3

Ich habe immer noch keine Idee für mein Buch und keinen Young-Adult-Schreibkurs und warte auf die nächste Horrornachricht, weil beschissene Dinge erwiesenermaßen immer im Dreierpack auftreten.

Nachdem ich Professor Golding angefleht hatte, mich doch bitte, bitte noch in ihren Kurs aufzunehmen und sie mir daraufhin kommentarlos ihre zwei Seiten lange Warteliste überreichte, habe ich meinen Stolz heruntergeschluckt und mich bei Professor Marceaux für meine spektakuläre Flucht aus ihrem Seminar entschuldigt. Ich machte einen Notfall geltend und verschwieg, wohlweislich, dass ich bei der Erwähnung des Wortes Klitoris fast in Ohnmacht gefallen wäre.

Weswegen ich jetzt ununterbrochen über Euphemismen nachdenke, durch die sich das Wort ersetzen lässt. Stümmelchen, Bohne, Knospe, Köpfchen.

Meine Güte!

Zu »Stümmelchen« schießt mir dann auch gleich noch völlig ungebeten ein ganzer Satz durch den Kopf: Er langt zwischen ihre zarten Schenkel und streichelt ihr pochendes Stümmelchen.

Verdammt! Sollte so was je in einem Buch von mir auftauchen, erschießt mich bitte.

Da ich nun notgedrungen meine Teilnahme an einem verflixten Romance-Schreibkurs akzeptiert habe, ist ein Abstecher in den Buchladen fällig. Ich schleiche mich vorsichtig rein, vielleicht kann ich meine Sachen ja besorgen und verschwinden, ehe mich jemand sieht und Arbeit für mich hat. Beim Tresen angekommen, entdecke ich aus den Augenwinkeln »ihn«. Den Scheißkerl aus der Hölle.

In meiner Brust schlägt eine Trommel, das Echo hallt durch meinen ganzen Körper. Ich kriege kaum noch Luft und tue das Erste, was mir in den Sinn kommt: Ich tauche unter den Tresen.

Gott sei Dank scheint er mich nicht gesehen zu haben. Verschwinde. Bitte! Hau ab.

Als das für die Kasse zuständige Mädchen aus der Pause zurückkommt, bin ich immer noch auf Tauchstation. Ihre Schuhe hüpfen mir etwa zwei Sekunden lang vor der Nase herum, ehe sie sich herunterbeugt und ein Blick aus großen, braunen Augen verwundert mein Gesicht trifft. Eine Augenbraue zuckt hoch: Wieso hockt ihre Vorgesetzte unter dem Kassentisch? Auf der anderen Seite des Tresens ertönt jetzt deutlich die Stimme von Jason Wheeler, bei dem ich im ersten Semester einen Schreibkurs belegt hatte.

»Becca?« flüstere ich. »Ein Ton, und ich beiß dich in den Oberschenkel, bis der Knochen bricht.«

Ihre Augen blicken einen Moment lang starr, eine zweite Braue zuckt hoch, bis sie sich auf gleicher Höhe mit der ersten befindet, aber dann rückt Rebecca ein Stückchen zurück, richtet sich auf, und ich habe wieder nur ihre Schuhe vor der Nase.

»Hi, Mr Wheeler«, zwitschert es oben. »War es das heute?« Mein Gott, ist die Frau munter.

»Ja, danke, Liebes.« Als ich die Stimme höre, so samtig und weich und voller Scheiße, würde ich am liebsten kotzen. Oder ihn in die Eier treten. Oder ihn in die Eier treten und danach kotzen.

Die Kasse fiept. Becca scannt Wheelers Einkäufe ein.

»Kennen wir uns von irgendwoher, meine Liebe?«, will der Dozent wissen. Und schon geht es los!

Becca kichert verlegen. »Ich hatte Sie vor zwei Jahren in Britischer Literatur. Dass Sie sich jetzt noch an mich erinnern!«

»Sie sind viel zu entzückend, um in Vergessenheit zu geraten.« Kotz, würg. »Studieren Sie Englisch im Hauptfach?« Becca muss wohl genickt haben, denn als Nächstes findet Wheeler das: »Wunderbar.«

»Wie war Ihr Sommer?« Ich sehe Becca von einem Bein auf das andere treten.

»Wundervoll«, antwortet Wheeler. »Ich habe ihn in London verbracht, bin vor zwei Tagen erst zurückgekommen.«

Becca lacht auf diese gutmütige Art, die Leute draufhaben, wenn es eigentlich gar nichts zu lachen gibt.

Was Wheeler daraufhin murmelt, kann ich nicht verstehen. Dann sagt er: »Melden Sie sich ruhig bei mir, wenn Sie mal Unterstützung brauchen. Ich helfe Ihnen wirklich gern.«

Elender Schleimscheißer.

Obwohl ich wusste, dass Wheeler in diesem Herbst wieder hier unterrichten würde, hat mich nichts auf ein direktes Wiedersehen mit ihm vorbereitet. Ich ertappe mich dabei, wie ich manisch mein Handgelenk reibe, schließe die Augen und atme ein paarmal tief durch. Das mache ich immer, wenn ich wieder zu mir kommen will. Als ich die Augen aufschlage, kauert Becca vor mir.

»Er ist weg, du kannst rauskommen. Ich versteh bloß echt nicht, warum du ihm aus dem Weg gehen willst. Er ist doch toll! Ich war im ersten Studienjahr total verschossen in ihn.«

»Tut mir leid, meine Drohung vorhin.« Natürlich hatte ich nicht ernsthaft vorgehabt, ihr die Zähne in den Schenkel zu schlagen. »Zwischen Wheeler und mir ist eine schlimme Geschichte gelaufen.«

Sie schürzt mitleidig die Lippen. »Hat er dich schlecht benotet?«

»So etwas in der Art.« Nein, überhaupt nichts in der Art. Langsam erwache ich aus der Erstarrung und schüttele den Kopf. »Becca?«

Sie hatte sich wieder aufgerichtet, bückt sich jetzt aber noch mal, um mich ansehen zu können.

»Es ging nicht um eine schlechte Note.« Ich schlucke gegen den Kloß in meinem Hals an. »Der Typ ist übel. Gefährlich.« Ich möchte noch mehr sagen, möchte ihr dringend nahelegen, Wheeler bloß nicht zu nahe zu kommen, aber die Worte schaffen es einfach nicht aus meinem Mund heraus.

Sie starrt mich an, als würde ich Chinesisch sprechen. In diesem Moment treten ein paar Mädchen an den Kassentisch und durchbrechen mit ihrem Geplauder das zwischen uns entstandene ungemütliche Schweigen.

Becca lugt rasch hoch zu den Kundinnen, ehe sie noch einmal mich anschaut. »Ich weiß zwar nicht, was ich mit dieser Info anfangen soll, aber okay.«

Ehe ich mein idiotisches Benehmen erklären kann, fragt eins der Mädchen vorm Tresen nach einer Hülle für die TV-Fernbedienung, woraufhin Becca losrennt, um ihr das Gewünschte zu holen.

Ich weiß nicht, wie lange ich unter dem Tresen hocke und versuche, meinen Atem und die zitternden Hände in den Griff zu bekommen. Schließlich reißt mich das Summen einer eingehenden SMS aus der Panik. Vergiss die Frischhaltefolie nicht.

Jenna erinnert mich an die eine Aufgabe, die ich an diesem total beschissenen Tag noch erledigen muss und die zweifelsohne dessen Krönung darstellen wird.

Ich warte noch geschlagene zehn Minuten, um ganz sicher sein zu können, dass sich Wheeler wirklich verpisst hat, ehe ich losziehe. Inzwischen pocht es in meinem Schädel bei jedem Schritt, und ein Abstecher ins Sportzentrum wäre jetzt gut, um Spannung abzubauen, aber ich muss ja das Aquarium nachfüllen.

Nein, nicht das mit Wasserlebewesen.

»Mein Arzt hat vorhin hier angerufen, es geht um die Salbe gegen Zahnfleischentzündung«, sagt ein älterer Herr zum Apotheker bei CVS, während ich brav in der Schlange warte, bis ich an der Reihe bin.

Wie schlimm kann so ein Kondomeinkauf schon werden? Kondome gehören zum Grundbedarf der Menschen wie Milch und Brot. Gut – dann ist so ein Kondom eben ein Gummiüberzug für den kleinen Mann des Mannes, warum sollte mir das peinlich sein?

Jenna hat heute Morgen bemerkt, dass das Aquarium, in dem wir unsere Kondome aufbewahren, komplett leer ist. Und weil sie deswegen fast einen Herzinfarkt bekommen hätte und weil sie heute viel zu viel vorhat, um den Vorrat auffüllen zu können, habe ich versprochen, dies zu übernehmen. Schließlich ist Freitag, und ich kann die Penisfrage auf keinen Fall eskalieren und meine Mitbewohnerinnen in der Luft hängen lassen. Kein Pimmel ohne Kappe, solange ich das Sagen habe!

Ich hole tief Luft, ignoriere den Schweiß, der sich unter meinen Armen sammelt.

Himmel, ist das warm hier.

Gummis kaufen wäre an sich schon schlimm genug, aber ich muss zu allem Übel auch noch nach der Jumbo-Version fragen, die man nur am Tresen kriegt. Mit Jumbo ist keine Großpackung gemeint, mit der man Geld sparen kann, Jumbo bezeichnet die Größe, die Ryan braucht. Jenna und ihr Freund treiben es wie sexhungrige junge Hunde, und da wir ihren Pornoschreien oft genug entnehmen konnten, wie gigantisch ihr Lover ist, muss ich hier öffentlich nach dem Goliath unter den Gummis verlangen. Peinlicher geht es wohl kaum noch, oder?

Vorn am Tresen, als ich endlich an der Reihe bin, richte ich mich auf und nehme die Schultern zurück. Ich bin ein modernes Mädchen, ich schaff das.

»Ich hätte gern die Jumbo Trojan Magnum Extra Large«, sage ich ganz ruhig, als wären die Worte meiner Zunge nicht unbekannt wie eine Fremdsprache.

Die Augenbrauen der Apothekerin gehen kaum merklich hoch, als sie kommentarlos nach der großen glänzenden Schachtel greift. Siehst du, ist doch gar nicht so schlimm, sage ich mir. Bis hinter mir der Pfiff ertönt.

»Süße, wo hast du denn mein Leben lang gesteckt?«

Eine Sekunde lang erstarre ich zur Salzsäule, ehe ich genervt die Augen verdrehe.

»Echt? Mit dem Spruch willst du bei mir ankommen?«, murmele ich und zücke mein Portemonnaie, ohne die beiden Jungs hinter mir mehr als eines flüchtigen Blickes zu würdigen.

»Komm schon, Süße, zeig mir doch nicht die kalte Schulter. Ich habe was übrig für Mädchen, die gern vorbereitet sind.« Das unheimliche Kichern in meinem Rücken lässt die Härchen auf meinen Armen senkrecht stehen. »Wenn du die Dinger prüfen willst, ich mach dir gern einen Qualitätstest. Ich hab ein Prachtexemplar, sagt man.«

Ich reiche Geld über den Tresen und drehe mich um. Der Typ ist groß und schwer, so auf die Bodybuilder-Tour. Ich reiße die Augen auf und rücke dichter an ihn heran, klimpere mit den Wimpern wie die Tusse, für die er mich eindeutig hält, beiße mir auf die Unterlippe und mustere ihn prüfend. Mein Blick bleibt einen Moment lang an den breiten Schultern hängen, ehe er tiefer wandert, »dorthin« nämlich. Dabei lasse ich ein nuttiges Kichern hören, gefolgt von einem kleinen Lächeln, als ich wieder oben bei seinem Gesicht angekommen bin.

»Das ist wirklich ein nettes Angebot«, lobe ich. »Wo du doch so gut ausgestattet bist.«

Er lächelt breit, als höre er das Kompliment nicht zum ersten Mal.

»Wahrscheinlich stemmst du jeden Tag Gewichte«, fahre ich fort. »Was bedeuten dürfte, dass du, sagen wir mal, irgendetwas kompensieren musst. Diese Babys«, hierbei schüttele ich stolz meine Schachtel voll geriffelter, mit Gleitmittel versehener Gummis, »dürften weit außerhalb deiner Liga sein.«

Erst als der Freund des Scheißkerls sich vor Lachen kaum mehr halten kann, fällt mir auf, dass ich diesen Kumpel von irgendwoher kenne. Er kommt mir jedenfalls bekannt vor. Allerdings hat er sich seine Baseballkappe ganz tief ins Gesicht gezogen, ich kann ihn mir also nicht richtig ansehen. Mist. Woher kenne ich den Typen?

Aber eigentlich ist mir das auch egal. Ich betrachte seufzend den Trottel, der mich anbaggern wollte und der jetzt ein bisschen blass um die Nase wirkt. Sein Grinsen ist jedenfalls weg. »Bitch!«, grummelt er leise, während ich mir die Tasche über die Schulter hänge und gehe.

Ich schüttele den Kopf. Jemand müsste dem Mann mal sagen, dass Bitch keine Beleidigung ist. Ich bin gern eine, wenn mir das Scheißer wie ihn vom Hals hält.

»Wenn du glaubst, das zieh ich an, dann bist du wohl jetzt schon high!« Ich drehe und wende mich vor dem Spiegel. Jennas hautenges, silbriges Kleid überlässt nichts, aber auch rein gar nichts der Fantasie. Hinten der weit ausgeschnittene Rücken, vorn der ebenso tiefe Ausschnitt – genauso gut könnte ich nackt gehen. »Auf keinen Fall!«

Selbst mit offenen Haaren und obwohl meine Haare lang und dicht sind, bleibt immer noch viel zu viel unverhüllt.

»Ach, komm schon!« Jenna ist voll im Schmollmodus, die haselnussbraunen Augen weit und flehend aufgerissen. Als ich Jenna zum ersten Mal sah, teilte sie mir mit, ich hätte Brokkoli zwischen den Schneidezähnen hängen. Ich habe die Frau von Anfang an gemocht. Freundinnen, die kein Blatt vor den Mund nehmen und auf die man sich von daher verlassen kann, sind rar. Trotzdem mag ich nicht glauben, dass dieser zart um meinen Leib drapierte Hauch Seide eine angemessene Bekleidung darstellt, wenn man sich in der Öffentlichkeit sehen lassen möchte.

Jenna boxt mich gegen die Schulter. »Du hast uns letzten Samstag voll hängen lassen. Dafür hab ich für dieses Wochenende einen Freibrief gekriegt, von dir persönlich. Einen Freibrief!«

»Willst du mich unbedingt wie eine Nutte ausstaffieren? Gehört das zu den Zielen in deinem Leben?« Meine Hände streichen über den dünnen Stoff, und mir wird ganz anders, als ich mir vorstelle, dass mich jemand in diesem Outfit zu Gesicht bekommen könnte.

»Falls du dich dann besser fühlst: Du siehst umwerfend aus«, kommentiert Harper, die gerade hereingekommen ist und sich auf mein Bett schmeißt. »Nur du könntest dieses Kleid tragen. Du hast eine traumhafte Figur. Und die Farbe lässt deine Augen eher grau als blau wirken.«

Jenna zeigt auf Harper. »Hörst du? Sie würde nie lügen. Bitte, bitte behalte es an. Du hast gesagt, du hättest nichts zum Anziehen. Zurückbringen kann ich es nicht, und an mir sieht es einfach nicht gut aus. Im Laden fand ich es wunderbar, aber zu Hause wurde mir klar, dass ich darin grün aussehe. Du dagegen wirkst irgendwie braun gebrannt. Ich hasse dich.«

Ich kann mir nicht helfen, ich muss lachen. Aber in einem Punkt hat sie recht, ich habe wirklich nichts anzuziehen.

»Ach, halt die Klappe!«, knurre ich und stemme die Ellbogen in die Hüfte. Jenna kichert, während ich den Kopf verrenke, um meine Rückansicht im Spiegel betrachten zu können. »Aber ehe ich mich so in der Öffentlichkeit zeige, will ich wissen, was wir vorhaben.«

»Wir essen bei Ryan, und Jax kommt auch.«

Jax ist meine andere Hälfte, wir sind drei Minuten nacheinander zur Welt gekommen. Hat Jenna es echt geschafft, meinen Zwillingsbruder von seiner Fußballmannschaft und der derzeit amtierenden Dame seines Herzens wegzulotsen? Beeindruckend. Jax und ich sind schon eine ganze Weile nicht mehr so eng befreundet wie früher, aber ich versuche immer noch, zu seinen Spielen zu gehen.

Jenna stößt mich mit der Hüfte an. »Dann gehen wir tanzen, und vielleicht habe ich auch noch die eine oder andere Aktivität geplant.« Sie hat die Hände zusammengelegt. Viel fehlt nicht, und sie klatscht vor Aufregung in die Hände.

»Mensch, Mädel, da hast du dir solche Mühe gemacht! Und ich feiere noch nicht mal gern Geburtstag. Das weißt du doch.«

Jenna reißt die Augen auf, bis sie ihr fast aus dem Kopf fallen. »Ihr werdet einundzwanzig, Jax und du! Das ist eine Riesensache, und die feiern wir anständig. Das ist deine Nacht, und du musst heiß aussehen.«

»Bist du sicher, dass sie mich in dem Outfit nicht gleich wegen Verdachts auf Prostitution verhaften?«, wende ich mich an Harper.

Die schüttelt lachend den Kopf.

»Okay, Dann wollen wir mal los.«

Ich bin überwältigt und gerührt, wie viel Essen Jenna aufgefahren hat und wie viele Leute sich bei Ryan im Haus drängen, eine etwas seltsame Mischung aus Arbeitskollegen von mir, Ryans Bandmitgliedern und diversen ihrer Groupies. Noch seltsamer wird es, als mein Bruder in Begleitung der Hälfte seiner Fußballmannschaft auftaucht, der Fußballmannschaft des Boston College. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mein Anti-Boston-College-T-Shirt angezogen, das mit der Aufschrift »Man lässt seine Freunde nicht aufs BC gehen«. An der Uni Boston nehmen die Kids diesen Scheiß sehr ernst.

»Hey, Streberin!« Jax schüttelt seine Begleiterin ab, um mich umarmen zu können.

»Hey, Loser!« Strahlend erwidere ich seine Umarmung. »Dich habe ich ja seit dem vierten Juli nicht mehr gesehen. Ich dachte schon, du hättest dich von einem deiner russischen Supermodels entführen lassen.«

»Schön wär’s. Nee, der Fußball hat mich auf Trab gehalten.«

Jax umarmt auch Jenna und Harper. Nachdem mein Zwilling und ich einander kurz auf Stand gebracht haben, drängt Jenna Jax und mich rüber zu einem Tisch voller Schnapsgläser.

»Wir müssen auf die Geburtstagszwillinge anstoßen!«, ruft sie in die Menge, woraufhin alle laut jubeln.

Was sind das bloß alles für Leute? Ich sehe mich um und entdecke Kade, Ryans Drummer, der sich gerade mit jemandem unterhält, der mir vage bekannt vorkommt. Der Typ ist groß und wirkt irgendwie verwegen in seinem dunklen, offenen Flanellhemd, das er über einem eng sitzenden T-Shirt trägt. Ein attraktiver Mann. Im Grunde genommen, wenn ich ehrlich sein soll, mehr als attraktiv. Eher umwerfend. Sobald ich mir das eingestanden habe, erwacht in mir ein heftiges Verlangen nach Wodka, um das überraschende Flattern meiner Magennerven zu betäuben.

Jenna lehnt sich grinsend an mich. »Du trinkst ja sonst nichts, aber heute solltest du dir ein, zwei von den Kurzen da hinter die Binde kippen, bevor wir mit meinem Spiel anfangen.«

Ich kann erst seit diesem Frühjahr überhaupt wieder trinken. Alkohol und Medikamente gegen Panikattacken passen einfach nicht zusammen. Jetzt bin ich pharmafrei, und wer weiß, was für entwürdigende Spielchen Jenna sich ausgedacht hat. Mit ein paar Kurzen lässt sich einer Menge Peinlichkeit die Schärfe nehmen, also greife ich nach einem Glas.

»Kopf in den Nacken!« Ich stoße mit meinem Bruder an und leere mein Glas auf ex.

»Haben sich Mom oder Dad bei dir gemeldet?«, will Jax wissen, während wir uns mit den Massen Richtung Wohnzimmer treiben lassen, wo Jenna verkünden will, welche Verrücktheiten sie für den heutigen Abend geplant hat.

»Nein.« Das tun sie doch nie. Ich glaube, mein Bruder fragt mich nur immer wieder, weil er auf eine andere Antwort hofft. »Haben sie dich denn angerufen?«

»Nein. Mit Mom habe ich vor ein, zwei Wochen gesprochen, sie murmelte was von einer Hundeshow. Vielleicht ist sie also gar nicht in der Stadt. Und Dad … na ja.«

Das ist lieb gemeint, die Ausrede, meine Mutter könnte auf Reisen sein. Dabei wissen wir beide, dass das wahrscheinlich nicht der Fall ist. Und unser Vater ist irgendwie wie ein amputiertes Glied, bei dem wir immer noch hoffen, es könnte wieder anwachsen. In Wahrheit sind beide, Mom und Dad, astreine, unverfälschte Arschlöcher. Sie interessieren sich wesentlich mehr für ihre Arbeit, preisgekrönte Hunde und Autoshows als für ihre Kinder.

»Ich brauche deinen Spielplan, ich will mir ein paar von den Spielen ansehen«, sage ich.

Früher, als wir noch Kinder und dann Jugendliche waren, ging ich als Einzige aus der Familie zu jedem Spiel, bei dem Jax aufgestellt war. Unsere Eltern haben es nie geschafft. Jax hat mit seinen Fußballkünsten alle möglichen Preise und Auszeichnungen sowie ein Vollstipendium für das Boston College gewonnen, aber unsere Eltern wissen wahrscheinlich noch nicht einmal, auf welcher Position er spielt.

»Ich maile ihn dir.« Jax räuspert sich und steckt die Hände in die Hosentaschen. »Daren erkundigt sich immer noch nach dir.«

Ich runzele die Stirn. »Lass gut sein, ja.« Jax wirft mir einen strengen Blick zu, woraufhin ich hörbar und genervt ausatme. »Wieso denken alle, ich wäre immer noch in ihn verliebt?«, frage ich leise. »Das ist Geschichte, Jax!«

»Wirklich? Du warst seitdem nie wieder mit jemandem zusammen.«

»Geht es noch ein bisschen lauter? Ich glaube, die da draußen im Garten kriegen nicht genug mit!« Wütend funkele ich meinen Bruder an und lasse den Wodka in meinem nächsten Glas kreisen. »Daren hat mit meiner besten Freundin geschlafen, weil ich ihn in Sachen Sex wohl zu lange habe warten lassen. Tut mir leid, aber seitdem habe ich in Bezug auf Vertrauen dann doch ein paar Probleme.«

Mein Bruder zuckt zusammen, aber ehe er antworten kann, unterbricht Jenna meine wüste Tirade mit der Ankündigung, sie habe für den Abend etwas ganz Besonderes geplant.

»Also – unser Geburtstagsmädel muss diese Kette aus Süßigkeiten tragen, und sie braucht eure Hilfe, Jungs, denn sie kriegt das ultimative Geschenk ihrer Wohngemeinschaft nur, wenn ihr all diese Süßigkeiten vernascht habt.« Jenna kichert verwegen, während mir langsam aufgeht, was da auf mich zukommt, und in mir das heftige Bedürfnis erwächst, meine Freundin mit den bloßen Händen zu erwürgen. Jax grinst mich an. »Unser Geburtstagsjunge«, wendet sich Jenna an ihn, »der, wie manche von euch wissen mögen, ein Star-Fußballer des BC ist, muss einundzwanzig Küsse einsammeln. Wenn ihr ihn küsst, Mädels, dann müsst ihr ihm hinterher eins dieser Herzchen ans Hemd heften, sonst zählt es nicht.«

Mein Bruder brennt darauf, gleich mit dem Spiel anzufangen. Er hat ein hübsches Mädchen entdeckt und macht sich vom Acker. Als ich mich umdrehe, schleicht gerade Kade auf mich zu, einen Raubtierblick in den Augen. Scheiße! Bestimmt fragt er gleich wieder, warum ich nicht mit ihm ausgehen mag. Wann rafft dieser Typ endlich, was Sache ist? Seinem Dad gehört der halbe Bundesstaat, und Kade hätte mich gern als weiteres Besitzstück.

»Clementine, du siehst heute atemberaubend aus!« Er fährt mir mit der Hand durch die Haare. »Total zum Vernaschen.«

Ich funkele ihn wütend an und schlage seine Hand weg.

»Spar dir die Mühe, Kade. Hatten wir diese Unterhaltung nicht schon mal?« Ich will gehen, aber er packt mich so hart am Arm, dass ich Angst vor blauen Flecken bekomme.

»Geh mit mir aus, Clementine. Ich bring deine Welt zum Rocken, das verspreche ich dir. Ich verzehr mich schon das ganze Jahr nach deinen ›Süßigkeiten‹.«

Wo hat er bloß gelernt, so zu reden? Werden Scheißkerle wie er irgendwo geklont?

»Tut mir leid, aber da gibt es ein Problem.« Ich richte mich kerzengerade auf, was nicht allzu viel bringt, weil ich gerade mal einen Meter fünfundsechzig groß bin und Kade mich immer um einiges überragen wird, egal, wie aufrecht ich stehe. Darum geht es auch nicht. Es geht darum, meinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich stehe nicht auf Arschlöcher. Falls dir mein entsprechendes Memo entgangen sein sollte, wiederhole ich das gern noch mal: Du bist eins.« Mit diesen Worten entreiße ich ihm meinen Arm und stöckele von dannen. Himmel! Nach dieser Begegnung müsste ich eigentlich duschen.

Auf dem Weg zum Tisch mit dem Alkohol treffe ich auf Mr Groß, Dunkel und Verwegen, der mit der Hand in der Hosentasche lässig an einer Wand lehnt.

»Ich kenne dich!«, sage ich, obwohl ich den Typen immer noch nicht richtig zuordnen kann.

»Stimmt.« Oh, und er hat eine sexy Stimme. Ein kleines Lächeln zupft an seinen Lippen, und ich muss den Blick gewaltsam von eben diesen Lippen losreißen.

»Und? Hilfst du meiner Erinnerung auf die Sprünge? Woher genau kennen wir uns?«

»Du erinnerst dich nicht mehr an mich? Darlin’, das bricht mir das Herz!«

Sein »Darlin’« schickt mir eisige Schauer die Arme hinunter. Das geht ja nun gar nicht. Achselzuckend wende ich mich dem nächsten Schnapsglas zu, denn die Kurzen sind inzwischen zu meinen besten Freunden geworden. Der Typ hat einen Hauch von Südstaatenakzent. Und wieso denke ich jetzt über seinen Akzent nach? Und über seinen Mund, mit diesen vollen Lippen? Zitternd frage ich mich, wohin nur meine stahlharte Entschlossenheit entschwunden ist, allen gut aussehenden Männern aus dem Weg zu gehen.

In diesem Moment schleicht sich von der Seite eine breit grinsende Jenna an.

»Clem, das ist Murphy, Ryans neuer Gitarrist. Murphy, das ist meine wunderbare Mitbewohnerin Clementine.«

Die kurze Vorstellung scheint ihr zu reichen. Vergnügt verschwindet sie wieder in der Masse und überlässt mich und meine Augen dem Anblick von Mr Heiß.

Nach wie vor tue ich so, als würde ich mich fragen, woher ich ihn kenne, die perfekte Ausrede, wenn man jemanden unverblümt angaffen will. In Wahrheit jedoch gaffe ich, weil ich von seinem guten Aussehen wie verzaubert bin. Dunkles, welliges Haar, perfekte, von der Sonne geküsste Haut, atemberaubende grüne Augen und breite Schultern. Wow. Wow. Wow. Ich ertappe mich dabei, wie ich mir die Lippen lecke.

»Nee«, ich schüttele den Kopf. »So heißt du nicht wirklich.«

»Gavin Murphy.« Er streckt mir die Hand hin. »Ich bin entzückt, endlich offiziell deine Bekanntschaft machen zu dürfen, Clementine.«

Während ich ihm die Hand schüttele, fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

»Du arbeitest als RA in den Warren Towers.«

Als er daraufhin grinst, tauchen auf seinen Wangen ein paar anbetungswürdige Grübchen auf, und ich muss mich mit Gewalt am weiteren Gaffen hindern. Vielleicht war es ja doch keine so schlechte Idee, heute Abend auszugehen. Leider macht er dann noch mal den Mund auf.

»Und du kaufst extragroße Kondome.«

»Was?« Ich entziehe ihm hastig die Hand, während mir alles Blut aus dem Gesicht weicht.

Als er lacht, fühle ich mich auf mindestens zehn verschiedene Arten gedemütigt. Ich brauche eine Sekunde, bis ich die Bemerkung mit den Kondomen eingeordnet habe.

»Du warst mit diesem Volltrottel in der Apotheke«, krächze ich.

Wieder lacht er. »Eigentlich stand ich nur in der Schlange. Ich habe keine Ahnung, wer dieser Volltrottel war, kann dir aber verraten, dass er jetzt wahrscheinlich eine Therapie machen muss. Weil er doch so mäßig bestückt ist.«

Ich weiß nicht, warum ich mich so verletzlich fühle. Vielleicht, weil heute mein Geburtstag ist, vielleicht, weil ich schon seit Jahren nicht mehr so viel Alkohol getrunken habe. Woran es auch liegen mag, das Fenster an Möglichkeiten, das sich gerade in Bezug auf diesen Gavin geöffnet hatte, fällt mit einem Schlag wieder zu. Ich starre ihn aus schmalen Augen an, ein verächtliches Lächeln auf den Lippen.

»Spar dir die Mühe, für dich wären sie wohl auch zu groß gewesen«, blaffe ich, kippe meinen Kurzen und gehe. Arschloch.

Zwanzig Minuten später, ich unterhalte mich gerade auf der hinteren Veranda mit meinem Bruder, sucht Harper nach mir und zieht mich beiseite. »Ich komme, um dich zu warnen. Ehe wir in den Klub dürfen, plant Jenna noch eine Karaoke-Einlage.«

»Okay.« Ich ziehe die beiden Silben in die Länge. »Jenna kann nicht singen, das dürfte also witzig werden.«

»Sie selbst will ja gar nicht singen, du sollst auf die Bühne.«

»Scheiße. Ich glaube, dazu bin ich noch nicht betrunken genug.«

Lachend sieht sich Harper im Garten um, in dem sich vereinzelte Partygäste miteinander unterhalten. »Du hast eine herrliche Stimme. Tu einfach so, als würdest du unter der Dusche stehen, und stell dir vor, alle anderen sind nackt. Bis auf deinen Bruder natürlich, das wäre eklig.«

Jax zieht die Brauen hoch.

Ich muss lachen. »Das ist wirklich eklig.«

»Es ist nichts Ekliges daran, wenn ich nackt bin!«, protestiert er.

Harper verdreht die Augen und beugt sich zu mir. »Tu so, als wüsstest du von nichts«, flüstert sie mir zu. »Jenna hat sich so viel Mühe gegeben, die Einzelheiten des Abends geheim zu halten. Ich wollte bloß nicht, dass du gleich aus den Latschen kippst.«

»Danke. Das dürfte dann wohl in die Geschichte eingehen.«

Jenna muss Hellseherin sein, denn genau in diesem Moment kommt sie aus dem Haus, sieht sich um und steuert Harper und mich in direkter Linie an, grinsend wie eine Katze, die sich gerade an der Sahne bedient hat.

»Geburtstagskind! Ich hätte da noch eine letzte Kleinigkeit im Ärmel.« Sie schiebt ihren Arm unter meinen und schleppt mich zurück ins Wohnzimmer.

Dort nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, wie sich Gavin mit seinen Freunden unterhält. An ihm lehnt eine große Rothaarige, die gerade herausfordernd lacht. Dann flüstert sie ihm etwas ins Ohr. Dabei legt sie ihm beide Hände auf die Brust, woraufhin sich in meiner eigenen Brust etwas Heißes rührt.

Gavin wirkt so entspannt und selbstbewusst, ich wette, er ist einer dieser Jungs, die schon alles geplant haben: Karriere, die passende Frau, das zweistöckige Haus im Cape-Cod-Stil mit jeder Menge Erkerfenstern und den Golden Retriever. Wahrscheinlich läuft es bei der Ehefrau auf das Mädel hinaus, das da an ihm lehnt, ganz Beine und Rundungen. Sie flirtet auf jeden Fall, was das Zeug hält.

Und als er vorhin versucht hat, mit mir zu reden, musste ich natürlich mal wieder ganz lieb und freundlich sein! Er macht einen Witz, und schon reiße ich ihm den Kopf ab. Typisch.

Ach, scheiß drauf! Was interessiert es mich, mit wem der Typ redet?

Er schaut auf, und schon huscht mein Blick zur Seite.

»Karaoke!«, kreischt Jenna und drückt mir das Mikro in die Hand, was mich sofort wieder ins Hier und Jetzt holt. »Meine Clementine fängt an. Was willst du singen?«

Achselzuckend sage ich, das sei mir gleich, sie solle ruhig etwas aussuchen. Als dann »You Know I’m No Good« von Amy Winehouse einsetzt, muss ich grinsen. Wie gut Jenna mich kennt.

Während ich singe, spüre ich seinen Blick auf mir ruhen. Und als der Refrain dran ist, überkommt mich der Mut, und ich schaue in seine Richtung.

»That’s right, Mr Perfect, I’m talking to you. Because I’d never fit in your perfect little world – Genau, du bist gemeint, Mr Perfect, denn ich würde nie in deine perfekte kleine Welt passen.«

Ich weiß nicht, mit welcher Reaktion ich gerechnet habe. Als ich gerade wieder wegsehen will, verzieht sich sein Mund zu einem eher angedeuteten schiefen Lächeln, und ich glaube, dieser kurze Moment der Interaktion macht mich nervöser als ein ganzes Zimmer voller Leute, die mir beim Singen zuhören.

Als ich fertig bin, ist es so still, dass ich die Wanduhr ticken höre. Habe ich mich etwa angehört wie die letzte Heulboje? Aber dann fangen alle begeistert zu jubeln und zu klatschen an.

Verdammt. Vielleicht sollte ich so was wirklich öfter mal machen.