einer steuert genau auf das Steinkreuz zu, hinter dem ich mich den ganzen Tag lang versteckt habe.

Und einer richtet seine Taschenlampe exakt auf den Bioabfallbehälter; so präzise, dass er mich blendet.

Vorbei, denke ich. Sie finden mich, zerren mich heraus, schlagen mich nieder. Und dann erwache ich in einem der Keller, an einen Heizkörper gekettet. Wie so viele andere vor mir.

Der Mann kommt näher, brummt irgendetwas. Ich halte die Luft an, damit das trockene Laub über mir nicht raschelt. Alles an mir ist starr, meine Hand um den Pistolengriff eiskalt.

Wenn der Mann vor mir steht, soll ich schießen? Er wäre ein nicht zu verfehlendes Ziel. Doch dann blieben noch vier seiner Kumpane, die mich zweifellos einfangen würden, so schnell könnte ich gar nicht aus dem Behälter klettern und in der Nacht verschwinden.

Er leuchtet jetzt nach rechts, links, wieder rechts. Mehr als fünf Schritte trennen uns nicht mehr. Wenn er direkt vor dem Container steht, sage ich mir, wenn er beginnt, in den Abfällen zu wühlen, dann springe ich hoch und schieße. In seinen Kopf.

Noch ein Schritt, jetzt kann ich ihn atmen hören. Der Lichtkegel schwenkt nach allen Seiten. Zwei weitere Schritte, und der Mann lehnt sich gegen meinen Betoncontainer. Ich mache mich bereit zum Angriff. Wenn gleich eine Hand zwischen die Blätter fährt, werde ich hochschnellen, bevor sie mich packen kann. Werde zielen und abdrücken. Doch der Mann dreht sich um und geht auf eine Baumgruppe zu meiner Rechten zu.

Ich atme ein, zittrig. Die Männer bewegen sich jetzt in immer größer werdenden Kreisen, drücken Büsche zur Seite, leuchten hinter marmorne Grabmale. Aber keiner von ihnen gräbt die Petunien aus.

Und da begreife ich. Sie sind nicht hier, um den Schlüssel zu holen, sie sollen nur das Terrain sondieren. Er traut tatsächlich niemandem so weit, dass er ihn diese Aufgabe erledigen ließe.

Die Männer prüfen das Gelände noch gut zwanzig Minuten lang, dann sehe ich in der Hand ihres Anführers ein Smartphone aufleuchten. Er spricht leise, antwortet knapp, nickt einige Male und legt wieder auf. Mit einer Geste bedeutet er den anderen, ihm zu folgen. Sie sammeln sich und gehen den Weg zurück, auf dem sie gekommen sind.

Ich merke erst jetzt, dass mir Schweiß den Rücken hinunterläuft. Wohin hat Andrei seine Leute befohlen? Sollen sie ihn von draußen holen kommen? Sollen sie am Eingang Wache stehen?

Der Friedhof liegt jetzt wieder völlig ruhig da. Ich bewege die Beine, die verspannten Schultern, höre das Laub über mir rascheln. Wenn ich verschwinden wollte, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Ich könnte aus dem Container steigen und davonschleichen, mich nahe der Mauer verstecken. Ich könnte meinen Plan einfach ad acta legen, mich ins Auto setzen und abhauen. Vorhin bin ich nur ganz knapp davongekommen, wer weiß, ob das noch einmal so sein wird, wenn die Männer zurückkommen.

Ich ringe noch mit mir, als ich wieder Schritte vom Weg her höre. Diesmal gehören sie einer einzigen Person, und ich sehe auch nur einen einzelnen Lichtkegel, der über Bäume, Wiesen, Gräber streicht.

Dann tritt Andrei in mein Blickfeld. Ich weiß, dass er es ist, auch wenn ich ihn nur schemenhaft sehen kann. Er ist immer noch groß, massig, und bewegt sich mit der behäbigen Kraft eines Ebers, der Hindernissen nicht ausweicht, sondern durch sie hindurchbricht.

Die fünf Männer folgen ihm nicht. Der schwarze König hat seine Bauern zurückgelassen, wie es ein guter Schachspieler nie tun würde. Er will den Schlüssel holen, ohne dass Zeugen ihn dabei beobachten, sein Misstrauen ist unverändert. Wenn ich alles richtig mache, wird es ihn gleich das Leben kosten.

Er kniet sich auf die Grabeinfassung, als wolle er beten. Das Licht der Taschenlampe fällt auf die gelben Petunien, aber der Widerschein erhellt sein Gesicht. Ich ziele. Atme aus. In dem Moment, als ich abdrücken will, beugt Andrei sich vor, ich kann in der letzten Sekunde noch einen Fehlschuss verhindern.

Verdammt. Ich presse die Lippen aufeinander, Andrei hat den Kopf in meine Richtung gedreht. Hat er etwas gehört? War ich zu laut?

Er verharrt einen Moment. Beugt sich dann wieder über die Petunien, packt sie und reißt sie aus der Erde. Mit einer Hand greift er in das Loch und holt Roberts Krankenhausarmband heraus. Betrachtet es ungläubig.

Das ist der Moment, diese wenigen Sekunden der fassungslosen Starre. Ich lasse alle Luft aus den Lungen, ziele und drücke ab.

Der Schuss ist fast unhörbar, Andreis erschrockenes Aufkeuchen nicht. Ich warte darauf, dass er umkippt, dass er sich an die Brust greift, doch er fasst nur nach seiner linken Schulter. An eine Stelle oberhalb des Schlüsselbeins.

Das heißt, ich habe ihn so gut wie verfehlt, kann nicht mehr als einen Streifschuss gelandet haben. Und nun ist Andrei gewarnt, er wirft sich zu Boden, rollt sich zwischen die Gräber, verschwindet in den Schatten.

Gleich wird er seine Truppe herbeitelefonieren, und dann ist mein Container kein Versteck mehr, sondern eine Falle. Ich schüttle Laub und Erde von mir ab, rapple mich hoch und klettere über den Rand. Ich muss vorsichtig sein, Andrei ist zwar nur ungern selbst bewaffnet – das überlässt er lieber seinen Helfershelfern –, aber nachdem er alleine losgezogen ist, könnte er diesmal eine Pistole dabeihaben.

Er muss mich gehört haben, mein Positionswechsel ist nicht leise vonstattengegangen. Ich höre lautes Schnaufen, wie von einem Tier, das aus dem Wasser steigt.

»Borja«, ruft Andrei. Er sagt noch mehr, ich verstehe nichts davon, aber seine Stimme macht es mir leicht, ihn zu orten. Er hat die Taschenlampe auf dem Grab liegen gelassen, ich schleiche in einem großen Bogen von der anderen Seite an ihn heran. Im Gras sind meine Schritte lautlos. Ich wünschte, mein Atem wäre es auch.

Jetzt kann ich seine Silhouette wieder erkennen, von hinten. Ich bin ungefähr zwanzig Meter weit weg, ein zweiter Schuss hätte nun mehr Chancen auf einen Treffer, außerdem könnte ich eine ganze Salve auf Andrei abgeben. Das Magazin leer schießen.

In diesem Moment sehe ich ein Display im Dunkeln aufleuchten und reagiere ebenso instinktiv wie falsch. Statt auf ihn zu feuern, wie ich es mir vorgenommen habe, sprinte ich auf Andrei zu, trete ihm von hinten in den Rücken, kicke ihm das Telefon aus der Hand.

Dumm, hämmert es in meinem Kopf. Ich könnte es schon hinter mir haben. Jetzt muss ich ihm ins Gesicht sehen, wenn ich ihn erschieße.

Andrei ist vornübergekippt, er stützt sich mit der rechten Hand ab, die linke Seite schont er. Die Taschenlampe strahlt genug Licht ab, um mich sein Gesicht erkennen zu lassen. Seinen Blick, der an mir hochwandert, ratlos erst, dann verblüfft, am Ende amüsiert.

»Hallo, Anna«, sagt er.