Klick.
Da ist Kathy auf einer schmutzigen Ledercouch, aus der die Polsterung herausquillt. Sie lehnt sich zurück, die Arme ausgestreckt, wie um der Welt zuzuwinken, und macht das Sofa zu ihrem Thron. Das ist sie, fünf Jahre jünger, mit guter Haut, glänzendem Haar und einem Rock, der so kurz ist, dass man einen schnellen Blick auf ihren roten Schlüpfer werfen kann. Da ist sie mit einer Zigarette in der einen Hand und einem Glas irgendwas, Hennessy vielleicht, in der anderen. Da ist sie, mit wilden Katzenaugen und einem Schlangenmund. Da ist sie, eingefangen und perfekt konserviert in fünf Megapixeln.
Es war Kathy, die Julianna damals nach Downtown mitgenommen hat, die ihr die Bars und die verbotenen Clubs gezeigt hat, die abseits des Olympic Boulevard liegen. Es war Kathy, die sie mit dem Mann bekannt machte, der sagte, Julianna sei hübsch genug, um als Model zu arbeiten, und versprach, sie zur Cindy Crawford von South L.A. zu machen. (Er wusste nicht – und Julianna verriet es ihm nicht –, dass sie lieber hinter der Kamera stehen wollte.) Es war Kathy, die Julianna zu ihrem ersten Job verhalf, als Kellnerin in Sam’s Hofbräu, das, wie sich herausstellte, gar keine Bierhalle war, sondern ein Stripclub. Es war Kathy, die Julianna ermutigte, es mit dem Tanz zu versuchen, die sie ermutigte, auf die Bühne zu steigen. Es war Kathy, die Julianna in Jujubee verwandelte.
Jujubee ist ein guter Name, wenn man high ist. Einer, den man schnell aussprechen kann. Einer, den man gut quer durch den ganzen Club rufen kann. Einer, den man sich im Kopf herumsummen lassen kann. Einer, den man dem Kerl nennen kann, der mehr als einen Lapdance will. Es ist ein Name, der es ihr erlaubt, sich selbst zu entkommen – der es ihr erlaubt, Dinge zu tun, die Julianna niemals tun würde.
Ein paar Jahre, nachdem Julianna angefangen hatte, im Sam’s zu tanzen, entschied sich Kathy für einen raueren Karriereweg und versuchte ihr Glück auf der Straße statt in den Bars. Sie sagte, sie bräuchte mehr Geld, wegen ihrer Sucht, wegen ihrer Kinder, wegen ihres Bruders, der irgendwo im Knast war, wegen dessen Kindern. Und so trennten sich ihre und Juliannas Wege.
Vierundzwanzig Stunden sind inzwischen vergangen, seit sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer entlang der Western verbreitet hat: Kathy ist tot auf einer Brachfläche an der 27th Street aufgefunden worden. Julianna hatte sich gerade für ihre Schicht im Fast Rabbit fertig gemacht, als sie einen Anruf von Coco bekam, die es von Reyna gehört hatte, die es von Marisol hatte, die es von Sandra hatte, deren Mutter bei Moon Pie Pizza nur einen Block von der 27th Street entfernt arbeitete, also musste es wahr sein. Jemand hatte Kathy die Kehle durchgeschnitten, sie erstickt und dann die Leiche weggeworfen. Die Nachricht war wie ein Schlag in die Magengrube. Jetzt, einen Tag danach, hat sie die Wohnung noch immer nicht verlassen.
Sie hat nicht geschlafen, und jetzt wird es wieder Abend.
Es begann als improvisierte Totenwache für Kathy – mit Coco und den anderen Mädels, die in der Nacht, in der Julianna sich in der Polizeistation Southwest wiedergefunden hatte, zu der an der 77th Street gebracht worden waren. (Und wie zum Teufel Dorian es geschafft hatte, genau in dem Moment dort aufzutauchen, stellt Julianna vor ein unlösbares Rätsel. Die Frau hat einfach ein Talent für so etwas.) Die Mädels fielen in der Wohnung ein, in der einige von ihnen hin und wieder übernachteten. Und weil Julianna als Einzige nicht hinter Gittern gelandet war, sagten sie ihr, dass die nächste Runde llelo auf sie gehen würde. Und ehe sie sich’s versahen, war Rackelle mit dem Stoff da. Mit einem Mal war es zwei Uhr nachts, dann vier. Die meisten Mädchen gingen nach Hause oder ins Bett. Nur Julianna blieb wach.
Die Sonne ist vor einer Ewigkeit aufgegangen, und jetzt ist sie schon fast wieder verschwunden. Ein kompletter Tag hat sich im Fernsehen abgespielt. Der Wind hat ein Feuer am Mulholland Drive entfacht, das jetzt die Hügel am Cahuenga Pass herunterprasselt. Auf der Interstate 405 mussten die Leute auf dem Weg zur Arbeit durch einen Tunnel aus Feuer fahren. Der Himmel war schwarz vom Rauch, die Hügel glühten rot. Die Bilder im Fernseher sahen aus wie Aufnahmen vom Mars, wie eine außerirdische Invasion. Julianna kam sich vor wie auf einem heftigen Trip.
Gegen Mittag kam Coco aus ihrem Zimmer – ihr blondiertes Haar stand wild um ihr herzförmiges Gesicht und ließ sie aussehen wie eine Löwenmutter. Als sie Julianna auf dem Sofa sitzen und das letzte Tütchen aufreißen sah, gab sie ein Ts-ts von sich, genau wie eine der Lehrerinnen an der katholischen Schule, die Julianna nicht besonders hatte leiden können. »Chica, du machst dir zu viele Gedanken. Wann hast du denn überhaupt das letzte Mal mit Kathy gesprochen?«
Es war mindestens ein Jahr her. Vielleicht länger. Aber das sagte sie Coco nicht. Und sie erzählte ihr auch nicht, was der wahre Grund dafür war, warum sie nicht von ihrem Trip runterkommen wollte.
Sie hatte Kathys mit Abfall bedeckte, verrenkte, aufgedunsene und blau angelaufene Leiche vielleicht nicht mit eigenen Augen gesehen, aber sie konnte das Bild trotzdem nicht abschütteln, egal, wie lange sie auf diesen Feuertunnel auf der Interstate starrte. Aber statt Coco zu verraten, was sie beschäftigte, fragte sie bloß, wie viel Bargeld sie hatte, weil sie Rackelle Bescheid geben wollte, dass sie noch mehr Stoff vorbeibringen sollte, damit sie die Nacht durchstehen konnte.
Coco holte ein paar schmuddelige Zwanziger hervor und sagte, Julianna solle Rackelle ausrichten, auch noch etwas Ecstasy dazuzupacken, denn wenn sie heute im Hinterzimmer des Fast Rabbit arbeiten sollte, dann nur, wenn sie so high war, dass es ihr so gut wie egal war, wer seine Hände wo hatte und was ihr Mund und der Rest von ihr die ganze Nacht über taten.
Es ist jetzt früher Abend und ein paar Stunden her, seit Rackelle geliefert hat, und Julianna will nichts lieber, als aufzustehen, alles von sich abzuwaschen und irgendwo anders hinzugehen. Aber sie kann sich noch immer nicht rühren, wird immer noch von dem Gedanken an Kathys Tod auf dem Sofa festgehalten.
Sie reißt ihre Handtasche auf und holt erneut ihr Handy heraus – das allerneueste Modell, das sie sich gegönnt hat, obwohl es teurer ist als alles, was sich die Mädchen sonst so gönnen. Jedes Mal, wenn ein neues Telefon rauskommt, treibt Julianna irgendwie das Geld dafür auf. Es ist die Kamera, die sie unbedingt haben muss – mehr Pixel, mehr Sättigung, ein perfekteres Auge, um auf ihre alles andere als perfekte Welt zu schauen.
Sie scrollt durch ihre Bildergalerie, und ihr langer, pinker Nagel tippt dabei gegen das Display.
Wie viele Selfies willst du denn noch machen?, ziehen die anderen Mädchen sie auf. Du glaubst wohl, du wirst ein Instagram-Star? Meinst du, jemand will unbedingt deinen billigen Maybelline-Eyeliner kaufen? Julianna reagiert nicht darauf, stellt die Sache nicht richtig. Vor einiger Zeit ist ihr klar geworden, wie man die Mädchen und alle anderen täuscht: Sie tut, als ob sie sich selbst fotografiert, aber in Wirklichkeit zeigt die Linse nach vorne. Sie benutzt die Kamera so, wie sie vor allem gedacht ist – nach außen blickend, nicht nach innen.
Am Anfang war das Handy einfach ein dünnes Rechteck, hinter dem sie sich verstecken konnte. Aber irgendwann fing sie an, sich die Fotos, die sie gemacht hatte, genau anzuschauen. Jeden Abend untersuchte sie das Wer, Was, Wo und Warum des vergangenen Tages. Sie benutzte die Bilder, um hinter die Fassaden zu sehen, die die Mädchen einander zeigten – die grobe Sprache, die Make-up-Schichten.
Sie scrollt die Jahre zurück. Spult die Zeit zurück. Löscht Falten, Fältchen und ein Jahrzehnt langer Nächte. Entfernt all die Männer, die ihre Spuren hinterlassen haben. Und findet noch ein Foto.
»Fucking Kathy!«
Da ist sie wieder, diesmal auf einem der bunten Plastikstühle bei Taco Chabelita, dem 24-Stunden-Restaurant an der Western nördlich der Interstate. Sie trägt ein schwarzes, bauchfreies Top mit drei silbernen Knöpfen. Ihre Haare sind zu einem blondierten Bob frisiert und wirken ein wenig strapaziert. Sie hat den Kopf zurückgeworfen, sodass ihr Mund hervorsticht. Die Nase und die Augenpartie sind etwas unscharf. Ein Rauchwölkchen steigt zwischen ihren Lippen empor und hängt wie ein Geist über ihrem Gesicht. Direkt hinter ihrer linken Schulter ist ein Mann zu sehen. Kathys Lachen hat ihn von seinem Essen aufblicken lassen.
Julianna wischt wieder über das Display. Hier ist noch eines. Das Foto zeigt Kathy größtenteils von der Kamera abgewandt, sodass nur der rechte Rand ihres Gesichts sichtbar ist. Sie flirtet mit dem Mann oder putzt ihn runter, Julianna erinnert sich nicht. Sie kann sich überhaupt kaum an den Abend erinnern, daran, was sie ins Chabelita geführt hatte oder was danach war.
»Fucking Kathy«, sagt sie noch einmal.
Coco blickt auf, und Julianna sieht, dass sie gerade damit beschäftigt war, einen Beutel Ecstasy zu einem feinen Puder zu verarbeiten, das sie für später in Zigarettenpapier einschlägt. »Kathy kam aus Texas. Ich war mal bei ihrer Schwiegermutter, irgendwo in Inglewood, und da müssen fünf Generationen zusammengehockt und Barbecue gegessen haben.« Sie schüttelt die kleinen Papierpäckchen in ihrer Handfläche, ehe sie sie in eine Dose legt, die einst Mintpastillen enthalten hat. »Du arbeitest heute schon, oder?«, fragt Coco und verstaut die Dose in dem Geheimfach ihrer Handtasche, wo sie Drogen und extra Bargeld verwahrt. »Weil wenn du noch mal eine Schicht verpasst, schmeißen sie dich raus.«
Es wäre das zweite Mal in dieser Woche, dass Julianna nicht bei der Arbeit erscheint. Das erste Mal war in der Nacht, nachdem sie Dorian in Jack’s Family Kitchen sitzengelassen hat, um sich von dem erstbesten Typen mitnehmen zu lassen. Zuerst hat sie so getan, als ob sie im Dienst wäre, aber dann hat sie ihm klargemacht, dass sie nur ein bisschen rumfahren wollte, so lange, bis sie der Erinnerung an Lecia entkommen konnte, die immer dann wach wurde, wenn sie Dorian begegnete. Wenn es nötig gewesen wäre, ihm dafür eine Gegenleistung zu geben, hätte sie es getan. Aber sie hatte Glück. Sie übernachtete in seiner Wohnung in Vermont Harbor und verschlief ihre gesamte Schicht.
Erst Dorian, jetzt Kathy. Als ob die Welt sich verschworen hätte, Julianna wieder zu dem Tag zurückzuzerren, an dem die Cops aufkreuzten, um ihr Fragen über ihre Babysitterin zu stellen – was sie anhatte, wann sie das Haus verlassen hatte, mit wem sie rumhing, wohin Julianna glaubte, dass sie gegangen sei. Sie hat mich ins Bett gebracht, erzählte Julianna ihnen. Wie immer. Sie hatte sie ins Bett gebracht und ihr zuvor erlaubt, den Hip-Hop-Sender zu hören, den ihre Eltern nicht leiden konnten; außerdem hatte sie Julianna auf Cinemax einen Film ab sechzehn schauen lassen. Beim Zubettgehen warf sie ihr von der Tür aus eine Kusshand zu – Schlaf gut, Prinzessin. »Und was dann?«, wollten die Cops wissen. Das war genau der Moment, in dem einer der beiden ihr nachlässigerweise das Foto zeigte, bevor sein Partner ihn daran hindern konnte. So sah Julianna Lecias tote Augen hinter der Plastiktüte, die stramm über ihr Gesicht gezogen war. Das Gesicht war angeschwollen, als ob sie lange unter Wasser gewesen wäre, mit fahlen, aufgerissenen Lippen und einem Kragen aus Blut über ihrer Kehle.
Coco zieht im Spiegel Gesichter, um herauszufinden, wie sie heute aussehen möchte.
»Vielleicht hör ich auf und serviere wieder nur Drinks«, überlegt Julianna.
Coco zieht eine Augenbraue hoch. »Ja, klar.«
Beiden ist klar, dass Julianna Unsinn redet. Der Mindestlohn plus das magere Trinkgeld der Typen, die ihr Geld lieber für die eigentlichen Attraktionen des Fast Rabbit aufsparen wollen, ist einfach nichts im Vergleich zu dem, was man im Hinterzimmer der Bar verdienen kann. Mit Lapdance und einigem mehr.
»Ich hab’s nicht nötig«, behauptet Julianna.
»Das Geld? Wie kommt’s?«
»Ich könnte irgendwo hingehen, wo ich keine Miete zahlen muss.«
Coco spitzt ungläubig die Lippen, schüttelt den Kopf und beugt sich dann zu dem verschmierten Spiegel auf dem Schminktisch, um mit ihrem Make-up zu beginnen.
»Was?«, fragt Julianna. Es gäbe durchaus Möglichkeiten. Sie könnte wieder zu Derrick oder Dom gehen und für eine Weile bei ihnen wohnen. Aber das würde auch nur so lange gut gehen, bis einer der beiden der Meinung wäre, dass sie sich ihren Unterhalt verdienen muss, und sie weiß, wie es dann weiterginge: ein paar »Dates«, auf die unausweichlich die Rückkehr zum Fast Rabbit oder einem ähnlichen Etablissement folgen würde.
Natürlich könnte sie auch nach Hause gehen. Sie ist nicht in derselben Situation wie einige der Mädchen, die alle Brücken hinter sich abgebrochen haben, die rausgeworfen wurden oder überhaupt keine Familie haben. Julianna hat ein Zuhause, gar nicht weit von hier. Dort warten ein Schlafzimmer und ein Platz am Esstisch auf sie, wenn sie will.
Sie stippt den langen Nagel ihres kleinen Fingers in das Tütchen, holt einen Halbmond aus weißem Pulver heraus und zieht es die Nase hoch – die Bewegung ist so rasch und routiniert, dass es beinahe so ist, als hätte sie gar nicht stattgefunden. Die Wirkung der Droge ist wie ein stumpfer, unbefriedigender Schlag. So fühlt es sich auch nach einer langen, durchgefeierten Nacht an, wenn ihr Körper schon so am Ende ist, dass das llelo ihr nur noch deutlicher zeigt, wie abgefuckt sie eigentlich ist, wie sehr sie sich nach Schlaf sehnt. Sie inhaliert kräftig, um die Wirkung zu verstärken, damit sie nicht gleich noch eine Dosis braucht.
Sie trommelt mit den Nägeln auf ihre Oberschenkel und wippt mit den Zehen. Nach Hause. Nach Hause. Nach Hause.
»Nach Hause«, sagt sie.
»Was meinst du?«, fragt Coco.
»Nada«, sagt Julianna. »Nichts. Nichts.« Das Trommeln ihrer Nägel wird stärker. Ihre Füße wippen schneller.
»Jujubee?«, sagt Coco. »Hör mit dem Rumgezucke auf. Außer du willst, dass ich dich vorher umbringe.«
Julianna öffnet das Tütchen und stippt ihren kleinen Finger hinein. Ein weiteres schnelles Hochziehen, dann steckt sie es hinter ihren Bh. Warum zur Hölle sollte sie nicht nach Hause gehen? Sie hat diesen Mist doch nicht nötig – sie muss nicht noch higher werden, muss sich nicht anziehen, nur um in der Arbeit wieder ausgezogen zu werden, muss sich nicht vormachen, dass sie das alles, diesen ganzen Scheiß, nur so lange macht, bis sie etwas Besseres findet.
»Wenn du so weitermachst, kippst du um, bevor du mit der Arbeit anfängst.« Coco sieht auf ihrem Handy nach der Uhrzeit. »Du hast acht, neun Stunden bis zum Feierabend.«
Julianna biegt ihre Nägel in Richtung ihrer Handflächen, um sich davon abzuhalten, weiter zu klopfen. »Vielleicht. Ist doch alles scheißegal«, sagt sie.
Coco übermalt ihre gezupften Augenbrauen mit zwei Bögen, wie in einem Cartoon. »Was ist scheißegal? Geht’s schon wieder um die verdammte Kathy?«
Julianna hebt ihr Handy hoch, verdeckt ihr Gesicht damit.
Klick. Sie fängt Coco in dem Moment ein, in dem sie sich näher zum Spiegel beugt, den Kopf zur Seite gelegt, während sie ihr Werk bewundert und einen Blick aufsetzt, der davor warnt, ihr blöd zu kommen. Coco fährt beim Geräusch der Kamera herum und schaut Julianna finster an.
Julianna hat ihr Handy bereits weggelegt.
Ihre Handtasche steht offen auf dem Sofa, quillt über von feuchten Tüchern, Cremes und Substanzen, Dingen, die sie besser aussehen lassen oder weniger müde, Dingen, mit denen sie sich besser fühlt oder schlechter, je nachdem. Darunter ist auch ein Stück Papier, ausgerissen aus dem Exemplar des Los Angeles Magazine, das Julianna letzte Woche im Wartezimmer von Planned Parenthood gelesen hat. Sie holt das Papier heraus, faltet es auf.
»Hast du mal von einem Typen namens Larry Sultan gehört?«
Coco blickt auf, als ob sie ernsthaft darüber nachdenken würde. »Der Kerl mit dem hässlichen lila Auto, der immer beim Easy Time rumhängt?«
»Nein«, antwortet Julianna.
»Der Wichser sieht aus wie der Sultan von irgend so einem Scheißland.«
Julianna betrachtet das Papier in ihrer Hand. Es ist die Fotografie einer Fotografie – sie zeigt eine Frau, bei der es sich offensichtlich um eine Pornodarstellerin handelt, am Set zwischen zwei Szenen. Sie trägt ein billiges Satinkleid und weiße Plateauschuhe, die sogar für Julianna und ihre Mädels zu hoch wären, und entfernt sich gerade von einem Swimmingpool. Hinter ihr sind vier grobschlächtig aussehende Boxer; unter der Haut der Hunde sind Rippen und Knoten sichtbar, und alle ducken sie sich wie im Gebet. Boxer, Mission Hills, Larry Sultan.
Sie hält Coco das Blatt hin. »Was hältst du von diesem Bild?«
Coco wendet sich vom Spiegel ab und schielt zu ihr herüber. »Ich würde sagen, die Bitch bereitet sich auf einen Gangbang vor.«
Bitch. Gangbang. Es ist so einfach, jemanden zu erniedrigen.
»Aber was hältst du von dem Foto?«
»Was weiß ich?«, sagt Coco. »Ist ja wohl nicht gerade Kunst.«
Julianna faltet das Papier wieder zusammen. Sie fragt nicht: Warum hängt es dann wohl in einem verdammten Museum? Sondern: »Ich werd heute auf keinen Fall irgendwelche zweitklassigen Footballspieler ficken, ganz egal, was die zahlen.«
Coco fingert in ihrer Tasche nach der Dose. »Ein Teelöffelchen Zucker gefällig?«
Julianna winkt ab.
»Du hast also nicht vor, nächsten Monat Miete zu zahlen?«
»Was geht es dich an, was ich vorhabe?«
Coco deutet mit dem Augenbrauenstift auf Juliannas Bh-Träger. »Der Scheiß macht dich noch kaputt.«
Julianna tippt auf das Tütchen, das unter ihrem Bh versteckt ist, und fühlt, wie es an ihrer verschwitzten Haut klebt. »An dem Scheiß liegt’s nicht.«
»An was dann?« Coco beugt sich wieder nah an den Spiegel heran, noch immer damit beschäftigt, sich ein zweites Gesicht zu malen.
Wie ›an was dann‹?, will Julianna fragen. Macht uns das nicht alle kaputt? Das, was wir tun, was wir sehen? Wir feiern und feiern und tun dabei so, als wäre das nicht von Bedeutung. Tun so, als ob es keinen Unterschied gibt zwischen uns und diesen Chicas von der Uni, die letztens bei dieser Party in South Central aufgetaucht sind, als ob sie ein Recht hätten, überall reinzuschneien und zu machen, was sie wollen.
»Was meinst du, wer hat Kathy umgebracht?«
»Kathy war eine totale Straßennutte. Du und ich, wir haben Standards«, sagt Coco.
Straßennutte. Bordsteinschwalbe. Crackhure. Bezeichnungen. Rangfolgen. Abgrenzungen. Alles, was dazu beiträgt, dass man sich ein bisschen besser fühlt, eine Stufe höher als die anderen.
Wenn man sie fragt, antworten Jujubee und Coco, dass sie Tänzerinnen sind – exotische Tänzerinnen, Go-go-Tänzerinnen, Tänzerinnen, die ihre Hand in seine Hose gleiten lassen, damit er sich besser fühlt. Das sind sie – und keine Mädchen, die an dunklen Straßenecken stehen, keine, die für alles zu haben sind. Für sie gibt es Grenzen. Das ist es jedenfalls, was sie sich immer wieder gegenseitig versichern.
Coco geht zum Sofa hinüber und nimmt Juliannas Hand. »Los, geh duschen. Danach mach ich dein Gesicht. Ich mach eine superhübsche Jujubee aus dir.«
Julianna lässt sich auf die Füße ziehen, zum Bad führen und in die Dusche schieben. Sie stellt das Wasser an, lässt aber die Tür offen und wartet, dass es warm wird. Coco steht wieder vorm Spiegel. Sie hat Musik angemacht, schwingt ihre breiten Hüften und streckt ihren runden Hintern heraus, während sie letzte Hand an ihr Make-up legt. Sie macht ihre Lippen fertig, malt einen clownesken Bogen, der die Größe ihrer Lippen beinahe verdoppelt. Sie legt den Kopf zur Seite und setzt einmal mehr ihren sexy Gangsterbraut-Schmollmund auf, prüft die Stärke ihres Panzers. Dann erschlafft ihr Gesicht, Augenbrauen und Mundwinkel fallen herunter, ihre Wangen hängen herab. Die Erschöpfung und der Ärger und der Frust brechen durch. Sie schließt die Augen, steht einen Moment lang so da – eine kurze Rast, verborgen vor der Welt. Julianna zückt ihre Kamera.
Klick.