28 .

I ch behalte ihn im Blick, die Waffe auf ihn gerichtet, während ich die Taschenlampe aufhebe. Er blinzelt, als ich ihm ins Gesicht leuchte. »Fälscherin«, sagt er. »Hast auch Fotos gefälscht. Lebst noch.«

»So ist es.«

»Sie haben gesagt, die Luft ist rein.« Bekümmert, aber ohne Anzeichen von Beunruhigung schüttelt Andrei den Kopf. Als hätte bloß der Wetterbericht sich geirrt. »Ich werde Nikolai die Augen ausstechen, aber ist egal, oder? Sie sind zu nichts nutze.« Er setzt sich hin, an den Grabstein gelehnt, und greift sich wieder an die Schulter. Betrachtet seine blutverschmierte Hand und wischt sie am Gras ab. »Wo ist Boris?«

»Tot.«

Es huscht nur ein winziges Zucken über sein Gesicht. »Du hast ihn erschossen?«

»Nein. So viel Glück hatte er nicht.«

»Hm. Mich hast du nicht gut getroffen.« Es klingt beinahe wie ein Vorwurf. Als wäre es ihm anders lieber gewesen.

»Pascha ist auch tot«, zische ich. »Und Vadim. Vielleicht auch Vera.«

»Ah.« Andrei lächelt wie ein stolzer Vater. »Bist du jetzt Killerin, Anna?«

Dass er mich mit meinem richtigen Namen anspricht, verwirrt mich mehr, als es sollte. »Ich tue es dir nach«, sage ich. »Ich überlasse die Drecksarbeit anderen. Aber für dich werde ich eine Ausnahme machen.«

»Wirst du nicht.« Vollkommen ungerührt beginnt er, sich aufzurichten, kommt gemächlich auf die Beine. Etwas an der Situation berührt mich merkwürdig, und nach ein paar Sekunden weiß ich, was es ist. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, sind wir alleine miteinander. Andrei hat sonst immer seine Leute um sich, sein Gefolge. Sie sind wie ein Teil von ihm, der plötzlich fehlt.

Ich könnte jetzt schießen, sollte es, aber ich weiche zurück, schussbereit. Die linke Seite seines Hemdes hat sich mit Blut vollgesogen, es läuft ihm auch über die Hand. Trotzdem grinst er. »Siehst du? Du hättest mich längst erledigen können, aber du hast nur einmal abgedrückt. Und danebengeschossen. Wo ist der Schlüssel?«

Nun bin ich es, die grinst. »Der ist dir wichtig, oder? Leider habe ich keine Ahnung. Du hattest ihn Boris anvertraut? Dann ist er jetzt wahrscheinlich zerquetscht. Ein kleines Stückchen Schrott in einem großen Stück Schrott.«

In Andreis Miene treten erste Zeichen von Unmut, ich erkenne die Nuancen. Das Senken der Mundwinkel, das Heben einer Augenbraue. Sie haben mir immer Todesangst eingejagt, denn danach wurde meist jemand bestraft. Ein Echo dieser Angst befällt mich auch jetzt. Obwohl ich es bin, die die Waffe hält. Warum schieße ich nicht?

»Zerquetscht?«, fragt er tonlos.

»Ja.«

Er flucht. »Du erzählst mir jetzt, was du mit Boris gemacht hast. Wo ist die Leiche?« Wieder kommt er einen Schritt näher, wieder weiche ich zurück. Trete dabei auf sein Handy, es knirscht. »Vergiss es.«

Mit einem unwilligen Geräusch dreht er sich um. Dreht mir den Rücken zu und geht. Deutlicher könnte er mir nicht demonstrieren, dass er mich nicht ernst nimmt, und wie es aussieht, hat er recht damit. Etwas in mir ist blockiert, es fühlt sich an, als wären wir noch nicht fertig miteinander, als wäre es zu billig, ihn einfach abzuknallen.

Doch wenn er denkt, ich würde ihn laufen lassen, ist er verrückt.

»Andrei«, rufe ich ihm hinterher, bemüht, den Abstand zwischen uns nicht kleiner werden zu lassen. »Bleib stehen. Sonst schieße ich, das schwöre ich dir.«

Er macht noch drei Schritte, dann dreht er sich um. »Nein, Koschetschka. Ich erinnere mich noch genau.« Wieder dieses Lächeln. »Du magst keine Pistolen.«

Vielleicht sind Messer dir lieber . Etwas legt sich über mein Denken. Schaltet es ab. Andreis Lächeln hat sich nicht verändert, seit der Nacht in der Halle.

Das Messer. Andreis gute Laune. Du kannst es dir natürlich selbst zwischen die Rippen stechen . Aber dann wird jemand anderer brennen .

Mein Zeigefinger krümmt sich, er tut es fast ohne mein Zutun. Der Schuss klingt ebenso harmlos wie der erste, aber diesmal reißt er Andrei von den Füßen. Er presst sich die Hände auf Magenhöhe gegen den Leib, und ich sehe ihn, wie er auf dem Rücken liegt, und sehe gleichzeitig dich, wie du zu Boden stürzt, blutend und brennend, sehe das Jagdmesser in meiner Hand, höre das Feuer zischen, rieche schmelzenden Gummi und verkohlendes Fleisch.

Ich schieße ein zweites Mal, nicht in den Kopf, sondern in den Bauch. Nun schreit Andrei auf, windet sich, keucht. Ich habe mir Szenen wie diese so oft vorgestellt, dass mir das Geschehen fast irreal erscheint. Aber das Blut ist echt, die Blässe in seinem Gesicht auch, der aufgerissene Mund, aus dem nur noch Gurgeln dringt.

Ich suche nach Empfindungen in meinem Inneren. Finde keine. Weder Genugtuung noch Hass noch wilden Triumph. Alle meine Emotionen sind wie betäubt, ich fühle auch keinerlei Angst. Höchstens ein wenig Ungläubigkeit. Darüber, dass man Andrei wirklich töten kann. Dass ich ihn töten kann, einfach so, als würde ich ein tollwütiges Tier erlegen.

Doch langsam erwacht in mir leichte Sorge, dass sein Schrei bis zu den Toren gedrungen sein könnte. Dann sind seine Männer sicher schon auf dem Weg zu uns.

Noch sind keine Laufschritte zu hören. Trotzdem ducke ich mich hinter einen hohen, steinernen Engel. Bis auf Andreis Wimmern ist alles ruhig.

Ich könnte, ich sollte jetzt einfach abhauen, aber noch lebt Andrei, und er liegt mitten auf dem Weg. Wenn ich etwas von den Clans gelernt habe, dann, dass man seine Opfer fortschafft, sie beseitigt, als hätte es sie nie gegeben. Nur habe ich nicht die gleichen Möglichkeiten; ich kann Andrei nicht in ein Fass mit Lauge stecken oder in einem Autowrack verschrotten – aber eben hatte ich einen Einfall, der fast genauso gut ist.

Auf seinem Rückzug ist er bis in unmittelbare Nähe des ausgehobenen Grabs geraten. Er liegt nicht weit von der Grube entfernt, höchstens zehn Meter. Es könnten aber ebenso gut zehn Kilometer sein, weil ich Andrei dorthin weder tragen noch ziehen kann, er wiegt mindestens hundertdreißig Kilo.

Ob ich ihn rollen könnte?

Ich trete zu ihm, sein Atem kommt bereits unregelmäßig, in den halb geöffneten Augen ist nur noch das Weiße zu sehen. Schon der erste Versuch, ihn über den Boden zu schieben, stellt klar, dass ich keine Chance habe.

Allerdings steht der Bagger noch direkt neben dem Grab.

Ich weiß, dass die Totengräber auf dem Zentralfriedhof oft die Zündschlüssel im Schloss stecken gelassen haben. Weil ohnehin keiner die Bagger klauen würde, schon gar nicht nachts bei geschlossenen Toren. Weil außerdem die Maschinen oft am nächsten Tag von einem Kollegen benutzt wurden, der dann gleich alles bei der Hand hatte und nicht erst lang den richtigen Schlüssel suchen musste.

Ich gehe in einem großen Bogen um Andrei herum und auf den Bagger zu, steige aufs Trittbrett. Der Schlüssel steckt tatsächlich. In Wien habe ich oft dabei zugesehen, wenn Gräber ausgehoben wurden, und zweimal hat mich Mirko, einer der Totengräber, selbst an die Hebel gelassen. Ich weiß also noch ungefähr, wie man die Schaufel hebt und senkt, wie man gräbt. Allerdings sind die Friedhofsbagger klein und nicht vergleichbar mit Baustellenbaggern. Die Schaufel wird Andrei nicht einmal zur Hälfte aufnehmen können.

Nein, ich lasse es bleiben. Selbst wenn seine Gefolgsleute ihn nicht haben schreien hören, irgendwann werden sie nach ihm suchen, wenn er nicht zurückkommt. Dann sollte ich fort sein, weit fort, und nicht damit beschäftigt, ihren Boss zu beerdigen.

Hinter mir höre ich Andrei wimmern, es klingt anders als zuvor. Als würde er versuchen, etwas zu sagen. Noch bevor ich den Kopf drehen kann, spüre ich eine Berührung am Rücken. Panisch fahre ich herum, stoße mit der Pistole gegen den Rahmen der Kabinentür, es klirrt.

»Cool bleiben.« Vor mir steht Vera, in schwarzem Shirt und schwarzen Jeans, das Haar unter einer Baseballkappe versteckt. »Auf mich willst du nicht schießen.«

Das Unwirklichkeitsgefühl von vorhin kehrt zurück. Vera kann nicht hier sein, wieso sollte sie hier sein? Ist sie in Andreis Begleitung gekommen? Sie zieht mich vom Trittbrett. »Gute Arbeit übrigens. Kompliment. Wir haben schon daran gezweifelt, dass du es durchziehst, so lange, wie du dir Zeit gelassen hast.«

»Wir?«, stammle ich. »Wer ist wir? Und woher wusstest du …«

»… dass wir dich heute Nacht hier finden werden?« Sie schüttelt nachsichtig den Kopf. »Ich habe dich im Blick, seit ich aus der Wohnung abgehauen bin. War nicht so schwierig, wie du denkst. Nachdem ich einmal wusste, welches Auto deines ist.«

Die Puzzleteile in meinem Kopf ergeben kein schlüssiges Bild. »Du wolltest dich doch tot stellen. Ich dachte, jemand hätte dich verschleppt.«

»Ich habe dir aber auch gesagt, ich würde es geschickter anpacken als du. Was ich getan habe. Niemand ahnt, dass ich noch lebe, mit Ausnahme einer Person.« Vera geht die paar Schritte zu Andrei hin und tritt leicht mit der Schuhspitze gegen seine Hüfte. »Drei Personen, wenn ich dich und ihn mitrechne. Lebt immer noch, der zähe, alte Sack. Bist du so schlecht im Schießen, oder wolltest du es ihm nicht zu leicht machen?«

Vera ist weniger klug, als sie denkt, denn sie hat mir die Walther gelassen. Die ich jetzt auf sie richte. »Mach keinen Quatsch, okay? Ich bin aus der Übung, aber ich würde dich trotzdem treffen. Hör zu, Vera. Ich wollte gerade hier verschwinden. Vom Friedhof, aus der Stadt, wahrscheinlich sogar aus dem Land. Du solltest dich auch davonmachen, bevor Andreis Leute ihn suchen kommen.«

»Werden sie nicht.« Vera blickt völlig entspannt in den Lauf meiner Pistole. »Sie haben Befehl, bis zwei Uhr zu warten, außer Andrei selbst ruft sie zurück.« Noch ein Tritt, fast zärtlich. »Und das wird er nicht, oder?«

»Zwei Uhr? Woher weißt du das?«

»Wir haben zugehört, als er die Befehle gegeben hat. Sind durch den Eingang an der Friedberger Landstraße hereingeschlüpft, den er hat aufbrechen lassen. Seine Leute parken dort, sie sitzen jetzt im Auto und warten – wie er es wollte.«

Wir, sie sagt immer wir. Ich weiß, dass Veras Russisch nur geringfügig besser ist als meines, wenn überhaupt. Also muss sie jemanden bei sich haben, dessen Sprachkenntnisse üppiger sind …

Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ich hinter mir ein Klicken höre. Eine Pistole, die entsichert wird. Vera lacht. »Du hast uns so viel Arbeit erspart, Anna.«

»Lass die Waffe fallen«, sagt jemand hinter mir. »Komm ja nicht auf die Idee, Vera etwas anzutun.« Eine weibliche Stimme, eine, die ich nicht kenne. Dunkel, ein wenig rau, das Deutsch völlig akzentfrei.

Ich hebe die Hände, ohne die Walther dabei loszulassen. Im nächsten Moment schlägt etwas direkt neben mir ein, Erde und Steine spritzen auf. Von dem Schuss war nicht mehr zu hören als ein dumpfes Ploppen. »Hast du mich nicht verstanden?«, fragt die Frau hinter mir leise.

Ich öffne die Finger, die Pistole fällt ins Gras. Sekunden später taucht eine hochgewachsene, blonde Gestalt neben mir auf, klopft mich auf weitere Waffen ab und nickt zufrieden.

Janina. Ich lasse die Hände sinken. Sie ist ein beinahe unbeschriebenes Blatt für mich, ich habe keine Ahnung, wie sie tickt. In Wien war sie als vermeintliche Journalistin auf dem Zentralfriedhof unterwegs, und ich kenne die Fotos, die Alex von ihr auf dem Computer hatte. Ich habe sie flüchtig beim Hotel beobachtet und in der Spielhalle, wo ich ihr beim Geldeintreiben zuvorgekommen bin. Zuletzt bei ihrem Rendezvous mit Jaro im Star Club , aber nichts davon hilft mir jetzt einzuschätzen, wie gefährlich sie mir werden könnte.

Oder doch, schließlich kenne ich ihre Nachrichten an Boris. Weiß, dass sie Alex loswerden will.

»Das ist ihre einzige Waffe, soweit ich weiß«, sagt Vera. »Ich habe jeden Zentimeter in ihrer Wohnung abgesucht – sonst war da nichts.«

Janina hebt die Walther auf und überreicht sie Vera. Streicht ihr übers Haar, übers Gesicht, küsst sie auf den Mund. »Alles gut gegangen, Liebste.« Ein Blick auf Andrei, der zu ihren Füßen liegt. »Er lebt immer noch. Dobrý večer, djadja.«

Sie redet russisch auf ihn ein, er reagiert nicht, sie lacht und blickt zu Vera hoch. »Denkst du, er versteht mich noch? Ich hätte ihm ein paar Dinge zu sagen.«

»Ich glaube nicht.« Sie sieht auf die Uhr. »Wir sollten uns nicht zu viel Zeit lassen.«

»Richtig.« Janina zieht Andreis Kopf an den Haaren ein Stück hoch und lässt ihn wieder zu Boden plumpsen. Schlägt dann leicht gegen seinen Bauch, dahin, wo meine Kugel sitzen muss. Er zuckt, gibt ein schwaches Stöhnen von sich. »Sieh mal, immerhin spürt er noch etwas.«

Sie richtet sich auf. »Anna, Carolin – wie soll ich dich nennen? Egal. Deine Idee war gut. Wir begraben ihn hier, zu dritt schaffen wir das. Du kannst mit dem Bagger umgehen?«

»Ich will …«

»Du willst hier weg, darüber reden wir noch. Aber du wirst gleich sehen, es wäre in deinem Interesse, dass der Alte verschwindet. Vera? Zeigst du ihr, was wir haben?«

Ich würde mich gern setzen oder, besser noch, hinlegen. Seitdem Janina aufgetaucht ist, habe ich das Gefühl, dass meine Kraft mit jeder Sekunde schwindet, dass sie kaum noch zum Stehen ausreicht.

Vera kommt auf mich zu, ihr Smartphone in der Hand. Sie hat die Foto-App geöffnet und zeigt mir ein Bild nach dem anderen. Andrei, wie er die Petunien ausreißt. Ich, von hinten, noch voller Laub, kurz nachdem ich aus dem Container gesprungen bin. Mindestens sieben Fotos, auf denen ich den bereits angeschossenen Andrei mit der Walther bedrohe. Noch einmal zehn, auf denen er mit Bauchschuss an der gleichen Stelle liegt wie jetzt. Zwei, auf denen ich versuche, ihn Richtung Grab zu rollen.

Die Bilder sind grobkörnig, sie sind ohne Blitz geschossen worden, aber man kann die handelnden Personen erkennen. Das Handy muss über eine gute Kamera verfügen. Kurz geht mir der Gedanke durch den Kopf, ich könnte es Vera aus der Hand schlagen, es gegen den Bagger schmettern. Bloß würde das nichts ändern, die Fotos sind längst in die Cloud hochgeladen. Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Für wen sind die gedacht? Für die Polizei?«

»Für niemand Bestimmten.« Janina lächelt liebenswürdig. »Wie gesagt, du hast uns einen Gefallen getan. Wir wollten Andrei längst loswerden, er hat uns das Leben sogar aus der Entfernung schwer gemacht. Jetzt können wir die Geschäfte endlich auf unsere Art führen.«

Wenn man Janina zuhört, könnte man denken, sie würde den Ton bei den Karpins angeben. Vielleicht tut sie das ja, indirekt, aus der zweiten Reihe. Ich habe meinen Einsatz im Star Club wieder vor Augen. Sie und Jaroslaw an der Bar, Hand in Hand. Dazu ein Verhältnis mit Alex und eines mit Vera. Sieht aus, als wäre sie mit dem halben Clan im Bett gewesen. »Weiß Jaroslaw von Vera und dir?«

Sie hebt trotzig das Kinn. »Ja, natürlich.«

»Und es stört ihn nicht?«

»Warum sollte es?«

»Okay, verstehe. Ich dachte nur … Andrei hat mit untreuen Geliebten immer kurzen Prozess gemacht.«

»Soweit ich informiert bin, tut Jaroslaw das nicht.« Sie richtet wieder ihre Waffe auf mich. »Obwohl ich es nicht genau weiß. Ich bin nämlich nicht seine Geliebte, ich bin seine Tochter. Und du setz jetzt den Bagger in Gang, wir sollten uns um Onkel Andrei kümmern.«

Seine Tochter. Unwillkürlich suche ich nach Ähnlichkeiten, entdecke aber keine einzige – außer dem schmalen, hohen Körperbau. »Weiß dein … Vater, was hier gerade passiert?«

»Wozu?« Sie winkt mich mit der Waffe in Richtung Bagger. »Er wäre dagegen. Er denkt wirklich, wir führen Frankfurt nur, bis Andrei zurück ist, aber so hatte ich das nie geplant. Und wie die Dinge stehen, müssen wir darüber nicht mehr diskutieren. In den Bagger, los!«

Sie hatte das nie so geplant. Sie? Ich kann fühlen, wie mich aller Wille zum Weitermachen verlässt, als ich in die Fahrerkabine steige. Wer weiß, was sie noch geplant hat. Vielleicht teile ich mir schon heute Nacht ein Grab mit Andrei. Das wäre an Ironie kaum zu überbieten.

Noch nie haben meine Kraftreserven sich so aufgebraucht angefühlt, aber ich weiß, der Zeitpunkt ist schlecht. Ich muss mich konzentrieren, um mich an die Funktionen der Fußschalter und Steuerhebel zu erinnern. Und wenn alles erledigt ist, am besten einen günstigen Moment nutzen und im Dunkel verschwinden.

Schlüssel im Schloss drehen, der Motor springt an, ich ziehe beide Fahrhebel zu mir, der Bagger bewegt sich ein paar Meter zurück.

Um an Andrei heranzukommen, muss ich den Bagger wenden, kein einfaches Unterfangen zwischen den Gräbern. Vera und Janina heben seinen Oberkörper so weit an, dass ich die Schaufel darunterschieben kann. Es gelingt nicht auf Anhieb, beileibe nicht, es kostet mich sicher sieben oder acht Versuche, bei denen ich ihm die Schaufel in den Rücken ramme, bis ich es endlich richtig mache.

Immer wieder scanne ich mit meinen Blicken die Wege rundum. Hören Andreis Leute wirklich nichts? Haben sie nicht längst den Verdacht, dass etwas massiv schiefgelaufen sein muss?

Andrei rührt sich leicht, als ich ihn langsam hochhebe. Eine Hand flattert zu der Schusswunde am Bauch, sein Gesicht verzieht sich zu einer weinerlichen Grimasse. Plötzlich kann ich mir vorstellen, wie er als Kind ausgesehen haben muss, und das bringt mich völlig aus dem Konzept. Ich stoße versehentlich gegen den linken Steuerhebel, und der Oberwagen dreht sich, Andrei gerät ins Rutschen, es gelingt Vera nur mit Mühe, ihn zu stabilisieren. Jemand versetzt mir von der Seite her einen Stoß. Janina.

»Was ist los? Was tust du?«

Ich lasse alle Hebel los. Schlinge mir die Arme um den Körper. Sage das Erste, was mir durch den Kopf geht. »Alex. Was ist mit ihm? Lebt er noch?«

Sie verzieht den Mund, sichtlich genervt. »Falsches Timing für dumme Fragen. Was interessiert dich das?« Sie zielt wieder mit der Pistole auf mich und seufzt ungehalten, als ich mich nicht rühre. »Jaja, er lebt. Ich habe ihm eine riesige Szene gemacht und unsere sogenannte Beziehung beendet. Ursprünglich wollte ich, dass Boris ihn verprügelt, damit er die Flucht ergreift, aber er ist auch so abgehauen. Der Kleine ist so dämlich, dass er nie wirklich kapiert hat, was wir eigentlich tun. Du würdest nicht glauben, wie bereitwillig er mir in Wien alles abgekauft hat, was ich ihm über dich erzählt habe. Und er denkt ernsthaft, wir täten nichts weiter, als Spielautomaten zu verleihen. Ganz legal, das hat er tatsächlich geschluckt. Reicht dir das? Los jetzt.«

Ich hebe die Schaufel ein Stück höher, unschlüssig, ob ich Janina glauben soll. Sie hat Alex einfach gehen lassen? Mein Mangel an Konzentration rächt sich sofort, lässt mich unsauber arbeiten. Wieder droht Andreis Körper aus dem Gleichgewicht zu geraten – auf der einen Seite hängt sein Kopf hinunter, auf der anderen seine Beine, und die sind bedeutend schwerer. Ich lege den Rückwärtsgang ein, rolle bis neben das offene Grab.

»Leg ihn daneben ab«, befiehlt Janina. »Du musst erst noch mehr Erde ausheben, sonst merken die Totengräber morgen den Niveauunterschied.«

Sie hat recht. Ich kippe die Schaufel, Andrei stürzt aus einem Meter Höhe zu Boden wie ein Stein. Vielleicht ist er mittlerweile doch tot.

Die Grube tiefer zu graben gelingt mir nach ein paar Versuchen erstaunlich leicht. Es sind immer die gleichen Handgriffe, und die Erde ist locker. Irgendwann hebt Janina die Hand. »Genügt. Vera? Wie sieht es am Eingang aus?«

Dass Vera weg gewesen ist, habe ich überhaupt nicht mitbekommen, aber offenbar hat sie einen Erkundungsgang zur Mauer gemacht. »Sie sitzen immer noch in ihren Autos. Zwei von ihnen unterhalten sich, einer schläft, zwei spielen auf dem Handy.«

»Gut.« Mit dem Lauf der Pistole winkt Janina mich aus dem Bagger. »So, wie er liegt, könnt ihr Onkel Andrei einfach ins Grab rollen. Dann ein wenig Erde drauf, und wir sind fertig.«

Ich wechsle einen Blick mit Vera, die mit entschlossener Miene in Position gegangen ist. Was in ihren Augen steht, ist das, was ich jetzt ebenfalls fühlen sollte: Genugtuung, Freude, Erleichterung. Das Ungeheuer ist besiegt. Die Welt ist wieder schön.

Aber ich bin nichts weiter als müde und angeekelt. Denn die Welt ist nicht schön, die Karpins importieren immer noch minderjährige Mädchen aus dem Osten, handeln mit Drogen und schlachten ihre Feinde auf denkbar grausame Art.

Zugegeben, vielleicht wird Letzteres besser, nachdem Pascha, Boris und Andrei tot sind. Aber das ist nur ein winziger Trost.

Ich stütze meine Hände gegen Andreis Oberkörper, greife in Blut. Und fühle einen Herzschlag, unstet, aber zweifelsfrei vorhanden. »Er lebt noch, Janina.«

»Und?«

Ich nehme meine Hände von seiner Brust. »Du willst ihn lebendig begraben?«

»Sehr lebendig ist er nicht mehr, den Rest wird der Sturz erledigen. Und selbst wenn nicht, er bekommt es nicht mehr mit.«

Ich stehe auf und trete demonstrativ ein Stück zurück. Wieder seufzt Janina, als wäre ich ein nettes, aber schwieriges Kind. »Na schön.« Sie stellt sich vor Andrei, richtet die Pistole auf seinen Kopf und drückt ab. »Besser so?«

Das Loch sitzt in der Stirn, über dem linken Auge. Es ist klein, und nur wenig Blut sickert heraus. Der große Krater wird sich am Hinterkopf befinden, da, wo die Kugel ausgetreten ist.

»Du hast ihn geschlachtet wie ein Schwein«, sagt Vera mit sanfter Stimme.

»Das passt doch.« Janina geht zu ihr, streicht ihr über den Kopf und küsst sachte die Narbe auf ihrer Stirn. »Jetzt weg mit ihm. Und sucht die Hülse, wir sollten keine so offensichtlichen Spuren hinterlassen.«

Ich fühle nichts, nichts, nichts, als Vera und ich Andrei in sein Grab rollen. Der schwarze König fällt. Er landet mit einem dumpfen Laut in der Tiefe. Da, wo er gelegen hat, ist das Gras dunkel und feucht.

»Jetzt kippst du die Erde wieder drauf«, ordnet Janina an. »Drück sie mit der Schaufel fest, es soll so aussehen wie vorher.«

Es ist, als wäre ich ferngesteuert. Als wäre ich eigentlich gar nicht hier, auf diesem Friedhof, vor diesem offenen Grab. Du begräbst Andrei, sage ich mir, als ich nach den Steuerknüppeln greife. Er ist tot, und du begräbst ihn. Er ist weg. Für immer.

Ich wiederhole die Sätze in meinem Kopf, ich sehe seinen leblosen Körper, der Stück für Stück unter der Erde verschwindet, trotzdem glaube ich mir nicht. Während ich arbeite, sucht Vera die Patronenhülsen – nicht nur die letzte, sondern auch die beiden aus meiner Pistole. Als sie sie gefunden hat, füllt sie zwei Gießkannen mit Wasser und spült Blutspuren weg.

Die ganze Zeit steht Janina neben mir und überwacht meine Arbeit. »Dir fällt zu viel Erde daneben. So können wir das nicht lassen, das fällt auf.«

Normalerweise würde ich darauf eine scharfe Antwort geben, aber weder habe ich eine parat, noch schaffe ich es, den Mund zu öffnen. Es ist, als würde ich mit Andrei alles begraben, was mich in den letzten Jahren angetrieben hat. Ich wollte ihn tot sehen, und das habe ich nun. Aber irgendetwas von mir ist mitgestorben, und es könnte sein, dass es etwas Wichtiges war.

Janina klopft auf den Schaufelarm des Baggers, als sie mit dem Zustand der Grube zufrieden ist. Ich parke ihn exakt an der Stelle, an der er zuvor gestanden hat, sammle mit den Händen die verstreute Erde zusammen und werfe sie auf den Haufen, der für das Begräbnis bereitliegt.

»In zehn Minuten ist es zwei.« Mit der Pistole dirigiert sie mich in Richtung Gruftenhalle. »Abmarsch.«

Wir setzen uns in Bewegung, laufen an meinem Grab vorbei, und ich sehe, dass Vera die Petunien wieder eingesetzt hat.

Janina führt uns durch mehrere Waldstücke, immer wieder bleibt sie stehen und horcht in die Nacht. Ich schätze, dass wir mindestens einen Kilometer zurückgelegt haben, bis sie endgültig anhält. Wir sind von schwarzen Blättern und schwarzen Steinen umgeben; das Gras steht hoch hier, nicht eine einzige Grablaterne brennt. Von unserem Versteck aus sehen wir die Männer nicht kommen. Wir hören sie auch nicht, in der nächsten Stunde dringt nur ein einziges Mal ein Ruf bis zu uns, und auch das nur, weil der Wind ihn herträgt.

»Wir warten, bis es hell wird«, erklärt Janina. Sie hält Veras Hand mit der Linken, in der Rechten die Pistole. Veras Kopf liegt an ihrer Schulter. »Dann hauen wir hier ab. Wo ist der Schlüssel, Anna?«

Schon wieder der Schlüssel. Der Andrei das Leben gekostet hat. »Ich denke, Boris hatte ihn.«

»Boris, hm. Hatte?«

Ich vergesse immer, dass noch nicht alle von seinem Tod wissen. »Ja. Aber er wird ihn dir nicht mehr geben können.«

Ihre Züge verhärten sich. »Verstehe. Ich dachte es mir schon. Ich habe die Fotos gesehen, die er von dir geschickt hat, mit all dem Blut. Ich hätte die Sache geglaubt, wenn ich nicht gewusst hätte, dass du springlebendig bist. Meine Liebste hatte ein Auge auf dich.« Sie drückt Veras Hand. »Du hast sie selbst geschickt, also hast du Boris’ Telefon?«

Ich nicke.

»Dann hast du ja wohl auch den Schlüssel. Wo ist er?« Der Lauf der Pistole bewegt sich langsam in meine Richtung.

»Ich weiß nichts von einem Schlüssel.«

»Boris ist sicher tot?«

Soll ich lügen? Nein, wozu. »Ja. So wie Pascha. So wie Vadim.« Ich zögere kurz. »So wie Andrei.«

Janina senkt ihre Waffe. »Und die gehen alle auf dein Konto? Sieh an. Wir sollten dir wirklich dankbar sein.« Sie wechselt einen Blick mit Vera, den ich im Dunkeln nicht deuten kann.

»Was ist es für ein Schlüssel?«, frage ich vorsichtig.

Niemand antwortet. Erst nach einer halben Minute räuspert Janina sich. »Der Schlüssel zu Andreis Macht. Zu dem Geld, das er angehäuft hat. Ein Safeschlüssel.« Sie gibt ein amüsiertes Geräusch von sich. »Dreißig Millionen Euro, sagt Vater, die jetzt in einem Banksafe vor sich hin modern und an die niemand rankommt.«

Der Gedanke belustigt mich. Dreißig Millionen, die Andrei bei seiner Flucht zurücklassen musste. Ob Boris die geringste Ahnung hatte, was ihm da von seinem Boss anvertraut wurde?

Janina rückt Veras Kopf auf ihrer Schulter zurecht. »Ein lösbares Problem, da bin ich sicher. Wenn wir eine russische Sterbeurkunde auftreiben und das Schloss tauschen lassen. Wir müssen nur sehen, dass das Finanzamt keine Auskunft über den Inhalt verlangt. Das wäre … unangenehm.« Sie küsst Vera auf den Scheitel. »Ich mache mich gleich morgen schlau.«

Dann spricht lange niemand ein Wort. Ich sitze auf dem kalten Boden, an einen Baumstamm gelehnt, und irgendwann müssen mir die Augen zugefallen sein, denn als ich sie wieder aufschlage, färbt der Himmel sich bereits grau. Vera und Janina sind noch da. Vera schläft, halb auf Janina liegend, die hellwach ist. Als sie bemerkt, dass auch ich die Augen geöffnet habe, richtet sie sofort wieder die Waffe auf mich.

Zeit, die wichtigsten Dinge klarzustellen. »Wie geht es jetzt weiter?«, frage ich leise. »Lässt du mich laufen?«

Sie dreht den Kopf zur Seite. Betrachtet die Pistole. »Hatte ich eigentlich nicht vor, bis kürzlich. Dir verdanke ich die schlimmsten Tage meines Lebens. Kannst du dir vorstellen, wie es war, das zerquetschte Auto zu sehen und mir vorzustellen, dass darin die Überreste des Menschen stecken, den ich am meisten liebe?«

Ich habe wieder dich vor Augen, die Panik in deinem Blick, das Entsetzen in dem Moment, als ich dir das Messer in den Leib gestoßen habe, aus Liebe, um dich vor noch Schlimmerem zu bewahren. »Ja. Wenn du meine Geschichte kennst, weißt du, dass ich mir das vorstellen kann.«

»Dann weißt du auch, wie wenig Grund ich habe, dich zu verschonen. Es ist mir schon schwergefallen, Vera zu verzeihen, dass sie mir kein Lebenszeichen gegeben hat, bis sie bei dir untergeschlüpft ist.«

»Das hat sie nicht?«

»Nein. Weil sie klug ist. Weil sie wusste, dass meine Reaktion echt wirken muss, wenn die Fehde weitergehen sollte. Und wie sonst hättest du den Malakyans die richtigen Leute zum Fraß vorwerfen können?« Sie blinzelt in den heller werdenden Himmel. »Angenommen, ich lasse dich laufen. Was hast du vor?«

»Weggehen. Das Land verlassen. Nie wieder an euch denken, wenn ich das irgendwie schaffe.«

Sie nickt. »Das wäre auch nötig. Meine persönlichen Vorbehalte mal beiseite, ich muss vor allem meine Familie schützen. Meinen Vater. Er ist nicht für dieses Geschäft geboren, er würde es lieber heute als morgen bleiben lassen. Anders als Andrei.« Sie lächelt. »Und anders als ich.« Sie verlagert ihr Gewicht ein wenig, Vera seufzt im Schlaf. »Was ich vorher gesagt habe, war mein Ernst: In dieser Hinsicht sind wir dir zu Dank verpflichtet. Du hast alle Personen aus dem Weg geräumt, die Vater potenziell hätten gefährlich werden können. Er hat immer wieder davon gesprochen, dass Onkel Andrei auch Blutsverwandte aus dem Weg räumen lässt, wenn er denkt, sie könnten ihm gefährlich werden oder ihm im Weg stehen. Deshalb habe ich Vadim befohlen, Vater nie aus den Augen zu lassen. Pascha hätte keine Sekunde gezögert, ihn zu exekutieren, wenn Andrei es verlangt hätte.«

So viel töchterliche Fürsorge könnte ich beinahe rührend finden. »Was passiert jetzt mit den fünf, die Andrei begleitet haben?«

»Die waren bloß angeheuerte Söldner, so was sehe ich auf den ersten Blick. Gekaufte Schläger, die er aus Russland mitgebracht hat. Sie werden einen Teil ihres Solds bereits bekommen haben und jetzt denken, dass Andrei sich um die zweite Zahlung drücken wollte. Sie werden ihn verfluchen und zurückkehren.« Ihr Lächeln wird breiter. »Ich hätte dich trotzdem gerne im Schlaf erschossen, vorhin.« Sie zielt genauer, und ich ducke mich unwillkürlich zur Seite. Das scheint sie zu amüsieren, und überraschenderweise senkt sie die Pistole. »Aber du bekommst deine Chance. Vor allem, weil ich mich nicht hier und jetzt um deine Leiche kümmern will. Wir haben genug gegen dich in der Hand, solltest du uns je Ärger machen wollen. Wenn du verschwindest und ich nie wieder von dir höre, sind wir miteinander fertig. Falls du der Polizei oder den Armeniern unter die Arme greifen solltest, wirst du sehen, dass Andrei und ich doch verwandt waren.«

Der Handel widerstrebt mir, die ganze Janina widerstrebt mir, aber ich nicke. »Verstanden. Alles verstanden, bis auf eine Sache: Wenn du und dein Vater Andrei gar nicht schützen wolltet, wenn er dir bloß im Weg war – warum hast du mich nicht einfach in Ruhe in Wien Blumen verkaufen lassen? Wieso hast du mir Alex auf den Hals gehetzt?«

Sie zuckt mit der Schulter, auf der Veras Kopf nicht liegt. »Genau deshalb. Wir wollten uns vergewissern, dass wirklich du es bist, und dann wollten wir dich abholen und an einem sicheren Ort verwahren. Was mich angeht, ich wollte dich nicht töten, sondern als Trumpf gegen meinen Onkel im Ärmel haben.« Sie blinzelt nach oben, in den heller werdenden Himmel. »Ich war froh, dass du in München entwischt bist, denn da ist dein Auftauchen bis zu Andrei durchgesickert, und er hat dir Pascha hinterhergeschickt. Nach Wien habe ich aber die richtigen Leute ausgesandt, nur meine Männer. Mit exakten Anweisungen.«

Ich bringe kein Wort heraus. Dafür musste Norbert sterben? Die Frage würde ich ihr gerne um die Ohren schlagen, aber es hätte keinen Sinn. Janina würde mir nur erklären, dass das ein bedauerlicher Zwischenfall war. Ein Kollateralschaden.

Ich ziehe die Beine an, stütze die Stirn in die Hände. »Aber … Andrei hat mir geschrieben. Als ich in Wien war, eine Mail, an Alex’ Adresse. Er wusste, dass ihr meinen Nachbarn erschossen hattet. Er war über alles informiert.«

Ihr Lächeln ist wirklich zauberhaft. »Denk doch nach, Anna. Oder Carolin, du zuckst jedes Mal zusammen bei deinem echten Namen.« Sie schüttelt leicht den Kopf. »Er sollte wissen, dass wir dich jagen. Wir hätten ihm erzählt, dass du tot bist, hurra, großer Triumph. Onkel Andrei, du kannst endlich heimkommen, niemand mehr da, der gegen dich aussagen würde! Keine unangenehmen Zeugen mehr.«

Sie muss nicht weitersprechen, es ist alles klar. Kaum hätte Andrei die Grenze übertreten, hätte die Polizei einen Tipp bekommen, und ich wäre aus dem Hut gezaubert worden beziehungsweise aus irgendeinem Keller.

Aber nachdem sie ihm von meinem Versteck erzählt haben, hat er wohl selbst die Initiative ergriffen; davon weiß Janina möglicherweise gar nichts. Er hat jemanden angeheuert, der den Clan nicht kannte, die lokalen Gegebenheiten in Wien aber umso besser. Jemanden, der es fast geschafft hätte, mich zu beseitigen. Andrei ist immer gern auf Nummer sicher gegangen. Beinahe hätte er ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Obwohl jetzt erste Sonnenstrahlen durch die Blätter dringen, ist mir kalt. »Du hast recht«, sage ich. »Deine Verwandtschaft mit Andrei Karpin ist nicht zu übersehen.« Ich richte mich auf, mein linkes Bein ist eingeschlafen, beim Auftreten kribbelt es. Es dauert noch über eine Stunde, bis die Tore geöffnet werden, aber so lange halte ich es in Janinas Gegenwart nicht mehr aus.

Wir tauschen einen langen Blick. Was sagt man in einem solchen Fall? Nicht Auf Wiedersehen , nicht Mach’s gut . Fahr zur Hölle ? Ja, das würde mir gefallen, aber es wäre ungeschickt. Ich drehe mich um und schiebe einen Ast beiseite.

»Du vergisst nicht, was wir besprochen haben?«, sagt sie hinter mir. »Ich verlasse mich darauf.«

Das ist das Letzte, was ich von ihr höre. Meine Schritte rascheln durchs Laub, und als ich zwischen den Bäumen hervortrete, blendet mich die Sonne. Am liebsten würde ich über die Mauer klettern, mich in den Ford setzen und schnellstmöglich Frankfurt hinter mir lassen, doch ich habe noch etwas zu erledigen.

Der Friedhof liegt verlassen da, nur ein Eichhörnchen hüpft vor mir über den Weg. Von den fünf Russen keine Spur, Janina hatte wohl recht – sie haben nicht mehr als den Minimalaufwand betrieben. Trotzdem bin ich vorsichtig. Ich verkrieche mich in dem Birkenwäldchen, das mitten auf dem Friedhof angelegt wurde, lege mich zwischen zwei Gräber und lasse mich von der Sonne wärmen.

Andrei ist tot.

Ich wollte einen imaginären Keil zwischen ihn und seinen Clan treiben, aber sieh an, den gab es bereits. Zwar war es nicht sein Bruder, der ihn entthronen wollte, wie in meinen Textnachrichten angedeutet, doch dafür hatte er in seiner Nichte eine wahrhaft würdige Feindin.

Um halb acht höre ich die ersten Stimmen von weit her, höre eine Motorsäge, einen Rasenmäher. Die Friedhofsmitarbeiter haben ihren Tag begonnen. Demnächst werden die Tore öffnen. Aber ich werde noch nicht von hier weggehen.

Die Sonne steigt höher, um die Blumen zwischen den Gräbern summen Hummeln. Ein kleiner, grün schillernder Käfer krabbelt über meine Hand. Ich stehe auf, setze ihn behutsam auf einen der schiefen Grabsteine, wo er suchend seine Fühler in alle Richtungen reckt.

Nun sind auch die ersten Besucher auf dem Friedhof. Ich gehöre zu ihnen, spaziere die Reihen entlang, bleibe an besonders beeindruckenden Grabmälern stehen. Nähere mich auf Umwegen dem Schauplatz des Geschehens der letzten Nacht.

Man sieht dem Ort nicht an, dass erst vor ein paar Stunden ein Mann hier gestorben ist. Da und dort ist das Gras ein wenig zerdrückt, das ist alles. Der Bagger steht da, wo ich ihn geparkt habe, und zwei Männer haben gerade den Absenkautomaten an dem offenen Grab eingerichtet. Sie wirken völlig entspannt, sehen nicht so aus, als wäre ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen.

Mein Rucksack liegt noch im Biocontainer vergraben; Glück gehabt. Ich hole ihn heraus, überprüfe den Inhalt: Ausweise, Autoschlüssel, Geld, alles da. Auch Paschas Messer. Nur die Walther gehört jetzt Janina, samt meinen Fingerabdrücken.

Ich brauche Geduld, wieder einmal. Bis der Trauerzug eintrifft, angeführt von dem Leichenwagen, der den Sarg transportiert, ist es halb zwölf. Es ist ein kleines Begräbnis, knapp zwanzig Menschen; die meisten davon bereits in einem Alter, das automatisch die Frage aufwirft, wer von ihnen der Nächste sein wird.

Ich knie mich vor mein Grab. Senke den Kopf. Zwei Reihen weiter beginnt ein Priester, Aussegnungsworte zu sprechen, träufelt Weihwasser in die Grube und auf den bereitstehenden Sarg. Der kurz darauf hinabgelassen wird. Die Trauernden werfen Blumen und Erde hinterher, manche umarmen einander, dann machen sie sich auf den Weg zurück.

Ich stehe auf. Es sieht aus, als wäre es geschafft. Es könnte wirklich geschafft sein.

Mit einem Ruck ziehe ich die Petunien aus der Erde und fege, als letzte Geste, ein welkes Blatt von meinem Grabstein. Fahre mit dem Zeigefinger die vergoldete Inschrift nach.

Anna Piroth

Kein Geburts-, kein Sterbedatum. Anna Piroth ist aus der Zeit gefallen. Es gibt sie nicht mehr. Es ist Carolin Bauer, die nach Wien zurückkehren wird. Sie wartet noch, bis ein schmächtiger junger Mann in den Bagger klettert und beginnt, den großen Erdhaufen in die Grube zu schaufeln, in der Andrei Karpin liegt. Dann wendet sie sich um und geht.

Robert sitzt im Garten des Pflegeheims. Man hat seinen Rollstuhl in die Sonne gestellt; jemand muss ihm auch das spärliche Haar geschnitten haben. Sein Kopf hängt kraftlos in der Stütze, seine Hände ruhen auf den Oberschenkeln.

Ich lege die Petunien hinein. »Er ist tot, Robert. Andrei ist tot. Heute Mittag wurde er beerdigt. Pascha ist auch tot, genauso wie Boris. Sie sind weg.« Ich streiche über eine der Brandnarben an seinem Unterarm. »Petunien stehen für Überraschung«, flüstere ich. »Das ist doch eine Überraschung, nicht wahr?«

Er reagiert nicht, natürlich tut er das nicht, trotzdem breitet sich etwas wie Enttäuschung in mir aus. Ich würde meinen Sieg – falls man ihn so nennen kann – gerne mit jemandem teilen. Aber außer Robert fällt mir niemand ein, mit dem das möglich wäre.

Oder vielleicht doch: ein Mann um die sechzig mit zu großen Zähnen, der seine Geschichte auch keinem erzählen kann.

Ich streiche Robert über den Kopf, fühle, wie mir Tränen in die Augen steigen. »Leb wohl, alter Mistkerl. Ich bin raus hier. Außer, du wachst doch irgendwann auf, dann komme ich noch mal her. Aber nur dann.«