Im Supermarkt gleich bei uns an der Ecke drängen sich Studenten auf dem Weg zur Uni.
»Einen Zimt-Rosinen-Bagel mit Frischkäse light und einen kleinen Kaffee, bitte«, sagt Jenna und reicht dem Typen hinter dem Tresen einen Zehner.
»Eine Banane und einen Kaffee.« Ich lasse die Banane in meine Kuriertasche fallen und schiebe ein paar Münzen über die Theke.
Ich bin müde, weil ich die halbe Nacht wach gesessen und den Text für meine Webseite durchgesehen und teilweise neu geschrieben habe. »Ich hasse Montage!«, grummele ich Jenna zu, als eine Gruppe schwer parfümierter Mädchen aus einer studentischen Verbindung an uns vorüberzieht. Ich fächele mir mit der Hand frische Luft zu. »Montage und zu viel Parfüm.«
Jenna signalisiert ihre Zustimmung, indem sie mich mit dem Ellbogen anstößt. »Und Mädels, die ständig überrascht aussehen, weil sie sich zu stark die Augenbrauen zupfen.«
Lachend schiebe ich meinen Arm unter ihren und wir treten hinaus auf den Bürgersteig, wo wir warten müssen, bis die Ampel an der Ecke auf Grün springt.
»Ich hasse Sauerkraut und kläffende Hunde«, fällt mir als Nächstes ein. Angewidert verziehe ich das Gesicht.
»Ja! Und kneifende Stringtangas! Ich meine, das Stückchen Stoff soll ja oben sein, aber da oben dann doch nicht!«
Beim letzten Satz senkt Jenna verschwörerisch die Stimme und zieht vielsagend die rechte Augenbraue hoch. Ich ersticke fast an meinem Kaffee.
»Außerdem hasse ich gebrauchte Kondome!«, fährt sie mit Schwung fort. »Igitt! Wie die so daliegen – schlaff und irgendwie missbilligend, wie unwillkommene Erinnerungen an den dreckigen Sex, den man die Nacht zuvor hatte.«
Ehe ich mir die Hand vor den Mund halten kann, pruste ich schon los. »Jenna!«
Inmitten einer Studentenhorde kreuzen wir die Commonwealth Avenue und schieben uns gerade Richtung Geisteswissenschaften, als ich aus einiger Entfernung eine bekannte Stimme höre.
Ehe ich weiß, was ich tue, verschwinde ich hinter einer dichten Hecke und ziehe Jenna mit mir. Sie schreit leise auf, als ihre Knie im nassen Erdreich versinken, wobei ihr der Kaffeebecher aus der Hand fällt.
»Schsch!« Ich lege ihr mahnend den Finger auf die Lippen, und so hocken wir hinter dem Busch wie zwei frisch aus dem Gefängnis entflohene Sträflinge.
Ich kann ihre Schritte hören, seine und ihre. Das Mädchen kichert, danach setzt eine hohe, piepsige Stimme ein: »Ich bin ja so froh, dass mein Text Ihnen gefallen hat! Ich hatte solche Angst, er würde nichts taugen.«
»Die Story ist absolut atemberaubend, Liebes. Sie werden sie bestimmt veröffentlichen können, da habe ich vollstes Vertrauen. Lassen Sie uns morgen nach dem Seminar weiterreden, vielleicht beim Lunch?«
Seine Stimme ist wie ein Python, der sich um mich legt und sich langsam zusammenzieht, bis ich die Augen schließen und mich ganz aufs Atmen konzentrieren muss.
Ich warte ein paar Minuten, um sicher sein zu können, dass sie wirklich weit genug weg sind. Dann recke ich wie die Erdhörnchen in diesen altmodischen Videospielen den Kopf über das Grünzeug, um die Lage zu peilen.
Die Luft ist rein. Ich atme ein paarmal tief durch, stehe auf und strecke meiner Mitbewohnerin die Hand hin. Die hat bisher nichts gesagt, trägt nur diesen unmissverständlichen »Was-zum-Geier-war-das-denn?«-Ausdruck im Gesicht.
»Tut mir echt leid, Jenna! Ich wollte dich nicht in den Dreck schubsen, das war eine spontane Reaktion, als ich die Stimme von Wheeler hörte.«
Sie tätschelt mir beruhigend den Rücken. »Dann hast du ihn bisher noch nicht wiedergesehen?«
»Nicht direkt, so von Angesicht zu Angesicht. Es ist allerdings fraglich, ob das das ganze Jahr so weitergehen kann. Im Buchladen wäre ich ihm neulich fast richtig begegnet. Meinst du, ich schaffe es, ihm bis zur Abschlussfeier aus dem Weg zu gehen?«
Jenna verzieht nachdenklich das Gesicht, ehe sie den Kopf schüttelt. »Dieser Hund jagt nicht.«
Die Antwort lässt mich blinzeln. Ich glaube, sie meint nein.
Ich liebe Jennas Südstaatensprüche, nur hätte ich in diesem Fall gern einen anderen gehört.
Eine Woche, die schon mit einem Sprung hinter einen Busch losgeht, kann eigentlich nichts Gutes bringen. Wahrscheinlich steht noch mehr Ärger ins Haus. Ich schleppe mich nur mühsam durch die nächsten Tage, verschlafe trotz Wecker, komme zu spät zur Arbeit und zu meinen Seminaren. Wie viele Tassen Kaffee ich auch trinke, wie sehr ich mich auch bemühe, meine Tage besser zu planen, ich schaffe es einfach nicht, mich wieder auf die Reihe zu kriegen. Wheelers Anwesenheit auf dem Campus hängt mir wie ein bleierner Anker um den Hals, und ich ertappe mich dabei, wie ich mich ständig umdrehe, immer wieder einen Blick über meine Schulter werfe, weil ich Angst habe, er könnte in der Nähe sein.
Da kommt das rote Kürzel unter meiner Hausarbeit eigentlich wie erwartet, und alles, was mir dazu einfällt, ist: »Das hätte ich mir ja denken können.«
Ein C? Professor Marceaux hat mir ein C gegeben, sie findet meine Arbeit gerade mal befriedigend?
»Ich habe eine bessere Note als du?« Jenna schnappt sich meinen Beitrag für den Romance-Schreibkurs und betrachtet die Bewertung darunter mit unverhohlenem Entzücken. Ich werfe ihr meinen finstersten Blick zu, woraufhin sie die Unterlippe vorschiebt, als sei sie zu Tode betrübt. Von wegen!
»Jawohl, jetzt ist es offiziell, ich bin ein Loser.« Ich wusste schon, als ich den Text schrieb, dass das alles nicht richtig war.
Nachdem Jenna die Seiten durchgeblättert hat, seufzt sie. »Ihre Kommentare sind ja ziemlich heftig.«
Harper, die unsere Unterhaltung halb mit angehört hat, kommt aus ihrem Zimmer und lässt sich neben uns auf die Couch fallen. »Wie hat Professor Marceaux das denn begründet?«
»Sie findet meinen Schreibstil gekünstelt und gehemmt. Ich müsste lockerer werden.« Das hätte ich der Frau gleich sagen können. »Aber bestimmt ist sie nicht halb so streng wie unsere Arbeitsgruppe sein wird.«
»Ist ja echt scheiße.« Harper runzelt mitleidig die Stirn.
»Ich fühle es einfach nicht.«
»Ich habe eine spitzenmäßige Idee!« Jenna springt auf und stürzt in ihr Zimmer, um ihr Handy zu holen. Kurz darauf summt meins.
Ich werfe einen Blick auf mein Display. »Jenna, warum simst du mir, wenn wir im selben Raum sitzen?«
Sie grinst verschmitzt. »Wir spielen jetzt Schlampenschlacht.«
»Entschuldige – was?«
»Wir helfen dir, über Sex zu reden. Bei dem Spiel geht es darum, wer die größte Schlampe sein kann. Harper und ich schicken dir dreckige SMS, und du musst antworten.«
»Wo hast du die Idee denn her?« Kopfschüttelnd lese ich ihre SMS laut vor: Komm, streichle meinen Slinky-Mann.
Slinky-Mann?
Ich sehe Jenna und Harper an, und wir drei brechen in kreischendes Gelächter aus.
»Du musst antworten! Sonst kann du was erleben!« Jenna winkt mit ihrem Handy.
Ich verdrehe die Augen.
Da ich noch nie eine sexy SMS verfasst habe, weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Jenna hat wahrscheinlich jede Menge Übung, mit Ryan. Igitt.
Endlich schaffe ich es, zurückzusimsen.
Jenna liest meinen Text laut vor: Ich würde deinen Slinky-Mann ja streicheln, aber ich mag keine bimmelnden Sachen.
Sie sieht hoch und lacht: »Was?«
»Baumelnd. Penisse baumeln, und Slinkys bimmeln.« Als müsste das jedem klar sein. »Ein einziges Gebimmel und Gebammel. Außer, sie sind erigiert, natürlich. Igitt. Das ist ein wunderschönes Wort für dich: erigiert.«
»Hey, nimm den Mund nicht zu voll«, warnt Jenna. »Überhaupt, wo wir von Bimmeln und Bammeln sprechen, fällt mir ein: Ich sollte zu Weihnachten Mistelzweige für den Penis verkaufen. Wetten, ich würde mich dumm und dämlich verdienen?«
»Du hast ein ernsthaftes Problem, Jenna. Ich glaube, du bist von dem edlen Teil deines Typen völlig besessen.«
Jenna lacht, ehe ihre Wangen einen ziemlich roten Farbton annehmen. »Nicht so besessen wie er von meinen Mädchenteilen. Der Mann ist ein oraler Meister.«
Harper und ich stöhnen. Ich bin zu verlegen, um zu gestehen, dass ich die orale Variante bisher weder empfangen noch gegeben habe. Die Unterhaltung ist zugegebenermaßen eine Nummer zu groß für mich.
»Vielleicht könnte er Jonathan mal was beibringen«, murmelt Harper leise.
Wenigstens bin ich heute Abend nicht die Einzige mit Problemen.
Freitag, nach dem Klettern – wobei ich mich nicht zu Tode stürze, es besteht also durchaus Hoffnung, dass meine Pechsträhne beendet sein könnte – holen Gavin und ich uns etwas aus dem Thai-Imbiss und gehen wieder zum Lernen in sein Zimmer im Wohnheim. Wir unterhalten uns über sein Journalismus-Seminar, doch eigentlich kann ich nur daran denken, wie ihm beim Klettern immer wieder das T-Shirt hochgerutscht ist und wie mir dieser Waschbrettbauch präsentiert wurde, so sexy wie die Hölle. Und dieser kleine Schatzsucherpfad Richtung Süden …
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragt er, als wir in seinem Zimmer angekommen sind.
»Tut mir leid! Ich bin in Gedanken immer noch bei dieser grässlichen Note, die ich im Schreibkurs gekriegt habe.« Lügen, nichts als Lügen, dabei habe ich mir zwar in den vergangenen vierundzwanzig Stunden viel über diese bescheuerte Hausaufgabe den Kopf zerbrochen, nur jetzt gerade nicht. Ganz durchgeknallt bin ich also doch noch nicht.
»Darf ich deinen Text mal lesen?« Er hält mir die Tür auf. Mist! Ich lasse nie jemanden meine Entwürfe lesen, es sei denn, es geht überhaupt nicht anders. Wenn Professoren mit Repressalien drohen, zum Beispiel, oder meine Mitbewohnerinnen übermäßig neugierig werden. Gavin reckt das Kinn. »Komm schon, ich schreibe selbst. Vielleicht kann ich dir helfen.«
»Ich weiß nicht.« Ich ziehe skeptisch eine Augenbraue hoch. »Du gehörst noch nicht zum Kreis der Menschen, denen ich traue.«
Gavin fasst sich dramatisch an die Brust. »Autsch, das schmerzt. Obwohl wir schon zusammen geschlafen haben? Clementine, du verletzt meine Gefühle.«
»Halt die Klappe!« Ich boxe ihn in die Schulter.
Woraufhin er den Kopf hängen lässt und mich von unten her mit traurigem Hundeblick mustert. Diese dunklen Wimpern! Ach, fahr doch zur Hölle. Wer kann so einem Gesicht widerstehen? Ich tippe seufzend auf das Grübchen an seinem Kinn.
»Schon gut, hier hast du den Text.« Ehe ich es mir anders überlegen kann, greife ich in meine Tasche und werfe ihm die Seiten hin. »Aber lach mich bloß nicht aus, ich warne dich! Ich habe dir gesagt, dass ich solches Zeug sonst nie schreibe.«
Ich hole Pappteller und verteile das mitgebrachte Essen, während er sich an den Schreibtisch setzt und anfängt zu lesen. Dann reiche ich ihm einen der Teller und hocke mich ihm gegenüber auf das Bett.
Die Erdachse verrutscht und richtet sich wieder auf, während ich zusehe, wie er sich schweigend meinen Entwurf durchliest. Ich weiß nicht, warum es mich so nervös macht, wenn andere meine Arbeiten lesen. Ein wenig übel wird mir auch dabei. Okay – ziemlich übel sogar.
»Das ist doch nicht schlecht«, sagt er, als er fertig ist. »Darf ich einen Vorschlag machen?«
»Ich überlege ernsthaft, den Kurs zu schmeißen, also leg ruhig los.«
»Okay. Hier geht es um die Beziehung eines RA zu einem der Mädchen auf seinem Stockwerk, richtig? Dann kann die Knutschszene aber auf keinen Fall im Gemeinschaftsraum stattfinden, das wäre zu öffentlich. Du musst sie irgendwohin verlagern, wo die beiden besser vor neugierigen Blicken geschützt sind.«
Meine Brauen zucken hoch. »Du knutschst wohl viel mit den Mädels von deinem Stockwerk?«
Er lacht. »Nein, aber du hast doch selbst im Warren gewohnt. Im Gemeinschaftsraum laufen rund um die Uhr Kids rein und raus. Kein RA, der seinen Job behalten möchte, knutscht rum, wo so viele Leute es mitkriegen.«
»Ich war nur ein Semester im Warren, habe allerdings nicht oft im Gemeinschaftsraum rumgehangen. Ich erinnere mich überhaupt nur an ihn, weil ich dort die Idee hatte, aus ein paar dämlichen Tagebucheinträgen einen Roman zu machen. Da war ich gerade durch die Hölle gegangen und wollte diese Erfahrung unbedingt in etwas Konstruktives verwandeln.«
Gavin fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Dann sind deine Sachen autobiografisch?«
Ich zucke die Achseln. »Im weitesten Sinne, ja. Ich ändere die Namen der handelnden Personen und die Orte, an denen sich alles abspielt, aber inspiriert werde ich von dem, was ich durchgemacht habe.«
Er legt den Kopf schief und schaltet sein strahlendes Lächeln an.
»Und du lässt mich echt nie diesen mysteriösen Roman lesen?« Er setzt sogar noch diese unglaublichen Wimpern ein, doch selbst ihr Klimpern, dieser nukleare Level an Sexyness, kommt nicht gegen die Übelkeit an, die mich überfällt, sobald ich mir vorstelle, dass Gavin mein Buch liest. Gavin soll lesen, wie Daren mich betrogen hat? Mit meiner besten Freundin? Mein Magen schlägt Purzelbäume.
»Ich glaube, nein.« Ich tue, als würde sein so offensichtlich gezielt eingesetzter Charme mich in keiner Weise beeindrucken.
Seine Augen werden kurz schmaler. »Das werden wir ja noch sehen!«, flüstert er.
Als er dann grinst, höre ich förmlich die Räder in seinem Hirn bei der Arbeit. Er liebt die Herausforderung.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und wahre so gut es geht meine ungerührte Miene. So starren wir einander an. Es bleibt beim Unentschieden, bis bei Gavin erneut das verschmitzte Grinsen auftaucht.
»Sehen wir mal, ob wir nicht was Intimeres für deine Szene finden.«
Er holt einen Korb voll zusammengelegter Handtücher aus dem Schrank, nimmt meine Hand und zieht mich in den Flur. Lachend lasse ich mich von ihm durch die Gegend schleppen, obwohl er sich ein bisschen verrückt aufführt. So gehen wir zwei Stockwerke tiefer und einen weiteren Flur entlang.
Wir landen in einer dunklen Waschküche. Gavin knipst das Licht an.
Der kleine Raum wird an beiden Seiten von Waschmaschinen und Trocknern gesäumt. Gavin öffnet eine Maschine und leert den Inhalt des mitgebrachten Korbs hinein.
»Gavin! Warum wäschst du saubere Wäsche?« Bis jetzt konnte ich mich zurückhalten, nun muss ich doch lachen.
Schweigend wirft er ein paar Münzen ein und startet den Waschgang, ehe er sich grinsend zu mir umdreht.
»Ich helfe dir, in deine Schreibzone zu gelangen. Komm her!« Er legt mir die Hände auf die Taille, hebt mich hoch und setzt mich auf eine der Waschmaschinen. Völlig überrascht stoße ich einen leisen Schrei aus. Hat er mich wirklich gerade einfach so hochgehoben? Okay, der Gedanke war jetzt blöd, immerhin hat mich der Mann vor zwei Wochen ein ganzes Stück weit nach Hause getragen.
Gavin hält mich weiter fest, während er sich vorbeugt, um mir in die Augen zu sehen. Ich versuche, mit dem Oberkörper Abstand zu gewinnen, spüre aber trotzdem seinen Atem auf meinem Gesicht. Er riecht nach Pfefferminze.
»Clementine, ich möchte eine Warnung vorausschicken.« Seine Stimme ist tief und rau. »Ich werde dich gleich küssen, und es wird dir gefallen. Sehr sogar. Aber eins muss klar sein: Ich werde nicht mit dir schlafen. Ich möchte nämlich, dass du mich morgen früh noch respektieren kannst.« Seine Lippen verziehen sich zu einem trockenen Lächeln. »Es handelt sich hier um ein Geschenk unter Freunden, okay?«
Moment – meint er das jetzt ernst?
Er muss meine Befürchtungen gespürt haben, denn er streicht mir sanft mit dem Daumen über die Wange. »Es ist nur eine Übung, damit du in deine Geschichte reinkommst, das verspreche ich dir.«
Ich lache, verlegen, fasziniert und ehrlich gesagt auch ziemlich angetörnt von der Idee. Als er diesmal lächelt, ist es kein trockenes Lächeln mehr. Seine Augen werden dunkler, während seine Hände über meine Hüften gleiten. Mir stockt der Atem in der Kehle.
»Gavin, ich glaube nicht, dass …«
Er legt mir einen Finger auf die Lippen.
»Es geschieht im Namen der Wissenschaft. Du brauchst Inspiration? Sie steht direkt vor dir. Jetzt halt den Mund und lass dich küssen.«
Heilige. Scheiße.
Er legt mir die Hand ins Kreuz und zieht mich vor bis zur Kante der Waschmaschine, bis er zwischen meinen Beinen steht, meine Schenkel zu beiden Seiten seiner Hüften. Die andere Hand legt er mir in den Nacken. Eine Sekunde lang scheint mir die Seele aus dem Körper zu weichen, denn seine Berührung hinterlässt eine Flammenspur. Mein Mund ist trocken, ich höre nichts mehr außer dem wilden Hämmern meines Herzens. Ehe ich das alles zu sehr analysieren kann, ist er so nah, dass ich kaum noch Luft kriege.
»Und übrigens«, flüstert er, als unsere Nasen sich berühren, »solltest du nicht vergessen, dass ich bereits mit jemandem gehe, also gewöhne dich nicht zu sehr an mich.«
Und mit dieser Erwähnung seiner Fake-Freundin legt er seine Lippen auf meine, ehe ich ihm versichern kann, dass er ja wohl eine Meise hat.
Gavins Lippen sind weich, aber fest und mein Körper reagiert auf ihre Berührung. Meine Arme fahren ganz automatisch nach oben, um sich um seinen Hals zu legen, mein Mund geht auf, ich keuche leise, weil er mir so unglaublich nah ist. Er nutzt die Gelegenheit und fährt sanft mit der Zunge über meine Lippen. Als er sich dichter an mich presst, schlinge ich ihm die Schenkel um die Hüften.
Er greift mit der einen Hand in meine Haare, zieht meinen Kopf zurück, um noch tiefer in mich eintauchen zu können. Seine Zunge streift meine, und, oh Gott, Gavin kann vielleicht küssen. Ich bin auf allen möglichen Ebenen angetörnt, mein Körper ein einziges Pochen, ein Strahl aus explodierendem Licht.
So knutschen wir rum, wechseln zwischen diesen süßen, herzzerreißend langsamen Küssen und harten, fordernden, bei denen ich mich fühle, als könnte ich nicht nah genug an ihn herankommen.
Ich nutze die Gelegenheit, seine Brust zu streicheln, lasse meine Finger zu den Brustmuskeln und dem harten Bauch wandern. Ich wusste ja, wie er gebaut ist, hatte beim gemeinsamen Training schon ziemlich viel von seinem Körper mitbekommen, aber ihn zu berühren lässt mich schwindlig werden.
Das bin nicht ich, ich verliere mich nie so in einem Moment. Nur scheine ich gar nichts dagegen tun zu können. Mehr noch – ich will gar nicht aufhören.
Irgendwann ist der Waschgang beendet, und die Maschine unter mir kommt zur Ruhe. Gavin zieht sich zurück. Ich bin völlig außer Atem.
Gavin sieht mir in die Augen, und ich versuche, nicht zurückzuschrecken. Als er mich sanft auf die Stirn küsst, schmelze ich schon wieder dahin.
Er räuspert sich.
»Weil man sich als RA ja ungern beim Rumknutschen mit Mädchen aus dem eigenen Stockwerk erwischen lässt, werde ich mich jetzt wieder in mein Zimmer zurückziehen. Du solltest erst nachkommen, wenn die Wäsche fertig ist, damit es nicht verdächtig aussieht. Dann wollen wir doch mal sehen, ob du deine Hausaufgabe nicht geschrieben kriegst.«
Er weicht zurück, und gleich darauf fühle ich mich wie unter einem Mikroskop, als diese grünen Augen mich noch ein letztes Mal von oben bis unten mustern. Leise lachend beugt er sich vor. »Du küsst übrigens verdammt gut, Clementine«, flüstert er noch, ehe er mir zuzwinkert und geht.
Oh. Mein. Gott.
Nachdem ich die Handtücher in den Trockner geworfen und wieder rausgeholt habe, kann ich mich nicht dazu überwinden, nach oben zu gehen. Was zum Teufel soll ich zu Gavin sagen? Soll ich überhaupt zurückgehen? Verdammt, ja!, jubelt meine kleine innere Stimme. Aber ich habe noch nie einen »Freund« so geküsst. Ich glaube, ich habe noch nicht einmal Daren so geküsst. Und obwohl Daren und ich den größten Teil unseres Abschlussjahres an der Highschool zusammen waren, hat mein Körper in seiner Nähe nie so pulsiert, dass es fast schon wehtat.
Langsam ist mir vor lauter Nervosität ganz schlecht, trotzdem kehre ich in Gavins Zimmer zurück. Er hat sich inzwischen an seinen Artikel gesetzt und scheint ganz darin vertieft.
»Handtücher, getrocknet und zusammengefaltet!«, melde ich munter. Dann stelle ich den Korb zurück in den Schrank und gehe zum Bett, um meine Tasche zu holen. »Ich muss leider los.«
Er dreht sich zu mir um, die Lippen schmal. »Wieso? Ich dachte, du willst schreiben?« Er steht auf, kommt zu mir und packt mich bei den Schultern. »Bin ich dir irgendwie zu nahe getreten? Ich –«
»Nein, nein, bist du nicht.« Mehr bringe ich nicht heraus, dabei steht mein Mund offen. Die Worte wollen einfach nicht kommen. Bisher habe ich nie verstanden, was das bedeutet: jemanden küssen, bis er den Verstand verliert. Bisher …
Er lacht leise. »Clementine?«
»Ja.«
»Ich wollte wirklich nicht, dass du sprachlos wirst. Hier, setz dich, Darlin’. Iss was. Da lasse ich dich die Wäsche machen, und du hast noch nicht einmal etwas gegessen.« Er manövriert mich wieder auf das Bett. Ich setze mich gehorsam, weil es nämlich gut möglich ist, dass ich gerade einen Schlaganfall hatte.
Er reicht mir lächelnd einen vollen Teller, ehe er zu seiner Arbeit zurückkehrt, als hätte seine Zunge nicht erst vor einer Stunde in meinem Mund Tango getanzt.
Nach ein paar Bissen geht es mir besser. Ich entspanne mich langsam und schaffe es, meinen Laptop aus der Tasche zu ziehen. Obwohl ich noch immer den heutigen Abend verarbeite und hierbei besonders mein unerwartetes Verlangen danach, Gavin befummeln zu dürfen, fangen die Worte an zu fließen, und ich kann mir ein paar Ideen notieren.
Danach lese ich mir meinen ersten Entwurf noch einmal durch und kann es nicht fassen, dass ich diesen Mist wirklich abgegeben habe. Also ziehe ich die Schuhe aus, öffne ein neues Dokument und arbeite wie wild ungefähr eine Stunde lang, ehe ich den Laptop schließe und mich mit meiner Kladde aufs Bett zurücksinken lasse.
»Wie läuft es?« Gavin kommt herüber und setzt sich neben mich, also rücke ich beiseite und drehe mich so, dass ich ihn ansehen kann.
»Besser. Glaube ich jedenfalls. Das weiß ich erst morgen, wenn ich mir durchlese, was ich heute geschrieben habe. Mit dem Gemeinschaftsraum hattest du übrigens völlig recht. Was macht dein Artikel?«
Sein Lächeln verblasst. »Geht so. Ich möchte bloß mal ein paar Minuten über etwas anderes nachdenken als über eine verschwundene Studentin.«
»Ist die Polizei mit den Ermittlungen schon weitergekommen?«
Er massiert sich den Nasenrücken. »Soweit ich das beurteilen kann, nicht. Und in den Medien wird die Sache langsam zum Schnee von gestern, was sich schrecklich anhört, aber so läuft es dort nun mal. Deswegen versuche ich, neue Ansätze zu finden, damit Olivias Geschichte in den Schlagzeilen bleibt.« Seufzend reibt er sich mit beiden Händen das Gesicht. »Möchtest du eine Pause machen? Wir könnten uns einen Film ansehen.«
»Klar.«
»Hier.« Er reicht mir seinen Laptop. »Such dir was aus.«
Ich setze mich auf und scrolle durch die Filmliste auf Netflix. »Nee, die Verantwortung ist zu groß! Hilf mir.«
Er holt ein paar Kissen aus seinem Schrank und arrangiert sie hinter uns, ehe er sich neben mich setzt, sodass wir Bein an Bein, Schulter an Schulter sitzen.
»Magst du Horror?« Er klickt sich durch eine Liste Gruselfilme.
Ich schüttele den Kopf. »Ich laufe oft abends, da kann ich keine Horrorgedanken gebrauchen. Und obwohl ich drei Mitbewohnerinnen habe, bin ich ziemlich oft allein zu Hause, also keine Gruselfilme.«
»Feigling! Wie wäre es mit einem John-Hughes-Film?«
Ich bin nicht in der Stimmung für eine Weiberschnulze. Früher habe ich die geliebt, aber jetzt nicht mehr. »Ich bin kein großer Fan von romantischen Komödien.«
»Sagt das Mädel, das einen Romance-Schreibkurs belegt hat.« Er sieht mich an, als sei ich eine bislang unbekannte Spezies. »Ich dachte, alle Mädchen lieben Schnulzen.«
Als ich den Kopf schüttele, ruft er noch ein paar weitere Titel auf. Wir einigen uns auf »Der Frühstücksclub«, was nicht ganz so turteltaubenmäßig ist. Nach fünfzehn Minuten muss ich die ersten Anmerkungen loswerden.
»Darf ich ehrlich sein?«, frage ich. »Ich dachte immer, Emilio Estevez wäre in diesem Film der gutmütige Trottel, der sich leicht ausnutzen lässt.«
»Das sehe ich auch so.«
»Darf ich außerdem noch anmerken, dass die Sache mit Molly Ringwald und dem kleinen Lippenstifttrick mir ganz okay vorkam, als ich den Film vor ein paar Jahren zum ersten Mal sah? Inzwischen finde ich es enttäuschend, dass sie nichts weiter draufhat, als sich das Make-up mit den Titten aufzutragen. Das ist eine Beleidigung für Frauen.«
»Kannst du dir den Lippenstift mit den Titten auftragen?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Ich schiele runter zu meiner Brust und nehme die Schultern zurück, damit meine Mädels besser zur Geltung kommen. »Hab es noch nie versucht.«
Als ich wieder aufsehe, starrt Gavin gerade auf meinen Vorbau, und ich stoße ihm meinen Ellbogen in die Rippen. Er kichert belustigt. »Vielleicht sollte man dieses spezielle Talent erst einmal näher untersuchen, ehe man es kritisiert.«
Ich tue so, als wäre ich sehr besorgt. »Aber wenn sich herausstellt, dass es mir fehlt? Die Enttäuschung verkrafte ich nicht.«
»Meiner Meinung nach hast du alle möglichen Talente, die du erst noch entdecken musst.«
Meine Wangen werden ganz heiß bei dem Gedanken daran, was er damit wohl meint, und er lacht.
Danach machen wir es uns wieder mit dem Film gemütlich, nach ungefähr der Hälfte jedoch kann ich die Augen nicht mehr offen halten. Ich bin um sechs Uhr aufgestanden, um zu laufen, weil ich wegen meiner blöden Hausaufgabe solche Panik hatte. Seitdem bin ich wach, und inzwischen ist es fast Mitternacht.
»Gav, ich schlaf hier gleich ein. Ich sollte wohl nach Hause gehen.«
»Rutsch rüber.« Er hebt meine Beine hoch, damit ich mich auf seinem Bett ausstrecken kann. »Halt ein kurzes Schläfchen, ich muss noch ein bisschen schreiben.«
Ich streite mich nicht mit ihm, denn sein Plan ist brillant. Also rolle ich mich auf seinem Bett zusammen, und er wirft mir eine Decke über.
Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich geschlafen habe, als ich höre, wie das Licht ausgeht. Aber ich bin so müde, dass es mir kaum etwas ausmacht, als Gavin mich beiseiteschiebt und mir den Arm um die Taille legt.
»Clem, du riechst wirklich gut«, flüstert er mir ins Ohr.
Meine Lider sind schwer, und ich frage mich langsam, ob ich träume. »Du küsst wie ein Rockstar.«
Leise lachend zieht er mich fester an sich.
Am Morgen geht mir meine Unterhaltung mit Jenna durch den Kopf, und mir fällt das Wort »erigiert« ein. Danach kann ich nur noch an den Befehl meiner Professorin denken, mir witzige Euphemismen für bestimmte Körperteile einfallen zu lassen. Morgenlatte. Knochen. Steifer. Ständer.
Ich kann nirgendwohin. An diesem Morgen liegt Gavin auf mir, warm wie ein Heizkörper, und seine männlichen Teile versuchen, mir ein Loch in den Schenkel zu bohren. Ich will mich vorsichtig aus seiner Umarmung winden, doch dabei gehen natürlich sofort seine Augen auf.
»Guten Morgen, Clementine.« Diese heiser-kehlige Stimme ist wirklich unglaublich sexy.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.«
Meine Augen gewöhnen sich langsam an das schwache Licht. Ich räuspere mich. Wie soll ich die Frage, die mir auf der Zunge brennt, am besten formulieren? »Gavin? Gestern Abend, da hast du mir doch nur geholfen, oder? Als Freund.«
»Als Freund.« Er liegt da, sozusagen um mich gewickelt, drückt sich hart gegen meinen Schenkel, wärmt meinen Rücken. Nichts an diesem Morgen kommt mir platonisch vor.
»Darf ich fragen, ob du viele Freunde hast, denen du auf diese Weise hilfst?«
Als er leise lacht, spüre ich, wie seine Brust vibriert. Er küsst meinen Nacken. »Nein, Darlin’, für viele Freunde habe ich gar keine Zeit. Und vergiss meine feste Freundin nicht, ich darf mich wirklich nicht verzetteln.«
Ich verdrehe die Augen.
»Musst du zur Arbeit?«, erkundigt er sich gähnend.
»Ja, aber erst nach Hause und duschen. Wenn ich da schon wieder in den Klamotten vom Vortag auftauche, wird irgendjemand daraus schließen, dass ich mit dir geschlafen habe.«
Er kichert vergnügt. »Geh, sonst vernaschst du mich am Ende noch. Ich möchte mir nicht billig vorkommen.«
Lachend stoße ich ihn in die Rippen. »Du bist echt unmöglich!«
»Ich weiß, aber wenn du das das nächste Mal sagst, häng doch bitte meinen Namen dran. ›Gavin, du bist echt unmöglich!‹ Und dabei stöhnst du ein bisschen, ja? Das wäre scharf.«
»Wer bist du?«
Dieser Typ macht mit meinem Kopf rum, und am schlimmsten ist: Ich glaube, es gefällt mir.