29 .

E ileen fallen beinahe die Augen aus dem Kopf, als ich die Blumenhandlung betrete. »Caro! Du … du … echt jetzt? Caro?« Sie stolpert fast, als sie hinter der Ladentheke hervorschnellt, und fällt mir um den Hals. »Sie haben behauptet, du würdest wegen eines Mordes gesucht. Aber du warst das nicht, oder?«

»Nein.«

»Ich hab’s gewusst.« Sie drückt mich fester an sich. »Das habe ich auch dem Polizisten gesagt, jedes Mal, wenn er hier war.«

Behutsam löse ich mich aus ihrer Umarmung. »Mal sehen, ob er uns glaubt. Ist Matti da?«

»Ja, aber der macht gerade Pause, draußen irgendwo. Er wird überhaupt nicht glauben können, dass du zurück bist! Niemand hat gewusst, wo du steckst, wir haben uns alle Sorgen gemacht. Matti war total düster drauf. Hat gemeint, du wärst wahrscheinlich tot.«

Damit hätte er um ein Haar auch richtiggelegen, was mich zu einer drängenden Frage bringt. »Hast du Albert in letzter Zeit gesehen?«

»Den? Nein. Der ist auch weg. Zwei Tage nach dir ist er verschwunden. Hat telefonisch gekündigt und sich nicht einmal verabschiedet. Matti war total vor den Kopf gestoßen.«

Also ist er davongekommen. Vielleicht ist er sogar bezahlt worden. Ich weiß nicht, ob ich mehr erleichtert oder empört bin. Erleichtert, beschließe ich. Hauptsache, er ist weg.

»Wie geht es Paula?« Als ich Mattis Frau das letzte Mal gesehen habe, war sie schwach, aber guter Dinge.

Eileen zieht eine unschlüssige Grimasse. »Sie ist nicht sehr viel hier, sie bekommt wieder ihre Therapie, und ihr ist oft übel. Aber sie sagt, die Ärzte sind zufrieden.« Ihr Gesicht hellt sich auf. »Willst du wieder hier arbeiten? Oh bitte, das wäre so schön! Wir waren doch ein tolles Team, nicht wahr?«

»Doch, und ob.« Ich drücke sie noch einmal an mich. »Gib mir ein bisschen Zeit. Ich muss noch ein paar Dinge regeln.«

Unser Wiedersehen wird von einer Kundin unterbrochen, die das Geschäft betritt und Freesien kaufen möchte. »Ich komme bald wieder«, erkläre ich, den Türgriff schon in der Hand.

»Kann ich Matti von deinem Besuch erzählen?«, ruft Eileen mir nach.

Ich überlege kurz. Soll sie? »Ja, tu das ruhig. Sag ihm, wir sehen uns bald.«

Für weitere Begegnungen fühle ich mich noch nicht gerüstet, und an meiner ehemaligen Wohnung ist sicher schon das Schloss gewechselt – ganz abgesehen davon, dass ich sie nicht mehr betreten möchte. Nicht nach allem, was dort geschehen ist.

Ich fahre also aus der Stadt, die vertraute Strecke, die zum Abbruchhaus führt, in dem ich Alex gefangen gehalten habe. Die Stelle, an der ich immer mein Auto versteckt habe, ist beinahe zugewuchert, deshalb parke ich ein paar Meter daneben. Vermutlich kann man den Wagen nun von der Straße aus sehen, aber das ist egal. Es gibt keine Killer mehr, die noch hinter mir her sein könnten.

Bepackt mit ein paar Einkäufen, meinem Schlafsack und der Luftmatratze, stapfe ich durchs hohe Gras. Das Haus ist unverändert, es wirkt immer noch, als könne es jeden Moment in sich zusammenfallen. Ich drücke die Tür auf.

Staubpartikel tanzen im Sonnenlicht, das durch die trüben Fenster fällt. Ich lege meine Sachen auf den alten Holztisch in der Wohnküche und öffne die Tür zum Keller. Schalte das Licht ein.

Die Handschellen liegen auf dem Boden, die Kette hängt noch zwischen dem alten Mühlstein und dem Heizungsrohr. Soweit ich es sehen kann, hat Alex auf seiner Flucht nichts mitgenommen, keine Beweise gesammelt und ganz offensichtlich auch nicht die Polizei hergelotst.

Ich sammle die leeren Wasserflaschen, die Kekspackungen, die schwarz zusammengeschrumpften Bananenschalen vom Boden. Ein ganzer Müllsack wird voll, und danach sieht es hier unten wieder so aus wie damals, als ich diesen Keller zu meinem Refugium gemacht habe.

Trotzdem werde ich heute Nacht nicht hier schlafen. Sondern oben, wo eine Kreuzspinne vor dem Fenster ihr Netz webt und ich in der Dämmerung sehen kann, wie die Rehe aus dem Wald treten. Ich habe Wein im Gepäck und teuren Käse. Ich will ihn genießen, diesen Abend, vielleicht ist es mein letzter in Freiheit.

Morgen werde ich mich bei Tassani melden.

Er ist vollkommen sprachlos, als er meine Stimme am Telefon hört. Die Zentrale hat mich direkt zu ihm durchgestellt, und bis auf »Tassani, ja bitte?« hat er noch nichts gesagt.

»Sie haben mich verstanden?«, frage ich vorsichtshalber nach. »Carolin Bauer. Ich bin zurück in Wien, und ich habe keine Lust mehr, vor irgendjemandem davonzulaufen. Auch nicht vor der Polizei. Wollen wir uns treffen, oder soll ich mich gleich freiwillig in Untersuchungshaft begeben?«

»Äh«, macht er. »Ich … ich will erst mit Ihnen reden. Seien Sie um drei Uhr im Stadtpark, am Ententeich.«

Drei Uhr, das lässt mir angenehm viel Zeit für mein Frühstück. Ich packe meine Sachen, fahre zurück nach Wien und schlendere durch die Innenstadt. Die Außenbereiche der Cafés sind fast alle voll besetzt, aber ich finde ein Tischchen vor dem Palmenhaus im Burggarten. Bestelle Eier, eine Melange und Orangensaft. Das Paar am Tisch neben mir spricht Italienisch, einige Studenten liegen mit nacktem Oberkörper auf der Wiese.

Während ich den Milchschaum von meinem Kaffee löffle, überlege ich, was ich Tassani erzählen soll, und vor allem: was nicht. Dass ich Andrei Karpin erschossen und begraben habe, gehört in die zweite Kategorie. Ich sollte überhaupt möglichst wenig von den Ereignissen in und um Frankfurt erwähnen. Allerdings wird Tassani wissen wollen, wo ich in den letzten Wochen war, und ich habe große Lust, ihm die Wahrheit zu sagen. Eine lückenhafte Wahrheit.

Er erscheint auf die Sekunde pünktlich am vereinbarten Treffpunkt im Stadtpark. Für seine Lederjacke ist es heute zu warm; er trägt ein hellblaues Poloshirt und ist so braun gebrannt, wie es sich für einen Neapolitaner gehört.

Ich sitze auf einer Bank im Halbschatten, sehe ihn auf mich zukommen und möchte plötzlich weglaufen. Es war dumm von mir, mich so früh bei ihm zu melden, ich hätte das Haus, meine Freiheit, diese Stadt noch ein paar Tage länger genießen sollen.

»Frau Bauer«, sagt er und bleibt vor mir stehen.

»Commissario Tassani.« Ich klopfe neben mir auf die Bank, und nach kurzem Zögern setzt er sich.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie zurückkommen.«

»Wahrscheinlich ist es auch dumm von mir.« Vor dem Ententeich steht ein etwa dreijähriges Mädchen und wirft Brotstückchen ins Wasser. »Aber ich dachte, wenn ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen, gibt es keinen Grund, wegzubleiben.«

Tassani schlägt die Beine übereinander. »Wieso haben Sie sich nicht früher bei mir gemeldet? Ist Ihnen nicht klar, wie verdächtig Sie sich gemacht haben?«

»Doch. Aber es ist mir nichts anderes übrig geblieben. Und Sie müssen mir das nicht glauben, aber ich war es nicht. Ich hatte Norbert so gerne, ich hätte nie …«

»So weit sind wir selbst schon gekommen. Neben anderen Indizien haben wir Trittspuren auf Ihrem Teppich gefunden, die von Arbeitsschuhen stammen. Zur Tatzeit wurden drei Männer auf Ihrem Stockwerk beobachtet, die wie Handwerker aussahen, aber niemand hatte an diesem Tag Reparaturen in Auftrag gegeben. Eine Nachbarin hat ausgesagt, sie hätte einen von ihnen beim Verlassen des Hauses angesprochen und um Hilfe gebeten, weil eines ihrer Fenster klemmte, doch der Mann hätte sie nur grob beiseitegeschubst.« Tassani zieht die Augenbrauen zusammen. »Aber Sie wissen, wer die Männer waren, nicht wahr?«

»Ihre Namen kenne ich nicht, wenn Sie das meinen.« Ich hole tief Luft. »Außerdem dürften sie mittlerweile tot sein.« Das stimmt so zwar nicht, aber ich kann Janina als Auftraggeberin nicht ins Spiel bringen. Sie würde keine Sekunde zögern, die Fotos von Andreis Tod aus dem Ärmel zu zaubern.

Tassani wirkt irritiert. »Tot? Sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten …«

»Nein, natürlich nicht. Nicht direkt.« Zumindest in diesem Punkt werde ich ihm die Wahrheit erzählen. »Sie wissen ja, dass ich vom BKA in den Karpin-Clan eingeschleust worden bin. Und dass dessen Anführer mich um jeden Preis aus dem Weg haben wollte.«

Er nickt. »Ja, so viel haben die deutschen Kollegen mir erzählt. Viel mehr leider nicht.«

»Deshalb bin ich zurück nach Frankfurt. Ich wollte einfach, dass es vorbei ist, wissen Sie? Und das ist es jetzt.«

Tassani atmet tief ein. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein wenig deutlicher zu werden?«

Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich die richtige Formulierung gefunden habe. »Es gibt in der Stadt nicht nur einen Clan, sondern mehrere, und manche sind bis aufs Blut verfeindet.« Ich schiebe mit der Schuhspitze ein paar Kieselsteine zu einem kleinen Haufen. »Sagen wir so: Ich habe den Feinden meiner Feinde ein wenig unter die Arme gegriffen. Mit Informationen hauptsächlich.«

Seine dunklen Augen werden groß. »Sie haben einen Mafia-Krieg angezettelt?«

»Nein. Doch. So ähnlich. Aber jetzt dürfte Ruhe sein.«

Tassani schüttelt den Kopf, er hört gar nicht mehr auf damit. »Ich müsste das weitergeben, ist Ihnen das klar? Ich müsste jedes Detail, das Sie mir erzählen, protokollieren und an die Kollegen vom BKA weiterreichen.«

»Ich weiß. Deshalb bekommen Sie von mir auch keine Details.«

»Das werden wir ja noch sehen.« Weiteres Kopfschütteln. »Was mich aber noch mehr interessiert, sind die Grabschändungen. Die Morde an Gernot Nadler und Gunther Siel. Was hatten Sie damit zu tun?«

»Ich? Überhaupt nichts.« Meine Stimme klingt vielleicht einen Hauch zu unschuldig. »Ich dachte, den Fall hätten Sie längst geklärt.«

Ich blicke zur Seite, bevor ich weiterspreche. »Aber wenn Sie mich nach meiner Meinung fragen: Manchmal haben Täter ihre Strafe schon hinter sich, nicht wahr? Dann wäre es doch unfair, sie ein zweites Mal zu bestrafen.«

Er versteht genau, was ich meine. Er kennt die Zusammenhänge, nur die Namen kennt er nicht. »Sie wissen«, sagt er leise, »dass ich Sie vorladen muss. Und dass Ihnen selbst ein Strafverfahren droht, wenn Sie den Täter schützen und die Aussage verweigern.«

»Ja.«

Das Mädchen am Teich hat alle seine Brotstücke verfüttert und rupft jetzt Blumen aus, die es ins Wasser wirft.

»Aber ich weiß nicht, wer es war. Ganz ehrlich, Commissario, woher sollte ich das wissen?«

Mit einem Ruck steht er auf. »Wo erreiche ich Sie künftig? Haben Sie schon eine neue Adresse?«

»Leider noch nicht. Ich muss mich erst umsehen. Aber ich gebe Ihnen gern meine neue Handynummer.«

Er tippt sie in sein Smartphone ein, und als er sich zum Gehen wendet, umspielt erstmals etwas wie ein Lächeln seine Lippen. »Wir sind noch nicht fertig miteinander.«

Ich erwidere seinen Blick. »Das sehe ich auch so.«

Am nächsten Tag schaffe ich es kaum, den Blumenladen zu betreten, weil Matti sich sofort auf mich stürzt und mich über eine Minute lang nicht mehr loslässt. »Solche Sorgen«, murmelt er. »Solche Sorgen habe ich mir gemacht.«

Als er so weit von mir abrückt, dass ich ihm ins Gesicht sehen kann, sind seine Wangen gerötet. »Sucht die Polizei dich noch? Ich verstecke dich, das hätte ich gleich getan, wenn du Bescheid gesagt hättest. Als ob du einen Mord begehen könntest, der hat ja einen Knall, der Polizist.« Matti zieht mich ins Hinterzimmer, in mein vertrautes Refugium, wo ich monatelang Blumen geköpft habe. »Du weißt, welchen ich meine? Den Kleinen mit der Glatze.«

»Ja. Tassani.«

»Genau. Jedes Mal, wenn er hier war, habe ich ihm gesagt, dass du sicher niemanden umgebracht hast, dass du ein herzensguter Mensch bist, der keinem etwas zuleide tun kann. Verdammt noch mal.« Er drückt mich auf die zerschlissene Couch. »Das werde ich vor jedem Gericht aussagen.«

Ein herzensguter Mensch. Ich kann ein paar Sekunden lang nicht antworten, weil ich Boris vor mir habe, die Blutlache, das abgeschnittene Ohr. Pascha in der Schrottpresse. Andrei auf der Baggerschaufel. Keinem etwas zuleide tun.

Matti wartet sichtlich auf eine Reaktion von mir, und ich versuche zu lächeln. »Du bist ein Schatz, danke. Aber ich glaube nicht, dass ich vor Gericht muss. Tassani und ich haben uns schon getroffen. Er traut mir zwar nicht über den Weg, aber er weiß, dass ich meinen Nachbarn nicht erschossen habe.«

Matti nickt wohlwollend. »Er ist übrigens hier.«

»Wer? Tassani?«

»Dein Nachbar. Gruppe hundertzwanzig, Reihe zwei. Ich habe ihm letztens ein Gesteck gebracht, das nicht abgeholt wurde. Der Stein ist noch nicht da, bisher gibt es nur ein Holzkreuz.« Er blickt zu Boden. »Ich dachte, ich tue das stellvertretend für dich.«

Nun bin ich es, die ihn an sich drückt. »Danke, Matti. Wirklich. Danke.«

Er zieht die Nase hoch. »Was wirst du jetzt machen? Hast du Pläne? Bleibst du in Wien?«

»Ich glaube schon. Zumindest würde ich das gerne. Allerdings bräuchte ich einen Job. Wüsstest du eventuell etwas für mich?«

Matti lacht auf. Deutet auf meine Schürze, die immer noch am selben Haken hängt. »Ob ich etwas für dich weiß? Du kannst gleich anfangen. Ist mein Ernst.«

Aufgeregtes Quieken aus dem Verkaufsraum, Eileen hat gelauscht. Ich blicke durch das trübe Fenster hinaus auf den Hof, auf dem ich einmal einen Marmorbrocken gefunden habe, mit dem ein Anwalt erschlagen wurde. »Heute habe ich noch zu tun. Aber sagen wir: morgen? Danke, Matti, das ist großartig.«

Der Nachmittag verströmt bereits dieses goldene Licht, das den Herbst ankündigt; auf den Wegen liegen gelbe Blätter. Ich habe drei weiße Lilien aus dem Blumenladen mitgenommen und gehe jetzt an den vertrauten Grabmälern und Marmorengeln vorbei, von denen ich nicht gedacht habe, dass ich sie je wiedersehen werde.

Gruppe hundertzwanzig, Reihe zwei. Das Grab ist nicht mehr so frisch, dass noch die Kränze dort liegen würden, besteht aber nicht lange genug, um fertiggestellt worden zu sein. Es befindet sich in einem traurigen, ungeschmückten Zwischenzustand. Ich drapiere die Lilien rund um das schmucklose Holzkreuz. »Es tut mir so leid, Norbert.«

Mehr weiß ich nicht zu sagen, mehr könnte ich auch nicht sagen, denn zu meiner eigenen Überraschung bricht plötzlich die ganze Trauer aus mir heraus, die ich so lange zurückgehalten habe. Um ihn. Um Robert. Um dich. Und um das, was mein Leben hätte sein können.

Ich knie vor dem Grab und versuche, mich zu fangen, doch der Schmerz hat seine Klauen tief in mich gegraben, reißt alte und neuere Wunden auf, es fühlt sich an, als würde ich ausbluten.

Es ist vorbei und wird nie vorbei sein. Die Toten werden tot bleiben, die Narben werden verblassen, aber nicht verschwinden. So wie meine Angst, von der ich nicht glaube, dass sie mich je ganz loslassen wird.

Das zeigt sich auch jetzt, an dem Schreck, der mich durchzuckt, und dem Schrei, den ich ausstoße, als sich eine Hand auf meine Schulter legt.

Tassani. Er steht da, blickt auf mich hinunter, dann zieht er eine Packung Taschentücher aus der Jackentasche. Hilft mir auf die Beine und führt mich zur nächsten Parkbank.

Dort heule ich weiter, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen vergraben.

Tassani hat Geduld. Er stellt keine Fragen, und vor allem gibt er keine abgedroschenen Floskeln von sich. Er wartet, bis ich mich aufrichte und ihm mein verweintes Gesicht zuwende.

»Es war ein schönes Begräbnis«, sagt er. »Ein paar Freunde von ihm haben Musik gemacht und seine liebsten Textstellen aus verschiedenen Büchern vorgelesen.«

Das Stichwort treibt mir sofort wieder die Tränen in die Augen. »Bücher. Er wollte mir Bücher leihen, wissen Sie? Deshalb hat er an meiner Tür geläutet, wir hatten verein… vereinbart, er würde …«

Mehr bringe ich nicht mehr heraus, sinke wieder in mich zusammen. Spüre Tassanis Hand auf dem Rücken, wie sie langsam hin- und herstreicht. Dann, irgendwann, nach meiner Schulter greift. »Kommen Sie.«

Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht. »Nehmen Sie mich fest?«

Er lächelt. »Nein. Ich füttere Sie, wenn Sie einverstanden sind. Essen hilft manchmal. Und ich kenne ein sehr gutes Lokal ganz in der Nähe.«

Er hat recht, stellt sich heraus. Essen hilft, obwohl ich überzeugt bin, dass ich nichts herunterbringen werde. Ein Irrtum, wie sich zeigt. Nachdem ich meinen Teller geleert habe, breche ich nicht mehr in Tränen aus, dafür beginne ich zu erzählen. Vorsichtig darauf bedacht, nichts zu sagen, was die falschen Leute in Schwierigkeiten bringen könnte.

Aber ich erzähle von dir. Von unserer gemeinsamen Zeit und von deinem Ende. Nimmt man Alex aus, ist Tassani der erste Mensch, mit dem ich darüber spreche.

Der Gedanke an Alex lässt mich kurz den Faden verlieren. Ob ich versuchen soll, ihn aufzustöbern? Ob ich ihm erzählen soll, wie knapp er mit dem Leben davongekommen ist?

Falls das überhaupt der Wahrheit entspricht und Janina meine weiteren Fragen nicht mit einer freundlichen Lüge abwimmeln wollte. Ich könnte mich natürlich vor dem Institut für Informatik auf die Lauer legen und auf Alex’ Auftauchen hoffen. Oder vor seiner Wohnung. Aber wenn er weder da noch dort auftaucht, werde ich annehmen, dass jemand anderes Boris’ Aufgabe übernommen hat. Dass er längst in einem der Laugenfässer steckt.

Tassani greift nach meiner Hand; er denkt naheliegenderweise, dass ich nicht weitererzähle, weil ich die Erinnerung nicht ertrage.

In einem ersten Reflex will ich mich der Berührung entziehen, aber sie ist freundschaftlich. Fordert nichts, will nur Beistand signalisieren. »Sie müssen nicht weitersprechen«, sagt er. »Das ist keine Vernehmung, wir sind privat hier.«

Seine Hand ist braun gebrannt und warm. Meine ist weiß und sieht aus wie die einer Kranken. »Würden Sie mir einen Gefallen tun?«, frage ich.

»Welchen?«

»Könnten Sie Ihre deutschen Kollegen bitten, sich einmal im Frankfurter Hotel zu den Linden umzusehen? Es könnte sein, dass sie dort ein paar minderjährige Mädchen aus der Ukraine mit falschen Papieren finden.«

Er legt die Stirn in Falten, dann nickt er. »Und ich vermute, es soll niemand erfahren, woher dieser Tipp kommt?«

»Ja. Ja, das wäre wichtig.«

Es ist ein Risiko, dass ich eingehen muss, wenn ich eines Tages zur Ruhe kommen will.

»Geht es Ihnen ein bisschen besser?«

»Ja. Viel besser. Danke.«

»Soll ich Sie nach Hause fahren?«

Mein erster Impuls ist, ihm zu sagen, dass ich kein Zuhause habe, aber dann wird er eine Unterkunft für mich organisieren wollen. Vielleicht sein Gästezimmer. Dem fühle ich mich heute nicht gewachsen.

»Vielen Dank, aber ich habe mir einen Wagen geliehen, den möchte ich nicht in der Kurzparkzone stehen lassen.«

Er nickt, hebt die Hand und winkt den Kellner heran. Fünf Minuten später stehen wir draußen, noch ist es hell. »Ich werde in den nächsten Tagen trotz allem noch die eine oder andere Aussage von Ihnen brauchen«, erklärt Tassani, als wir uns zum Abschied die Hände schütteln. »Zu allen möglichen Dingen. Ich hoffe, Sie laufen nicht wieder davon.«

»Tue ich nicht.«

Er lächelt, drückt meine Hand fester. »Dann bis bald, Frau Bauer.«

»Bis bald, Commissario.«

Als ich am Abbruchhaus ankomme, steht der Mond am Himmel. Ich nehme mir einen Küchenstuhl, ein Glas Wein und setze mich vor die Tür. Hier wäre eine Terrasse schön, man könnte über die Wiese hinweg auf den Wald schauen, den Grillen zuhören, sich die Stirn vom Wind kühlen lassen.

Zum ersten Mal frage ich mich, ob man dieses Haus kaufen könnte. Renovieren. Richtig bewohnen.

Wahrscheinlich nicht mit meinen knappen Mitteln. Aber einen Versuch wäre es wert. Mir fällt wieder ein, was der Mann mit den großen Zähnen gesagt hat. Der Mann, zu dem ich um seinetwillen besser keinen Kontakt aufnehmen sollte. Ich hätte gern ein Häuschen im Grünen und zwei Hunde. Spazieren gehen, lesen, ein voller Kühlschrank – das wär’s .

Ja, das wär’s. Das wäre genug, das wäre schön. Tagsüber Kränze binden in der Blumenhandlung, abends hier sitzen und in den Himmel schauen. Vielleicht einmal Eileen einladen – oder Matti und Paula.

Mein Handy gibt die zwei kurzen Töne von sich, mit denen eine Textnachricht eintrifft. Janina, ist mein erster Gedanke. Hat sie meine Nummer? Hatte Vera sie? Nein, keine von ihnen, und auch vor Tigran habe ich sie immer anonym geschaltet.

Hektisch ziehe ich das Telefon aus der Jackentasche. Die Nachricht kommt von einer österreichischen Nummer, die ich in diesem Gerät nicht eingespeichert habe. Noch nicht.

Ich hoffe, Sie sind gut zu Hause angekommen. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas brauchen. Gute Nacht, Carolin .

Ich lächle mein Handy an, lehne mich zurück und trinke den letzten Schluck Rotwein. Könnte wirklich sein, dass ich zu Hause bin.