Wenn meine Professorin über Sex spricht, klingt das, als würde sie schnurren. Da sie Französin ist, bin ich gewillt, diese halb animalischen Geräusche ihren europäischen Wurzeln zuzuschreiben.
»Sie müssen tief graben.« Wie immer tigert Professor Marceaux vor den Sitzreihen auf und ab. »Sie müssen ans Herz von Beziehungen vorstoßen, müssen wissen, was sie erblühen lässt, warum sie stolpern, was sie zerstören kann.«
Betrügen. Wer den anderen betrügt, zerstört eine Beziehung. Auch Blowjobs fallen in diese Kategorie. Ich muss blinzeln, denn vor meinem geistigen Auge taucht wieder mal das Bild von Daren auf, das mich seit Jahren verfolgt. Das, wo er das Gesicht verzieht, halb entzückt, halb besorgt, während Veronica …
Professor Marceaux klopft auf das Rednerpult.
»Viele Romance-Geschichten befassen sich mit der ersten Liebe. Lassen Sie sich von Ihren eigenen Erfahrungen inspirieren, egal, wie seltsam, aufregend oder schmerzhaft die gewesen sein mögen. Nehmen Sie sie als Futter für Ihre Manuskripte. Der Leser soll alles über das Erblühen dieser ersten Beziehung erfahren, soll an allen Ungeschicklichkeiten teilhaben, aber auch an der Lust und eventuellen Schamgefühlen. Ihr Amerikaner wollt euch ja immer unbedingt schuldig fühlen, wenn ihr mit jemandem schlaft. Sie sollten auch diesem Aspekt nachgehen, wenn er Teil ihrer Erfahrungen ist. Ich möchte authentische Texte zu lesen bekommen. Da dies ein Schreibkurs für Studenten im letzten Studienjahr ist, darf ich wohl davon ausgehen, dass Sie alle aus persönlichen Erfahrungen schöpfen können.«
Ich soll aus meinen Erfahrungen schöpfen? Dann fickt mich doch gleich ins Knie!
Jenna stößt mich an und lächelt mir ermutigend zu.
»Wird schon gut gehen«, flüstert sie.
Professor Marceaux ist auf ihrem Marsch beim Fenster angekommen und wirft einen Blick hinaus. »Ihre Aufgabe in diesem Semester besteht darin, eine Novelle von dreißigtausend Worten zu schreiben. Nächste Woche möchte ich von jedem von Ihnen fünfzehn Seiten vorliegen haben, angefangen bei der ersten Begegnung Ihrer beiden Liebenden. Zeigen Sie mir, was sie bewegt. Was zieht sie unwiderstehlich zum anderen hin, was stößt sie vielleicht aber auch ab?« Ehe sie sich wieder dem Raum zuwendet, rückt sie ihre Brille auf der Nase zurecht. »Wir werden uns in Gruppen aufteilen, um die jeweiligen Arbeiten zu besprechen. Und ich muss Sie warnen: Ich rieche es, wenn man mir was vormacht. Versuchen Sie nicht, mir einen Groschenroman unterzuschieben. Ich will authentische Beziehungen, meine Damen und Herren!«
Harper und ich treffen uns zum Lunch in der Mensa. Als sie mich sieht, zucken ihre Brauen in die Höhe, und um ihre wachsamen Augen bilden sich Fältchen.
»Du wirkst aufgewühlt.« Als ich nicht gleich antworte, widmet sie sich erst einmal wieder ihrem Sandwich und lässt das Schweigen zwischen uns stehen.
Wir treffen uns immer hier, an diesem Tisch. Seit mich die wilden Panikattacken plagten, weil ich nicht wusste, wie ich die Studiengebühr aufbringen sollte, und weil sich mein Professor als Monster entpuppt hatte, haben wir uns hier in dieser Nische hinter ein paar Grünpflanzen verkrochen, damit Harper mir gut zureden konnte, bis ich wieder klar zu denken imstande war. Dem Himmel sei Dank dafür, dass sie im Hauptfach Psychologie studiert.
Vor Harper hatte ich nur eine einzige beste Freundin. Nachdem die mich auf die schlimmste nur denkbare Art verraten hatte, dauerte es lange, bis ich Harper und Jenna völlig vertrauen konnte. Aber die beiden haben nie aufgehört, es immer wieder mit mir zu versuchen. Ich weiß nicht, was sie in mir sahen, aber ihre Freundschaft hat entscheidend dazu beigetragen, mich aus dem Dunkel zu holen. Inzwischen brauche ich gegen die Angstzustände keine Medikamente mehr.
»Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht«, gestehe ich seufzend ein. »Ich bin heute Abend im Nachhilfezentrum als Tutorin eingetragen, aber eigentlich müsste ich mich um meine Webseite kümmern, damit die auf Stand ist, falls ich je ein zweites Buch verkaufen will. Und immer wieder schreiben mir Leser, dass ›Sag, dass es nicht so ist‹ ein neues Cover braucht, also muss ich wohl wen suchen, der mir eins entwirft. Und ich habe Probleme mit meinem Schreibkurs.«
Harper runzelt nachdenklich die Stirn. »Über das Cover würde ich mit Dani sprechen. Sie arbeitet im Art Lab. Wenn sie sich selbst kein Cover zutraut, kennt sie bestimmt jemanden, der so was kann.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie Künstlerin ist.« Ich reiße den Verschluss von meiner Dose Snaple-Limonade mit Pfirsichgeschmack auf. Wie wenig ich von Dani weiß, obwohl wir inzwischen schon fast zwei Wochen zusammenwohnen! »Ich bin eine beschissen schlechte Mitbewohnerin.«
Harper trinkt lachend einen Schluck Wasser. »Aber du hast Potenzial!« Ich schüttele den Kopf, dabei fühle ich mich schon ein bisschen besser. Sich auszuheulen hat wie immer geholfen. »Und mach dir wegen des Schreibseminars bloß keinen Kopf«, fährt Harper fort. »Das schaffst du. Du hast bereits ein Buch geschrieben, du bist eine gottverdammte YA-Bestsellerautorin, du Freak, du!«
Das mit der Bestsellerautorin kann ich nicht immer glauben, bloß treffen Monat für Monat die Abrechnungen von Amazon ein, die mir diese verrückte Tatsache bestätigen. Ich glaube, mein Buch verkauft sich so gut, weil es ehrlich ist, und nicht, weil ich so besonders originell oder kreativ wäre. Ich habe an der Scheiße in meinem Leben nichts beschönigt, das scheint den Lesern zu gefallen. Natürlich habe ich alles in eine dünne Schicht Fiktion verpackt, im Grunde jedoch entstehen meine besten Arbeiten immer aus meinen eigenen Erfahrungen. Ich muss nichts erfinden, wenn das wahre Leben doch verkorkst genug ist. Besonders mein Leben.
Ehrlich gesagt habe ich eine Heidenangst vor noch einer Buchveröffentlichung. Richtig amtliche Angst, das ganze Programm, mit Albträumen und schlaflosen Nächten, aber ich möchte ein großes Mädchen sein und mit meinem Leben weiterkommen.
In meinem Hinterkopf wohnt ein kleines solidarisches Stimmchen, das mich immer wieder aufmuntert und anfeuert. In Bezug auf das Schreiben und Veröffentlichen von Büchern versichert es mir gern, dass ich das auch ohne Jason Wheelers Hilfe schaffen würde. Hoffentlich ist das nicht reines Wunschdenken. Bis jetzt habe ich nur ein Buch zu Ende geschrieben, und das ganz bestimmt auch deswegen, weil Wheeler mich zu jedem dazu nötigen Schritt ermutigt hat.
Ich glaube, deswegen muss ich mich jetzt auch mit dieser Schreibblockade herumschlagen. Nachdem das mit Wheeler und mir im ersten Studienjahr so böse den Bach runterging, habe ich mich so gut wie möglich gegen die Menschen in meiner Umgebung abgeschottet, was bestimmt auf Dauer nicht gut ist. Aber erst einmal hat es mir geholfen, am Leben zu bleiben. Dass ich fast alle Menschen eine Armlänge auf Abstand hielt, erweist sich jetzt allerdings als Problem. Die vergangenen zwei Collegejahre verliefen für mich einfach zu ruhig. Ich fühlte mich sicher, weil ich isoliert war. Kein Drama, keine Freunde, die einen betrügen könnten, keine durchgeknallten Dozenten, keine Nervenzusammenbrüche.
Nur hat diese Art der Abschottung auch ihren Preis, was mir inzwischen langsam klar wird. Deswegen kommt mir wohl auch die von Professor Marceaux gestellte Aufgabe so schwierig vor. Ich kann über den Herzschmerz von Jugendlichen schreiben, weil ich das selbst erlebt habe, aber ich weiß nichts, rein gar nichts, über Erwachsenenbeziehungen.
»Weiß deine Professorin, wer du bist?« Harpers Frage reißt mich aus meinen Gedanken.
»Nein. Und das soll auch so bleiben. Falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte: Deine Idee mit dem Pseudonym war genial. Sie ahnt nichts. Außerdem bin ich in der ersten Stunde zu spät gekommen, habe also die Vorstellungsrunde mit ›Hat schon mal jemand veröffentlicht und wenn ja, wo?‹ verpasst.«
»Wäre es für dich so schlimm, wenn sie das mit dem Buch wüsste?«
Der bloße Gedanke lässt meinen Blutdruck in die Höhe schnellen.
»Auf jeden Fall! Ich will keine Fleißpunkte für Zeug, das ich vor drei Jahren geschrieben habe. Und ich kann es echt nicht ertragen, wenn Leute mein Buch lesen und denken, dieser ganze Scheiß wäre mir wirklich passiert, das weißt du doch. Je weniger Leute Bescheid wissen, desto besser. Ich sterbe, wenn die Klatschblätter je Wind davon kriegen.« Nervös zerlege ich eine Papierserviette. »Außerdem ist es befreiend, anonym zu schreiben. Ohne den kritischen Blick von Leuten im Nacken, die wissen, wer ich bin.« Zumindest sollte das so sein.
Harper sieht mich an, ihr Blick ist wie immer verständnisvoll. »Erzähl mir, was dir an diesem Kurs solche Bauchschmerzen macht.«
Weil wir umziehen mussten und die Uni wieder angefangen hat und dann noch mein Geburtstag war, hatten wir in letzter Zeit wenig Gelegenheit, uns zu unterhalten. Jetzt lade ich alles ab, was mir auf der Seele liegt: Dass ich nach dem ersten Buch nicht mehr weiß, was ich schreiben soll, mir aber schleunigst eine Story einfallen muss, weil mir sonst wohl das Geld für die nächsten fälligen Studiengebühren fehlen wird. Dass mein nächstes Buch absolut gut werden muss, auch wenn ich es der Einfachheit halber auf der Aufgabenstellung aus meinem Romance-Seminar basieren lassen will. Wobei man da von »der Einfachheit halber« eigentlich nicht reden kann, weil ich keine Ahnung habe, wie man einen echten Liebesroman schreibt. One-Night-Stands kriege ich hin, weil da die Gefühle nicht tief gehen. Aber Liebe? Vertrauen? Sich verletzlich zeigen? Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich das hinkriege.
»Das hat deine Professorin gesagt? Ihr müsst über Sex schreiben?« Harpers Augen sind ganz groß geworden.
»Nein. Aber wenn ich die Beispiele sehe, die wir im Unterricht gelesen haben, scheint sie es zu erwarten. Sie erwartet Intimität.« Das Herz rutscht mir immer tiefer in die Hose, während ich ein verwelktes Salatblatt aus meinem Salat fische. »Komm schon, Harper! Ich weiß absolut nichts über Beziehungen und noch weniger über Sex.«
Allein ein Gespräch über Intimität lässt mich ja fast schon hyperventilieren. Ich trinke einen Schluck Wasser und zähle von hundert an rückwärts, wie es mir mein Seelenklempner beigebracht hat.
Harper lädt ihr Sandwich auf den Teller und legt mir ihre rechte Hand fest auf den Arm. Ich erstarre mitten in einem Atemzug.
»Entspann dich! Ich bring sie um, wenn sie dich durchfallen lässt.«
Sie sagt das mit todernster Miene, und ich muss so lachen, dass mir das Wasser aus der Nase schießt. Meine kleine, feine, beste Freundin macht einen auf Gangster! Ich kann mich kaum wieder einkriegen und höre prompt auf zu zählen.
Donnerstagabend bekomme ich folgende SMS von ihm: Und? Wie ist es? Morgen um halb fünf an der Kletterwand?
Es wäre gelogen, wenn ich jetzt behaupten würde, ich hätte nie ans Klettern mit Gavin gedacht. Nur als Freunde …
Seine Nachricht bringt mich zum Lächeln.
Ich habe meinen Winterschlafmodus so satt. Meine Freunde denken, ich hätte es mir die ganze Zeit verkniffen, als wäre ich auf einer Art Askesetrip, aber in Wahrheit gab es da nichts zu verkneifen, weil ich wie benommen war. Weil meine Eltern sich einen Dreck für mich interessieren, weil die Trennung von Daren so schrecklich war, weil mein Arschloch von einem Dozenten mich überfallen hatte. Ich habe einfach nichts gefühlt. Außer manchmal heftige Wut. Weswegen ich der Benommenheit in meinem Innern nach außen hin auch nur ein einziges Gesicht geben konnte, nämlich das von Clem, der Zicke, der scharfzüngigen Bitch. Ich weiß echt nicht, wie viele Leute mir in dieser Zeit in die Quere gekommen sind und meinen Zorn abbekommen haben. Bei der Arbeit bin ich die jüngste stellvertretende Managerin und zwar nicht nur, weil ich den Campusbuchladen am Laufen halte wie ein Kriegsschiff. Ich bin auch deswegen Chefin, weil die Kids, die für mich arbeiten, sich auf keinen Fall mit mir anlegen wollen.
Wenn ich in den Spiegel schaue, gefällt mir nicht, wer ich geworden bin. Okay, zuerst ging es ums nackte Überleben: Wie schaffe ich es, zum nächsten Seminar zu gehen, pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen, mit Fremden zusammenzuwohnen. Doch jetzt stehen meine Grundmauern sozusagen wieder, und ich laufe trotzdem immer noch mit meinem Schutzpanzer herum, während das eigentliche Leben um mich herum stattfindet. Und obwohl mir die Vorstellung, Gavin näherzukommen, Todesängste einjagt, erinnert sie mich doch auch an Zeiten, in denen ich mal etwas riskiert hatte. Als ich noch sorglos war, das Mädchen, das jeder gern um sich hatte.
Scheiß drauf.
Ich klettere sowieso jeden Freitagmorgen. Dann klettere ich zur Abwechslung eben mal ein bisschen später!
Ehe ich kalte Füße kriegen kann, beantworte ich Gavins SMS positiv.
Normalerweise mag ich den Geruch in der Umkleide des Sportzentrums. Seltsamerweise beruhigt er mich. Heute nicht, heute wird mir davon schlecht. Kurz entschlossen reiße ich meine Sporttasche auf und entnehme ihr ein leuchtend rosafarbenes Tanktop und schwarze Spandex-Shorts.
Echt jetzt?
Ich packe meine Sachen immer im Voraus, um beim Aufbruch morgens nicht in Hektik zu geraten, aber jetzt wünschte ich doch, ich hätte mir bei der Auswahl meiner Klamotten ein bisschen mehr Zeit gelassen. In fünf Minuten soll ich mich mit Gavin treffen, und was ich zum Anziehen habe, ist viel zu eng. Es bleibt ja praktisch nichts der Fantasie überlassen.
Allerdings hat der Mann mich sowieso schon mal halb nackt gesehen. Ich muss lachen. Hier in der Halle laufen viele Mädchen nur mit einem Sport-BH bekleidet herum, mein Outfit ist da wirklich keine große Sache. Außerdem klettert es sich schlecht in Schlabberklamotten.
Als ich aus der Umkleide komme, lehnt Gavin an einer Säule und telefoniert. Er sieht mich und gibt mir lächelnd zu verstehen, dass er gleich fertig ist. Ich deute auf die Kletterwand, und er nickt.
Ich lege mir gerade die Ausrüstung an, als er auch schon auftaucht und mich mit seinem Killergrinsen ganz durcheinanderbringt. Hat er da echt ein Grübchen am Kinn?
»Hi!« Ich versuche, mich ruhig und gelassen zu geben. »Sicherst du mich, oder soll ich einen der Beschäftigten hier fragen?« Meine Hände ruhen auf einem Karabinerhaken. Ich habe das Gefühl, ich sollte Gavin umarmen, aber das wäre doch komisch, oder? Ich kenne den Mann praktisch kaum. Bis auf die Sache mit dem Löffelchen natürlich.
Mist! Der Gedanke hätte jetzt nicht auch noch sein müssen.
Gavin zieht die Augenbrauen hoch, während er wortlos nach dem Seil greift, das mich absichert. Er riecht nach Zitrusfrüchten und Sonne, und mir läuft das Wasser im Munde zusammen.
»Musst du das wirklich fragen, Clementine?«
Bis jetzt hat mich die Art, wie ein Typ meinen Namen sagt, noch nie angetörnt, bei ihm jedoch ist es anders. Ich liebe es einfach, wie er »Clementine« sagt. Verdammt. Auf meinem Gesicht droht sich ein total peinliches Grinsen breitzumachen, weswegen ich schnell den Kopf senke und so tue, als müsste ich meine Ausrüstung überprüfen.
Gavin stupst mich mit dem Ellbogen an, bis ich wieder aufblicke.
»Schön, dich zu sehen.« Seine Stimme ist tief und klingt ein bisschen verkratzt. Sofort frage ich mich, wie er sich wohl am Morgen gleich nach dem Aufwachen anhört.
Ich räuspere mich. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
Und das stimmt. Himmel! Und wie das stimmt. Er trägt eine dünne schwarze Trainingshose, die ihm tief auf den Hüften sitzt, dazu ein eng anliegendes dunkles T-Shirt, bei dem ich mich sofort frage, wie er wohl darunter aussieht. Er sieht mich ebenso prüfend an wie ich ihn, woraufhin mein Magen ein paar Rollen rückwärts hinlegt. Klamotten! Ich müsste einfach mehr anhaben.
Schließlich breche ich das zwischen uns entstandene Schweigen, weil gar keine Unterhaltung mich nur noch nervöser macht. »Okay, dann lass mich mal nicht fallen.«
Lachend fährt er sich mit den Händen durch das dunkle Haar. »Ich hab dich neulich erst nach Hause getragen. Da werde ich schon nicht zulassen, dass dir was passiert, Darlin’.«
Wenn ich vorher vielleicht noch nicht ganz so nervös war, bin ich es jetzt auf jeden Fall. Ihm so nahe zu sein, schickt mein Innenleben auf Karussellfahrt, bis ich mir vorkomme, als würde ich unter Strom stehen.
Eine Dreiviertelstunde später lasse ich mich zum dritten Mal an der Wand hinunter. Ich musste die ganze Zeit über hart darum ringen, immer nur an das Naheliegende zu denken und nicht daran, dass er unter mir steht und vielleicht gerade meinen Hintern betrachtet.
»Der reinste Kletteraffe!«, lobt Gavin mit Blick auf seine Uhr. »Deine letzte Tour war die schnellste.« Er wirkt ehrlich beeindruckt.
»Ich laufe viel, Kondition ist also kein Thema. Danke, dass du mich gesichert hast. Jetzt bin ich dran.«
Als er in seine Ausrüstung steigt, stützt er sich mit einer Hand auf meiner Schulter ab, obwohl direkt vor ihm eine riesige dreistöckige Konstruktion steht, die ihm genauso gut Halt bieten könnte. Ich versteife mich etwas unter seiner Berührung, aber als er aufsieht und mich anlächelt, vergesse ich fast, wie unwohl ich mich fühle. Leider nur fast.
Während er die Wand hochklettert, bohre ich ihm mit meinen Blicken Löcher in den Leib. Wenn er die Hand ausstreckt, um nach dem nächsten Halt zu greifen, spannen sich die Muskeln auf seinem Rücken und an den Armen an und drücken gegen den Stoff seines T-Shirts. Das Shirt rutscht hoch, und wenn er sich dann zur Seite dreht, kann ich seinen glatten, angespannten Bauch sehen, bis hinunter zum Ansatz der Trainingshose. Was für ein Sixpack – heilige Scheiße!
Endlich schaffe ich es, meine Augen von ihm loszueisen, weil es mir schon peinlich wird, und ich versuche, an etwas Konstruktives zu denken. Mathe zum Beispiel. Ich bin grottenschlecht in Mathe, also sollte ich mir auf jeden Fall mehr Gedanken über Mathe machen.
Nachdem ich ihn noch bei zwei weiteren Läufen die Wand hoch gesichert habe, trennen wir uns, um in den jeweiligen Umkleiden kurz zu duschen und uns umzuziehen, ehe wir uns wieder treffen.
»Hast du Hunger?« Als wir hinaus auf die Straße treten, fasst er mich sanft am Ellbogen.
»Bärenhunger.«
»Ich muss die Kleinen im Wohnheim babysitten. Magst du mit mir abhängen, und wir bestellen uns Pizza?«
Es ist Freitagabend, da muss man sich die Warren Towers wie einen Zoo vorstellen, in dem die Erstsemester wie Klammeraffen über Tische und Bänke hopsen.
»Ich habe noch eine Hausarbeit auf dem Zettel, mit der ich unbedingt anfangen muss. Ein paar Seiten für meinen Kurs in kreativem Schreiben. Da mir bisher dazu noch jede zündende Idee fehlt, bin ich wohl keine sehr unterhaltsame Begleitung.«
Er nimmt mir die Sporttasche aus der Hand, um deren Griffe mit denen von seiner zu verbinden, ehe er sich beide über die Schulter wirft.
»Das trifft sich perfekt!«, sagt er vergnügt. »Ich sitze an einem Artikel für die Freep, der morgen fällig ist. Wir können zusammen arbeiten.«
Die Freep ist die Daily Free Press, die Studentenzeitung der Boston University. Ich weiß immer noch nicht, was Gavin nun eigentlich studiert, und mir wird ganz anders, wenn ich an die Klatschblätter denke, die früher öfter mal Artikel über meinen Bruder gebracht haben.
»Studierst du Kommunikationswissenschaften?«, frage ich. Wir sind inzwischen auf dem Weg zurück zur Campusmitte.
Er nickt. »Ich mache einen Doppelabschluss, Englisch und Journalismus. Und du?«
Ich verbringe meine freie Zeit ausgerechnet mit einem Journalisten? Sofort spüre ich einen Knoten im Bauch. Ehe ich dem nachgehen und all die Gründe aufzählen kann, warum das eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist, rufe ich mich streng zur Ordnung. Immerhin ist dieser Journalist mit Ryan und Jenna befreundet, die mich nie zum Umgang mit einem Monster drängen oder mir jemanden vorstellen würden, der meine Privatsphäre gefährden könnte. Meine Freunde geben gut auf mich acht. Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich daran denke. Klar muss ich Ryan von Zeit zu Zeit einen überbraten, doch er würde Gavin k. o. schlagen oder beim entsprechenden Versuch für mich sterben, falls der mir je wehtäte.
An diesem Punkt angekommen fällt mir ein, dass ich Gavins Frage noch nicht beantwortet habe. »Ich studiere Englisch und kreatives Schreiben. Deswegen waren wir wahrscheinlich im ersten Semester zusammen im Proseminar.«
Er lächelt, wobei irgendetwas in diesen sinnlichen grünen Augen mich wünschen lässt, ich könnte den Drang, abzuhauen und mich zu verstecken, einfach ignorieren. »Kreatives Schreiben? Hast du deswegen nach einer Inspiration gesucht?«
»Bitte?«
»Im Warren, an dem Tag, als ihr umgezogen seid. Als du da ganz zusammengekauert im Gemeinschaftsraum gesessen hast, fest entschlossen, mich bloß nicht zu beachten.«
Ich lache. »Hilfe, ja! Tut mir leid. Ich habe versucht, in Schreibstimmung zu kommen. In meine Schreibzone.«
»Die Zone, was?« Als der Bürgersteig enger wird, bleibt er stehen, damit ich vorausgehen kann. »Ryan sagt, du wärst eine großartige Schriftstellerin. Du hättest ein Buch geschrieben und säßest gerade am nächsten.«
Ich bleibe mit einem Ruck stehen. Alle positiven Gefühle, die ich gerade noch für Ryan hegte, legen eine Bruchlandung hin. Der Typ und seine große Klappe!
»Mir ist echt schleierhaft, wie er so was behaupten kann!« Ich sondere ein sarkastisches Lächeln ab. »Ryan hat noch nie etwas von mir gelesen.«
Dann erzähle ich ihm, ohne es eigentlich zu wollen, dass ich meine Hausaufgabe für Professor Marceauxs Kurs gern zu etwas Längerem ausbauen möchte, woraus dann hoffentlich ein zweites Buch wird. Dass es zwingend ein zweites Buch werden muss, damit ich weiterhin meine Rechnungen bezahlen kann, lasse ich dabei unerwähnt.
»Dann hast du also wirklich schon etwas veröffentlicht?«, fragt Gavin beim Weitergehen.
Die Bewunderung in seinen Augen ermutigt mich. Ich nicke.
»Das ist ja echt beeindruckend, Clem.«
Ohne dass ich es verhindern kann, macht sich auf meinem Gesicht ein peinlich berührtes Grinsen breit. »Danke. Zurzeit bin ich allerdings ziemlich blockiert und weiß nicht richtig, warum. Ich habe noch bis Montag Zeit, das rauszufinden, Dienstag ist eine fünfzehn Seiten lange erste Szene fällig.«
Gavin sieht mich an, als wolle er noch etwas fragen, doch so weit lasse ich es gar nicht erst kommen. Er darf sich auf keinen Fall nach Titel oder gar Inhalt meines Buches erkundigen. Dem Himmel sei Dank für die Erfindung der Pseudonyme.
»Was ich dich die ganze Zeit schon fragen wollte, Gavin …« Ich kriege die Frage nicht ganz raus, und er hebt verwundert die rechte Augenbraue. »In den Warren Towers, an dem Tag, als ich da im Gemeinschaftsraum saß, warum hast du da nicht einfach gesagt, dass du mich aus einem Seminar kennst?«
Er mustert seine Füße und zuckt mit den Achseln. »Ich wollte sehen, ob du mir deinen Namen verrätst.«
»Okay«, sage ich ganz langsam. »Konntest du dich denn noch an ihn erinnern?«
»Natürlich.«
»Aber du hast mich trotzdem gefragt?«
»Ja.«
Ich warte, ob da noch mehr kommt. Als das nicht der Fall ist, stupse ich ihn an, woraufhin er sich mit einem schiefen Grinsen zu mir umdreht. »Ich glaube, ich suchte die Herausforderung«, sagt er. »Wird mir Clementine Avery ihren Namen verraten?«
»Das ist doch albern!« Ich halte mir lachend die Hand vor den Mund.
»Klar ist das albern, aber du hast es getan. Und jetzt? Was hat uns das alles zu sagen?« Gavin sieht mich an, in seinen Augen blitzt der Schalk.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Dass du mich genervt hast, bis ich einfach nachgeben musste.«
Er wirft laut lachend den Kopf zurück. »Verdammt! Ich hatte so gehofft, mein umwerfender Charme hätte dich umgehauen.«
»Das kam wohl erschwerend hinzu.« Ich grinse, woraufhin er mich mit dem Ellbogen anstößt.
Wir nähern uns seinem Wohnheim, wo es am Eingang von Erstsemestern nur so wimmelt.
»Komm!«, sagt er, als würde er mir notfalls keine Wahl lassen. »Lass uns mal sehen, ob wir nicht irgendwo eine Inspiration für dich auftreiben, und vielleicht gruppenzwingst du mich ein bisschen, damit ich meinen Artikel fertigkriege.«
»Hast du gerade Gruppenzwang als Verb benutzt?«
»Gott, bist du scharf, wenn du einem mit Grammatik kommst!«
Ich lache, weil er so albern ist und so zum Anbeißen. Er legt mir lächelnd den Arm um die Schulter und zieht mich Richtung Wohnheim.